20. Verborgene Blutlinie

Meine süße Ariella,
ich weiß, du wirst diesen Brief niemals bekommen, aber ich möchte ihn dir dennoch widmen. Seit nun etwas mehr als drei Jahren lebe ich getrennt von dir. Eine schrecklich lange Zeit, die mir in der Seele wehtut. Ich kann nur hoffen, dass sich jemand Gutmütiges um dich kümmert.
Vor einem Jahr habe ich eine Entdeckung gemacht, die ich niemals erwartet hätte. Damals lebte ich auf einem kleinen Hof am Land, eine Dienstmagd nicht mehr.
Um nicht erkannt zu werden, habe ich meine Haare stets bedeckt gehalten und meiner rechten Wange, Kiefer und Schläfe brandnarben zugefügt. Schmerzhaft, aber effektiv. Niemand erkannte mich, niemand beachtete mich.
Ich ging regelmäßig auf Revolutionsversammlungen. Sie werden nicht öffentlich angekündigt, doch wenn du weißt wo du fragen musst, bekommst du meistens die richtige Antwort. Du siehst, Ariella, ich habe nicht aufgehört zu kämpfen. Während einer dieser Versammlungen sah ich ein Mädchen. Etwa dreizehn Jahre alt. Sie sah genauso aus wie Mutter, ich konnte es zunächst nicht glauben, aber es war eindeutig. Ich wartete mehrere Tage bis ich das Mädchen, das auf einem Nachbarhof lebte, ansprach. Ihr Name ist Isla und sie ist meine jüngste Schwester.
Nur widerwillig gab sie mir diese Auskunft, aus Angst was ich mit dieser Information tun würde. Ich dachte meine jüngste Schwester wäre mit Mutter bei der Geburt gestorben, doch hier stand sie. Glücklich und gesund. Ich konnte es kaum glauben. Seit diesem Tag sind wir gute Freunde und ich hatte endlich wieder eine Schwester um die ich mich kümmern konnte.
Ach mein Schatz, ich wünschte du könntest deine Liebe, wundervolle Tante kennenlernen. Ich wünschte, du könntest mich kennenlernen.
Aber ich gebe nicht auf, es muss einen Weg geben, wieder zusammen zu sein.
In Liebe Nelenia Henotello, deine Mutter.

Brandon wurde unsanft geweckt. Jemand schaltete das Licht ein und stieß hart gegen sein schmales Bett. Desorientiert blinzelte er gegen das grelle Licht und stöhnte.

"Was?"

"Aufgewacht, Junge. Es wird Zeit für dein Willkommensmeeting." Fred stand über ihm. Sein freundliches Lächeln beruhigte Brandon trotz seiner Nacht im Gefängnis. Ungelenk setzte er sich auf, streckte sich und sah sich in seiner Zelle um. Alles war noch so wie letzte Nacht, bis auf Fred, der in sauberen Jeans und einem an den Armen hochgerolltem Flanellhemd vor ihm stand.
In seinen Händen ein Becher mit einer brühende Flüssigkeit darin.

"Hier, Tee. Das sollte dich zumindest ein bisschen wach kriegen."

"Ich bin wach.", meinte Brandon eingeschnappt, nahm dennoch die Tasse entgegen und stand auf. Sein Körper fühlte sich steif an, allerdings hatte er seit Wochen nicht mehr so gut geschlafen. Die Träume von seiner Familie waren zur Abwechslung einmal schön gewesen. Brandon konnte sich denken warum dies der Fall war, immerhin hatte er nun tatsächlich die Chance etwas zu unternehmen, endlich aktiv zu werden.
Der Gedanke daran ließ Adrenalin durch seine Venen rauschen und seinen Geist hellwach werden. Vorsichtig nahm er einen Schluck aus dem Becher und taxierte währenddessen Freds Arme. Ohne dem Mantel waren die Tätowierungen auf Freds Armen deutlich erkennbar. Es waren geschnörkelte Linien, Zahlen und Kreise. Geometrie und Kunst vermischt.
In Bärensteins Regime waren Tätowierungen genauso wie Haarfärbung verboten. Für diese Körperkunst würde Fred, sollte er je gefasst werden, sofort in einem Arbeitslager verschwinden. Natürlich nur wenn niemand von seiner Verbindung zu OneSheep erfuhr. Der Gedanke an die unzähligen Arbeits-und Folterlager schuf Traurigkeit in Brandons Herz. Seine Mutter war ebenfalls in einem dieser Lager, vorausgesetzt sie lebte noch.

"Komm, Junge, ich bring dich zu ihr," Fred ging mit festen Schritten aus der Zelle und Brandon folgte neugierig, ließ seinen Mantel, den Tee wie auch den Seesack in seinem Nachtquartier zurück. Er ging davon aus, das niemand etwas aus einer Gefängniszelle steheln würde. Vor seiner Zelle warteten schon Crow und Flower. Beide sahen ihn unbewegt an. Crow schien seine Kleidung seit gestern Abend nicht gewechselt zu haben, auch die dunklen Augenringe bekräftigen diese Vermutung. Flower band ihr dichtes, dunkles Haar zu einem lockeren Pferdeschwanz und sah ihn aufmerksam an.

Es war das erste Mal, das Brandon ihr Gesicht bei guten Lichtverhältnissen sah und was er sah, verblüffte ihn. In ihrem herzförmigen Antlitz sah er volle Lippen, eine gerade Nase und ein trotziges Kinn. Die dunklen, ungemein zornigen Augen waren mit schwarzen Kajal nachgezogen. Es waren diese Augen, die ihn für einen Moment stolpern ließen, denn selbst der zornige Blick, konnte ihre Schönheit nicht verbergen. Hastig konzentrierte er seine Aufmerksamkeit wieder auf Fred, versuchte verzweifelt sich die roten Wangen nicht anmerken zu lassen.

"Es ist nicht weit.", meinte Fred, ignorierte Brandons stolpern gutmütig und führte ihn die grauen Flure entlang. Crow und Flower gingen kampfbereit hinter ihnen. Hier und da konnte Brandon Kinderzeichnungen an den sonst makellosen Wänden erkennen. Eine violette Blume, eine gelbe Sonne und ein rotes Herz.

"Die sind wunderschön.", bemerkte er geistesabwesend.

"Da hast du recht.", stimmte ihm Flower mit sanfter Stimme zu. Brandon riskierte einen Blick nach hinten und wäre bei ihrem schiefen Lächeln fast wieder gestolpert. Wütend über sich selbst, versuchte er sein rasendes Herz unter Kontrolle zu bringen. Er hatte in seinem Leben schon mit vielen Mädchen gesprochen und auch geflirtet, doch aus irgendeinem Grund, ließ Flower ihn die Welt vergessen.

"Zu wem bringst du mich?", fragte Brandon nervös um sich abzulenken.

"Zu einer Freundin von mir. Sie kann uns sagen, ob wir dich in unserem kleinen Verein aufnehmen können oder nicht. Falls nicht muss ich dich leider von deinem baldigen Ableben in Kenntnis setzen. Du verstehst schon." Brandon sah Fred mit großen, ängstlichen Augen an.
Er würde doch nicht wirklich jemand so junges wie ihn töten, fragte sich Brandon nicht zum ersten Mal. Andererseits hatte Fred die Verantwortung für viele Menschen, deren Sicherheit und Überleben hingen von seinem Urteil ab. Brandon begriff langsam, dass ein Anführer manchmal schwere Entscheidungen zum Wohl seiner Leute treffen musste.

"Hier entlang.", Fred zeigte in einen weiteren Bunkerähnlichen Raum der außer einer schwachen Deckenbeleuchtung, einem Eisentisch und zwei Eisenstühlen nur noch eine Belüftungsanlage aufwies. Ansonsten herrschte hier drin vollkommene, schrecklich reizlose Leere. Brandon begann sich nach den Farben und Eindrücken der Welt zu sehnen. Harsch drückte Fred Brandon auf den Sessel, der dem Eingang am nächsten war. Mit dem Rücken zur Tür nahm er Platz und starrte auf den Tisch.

"Ich werde deine Hände fesseln müssen.", sagte Fred und hielt eine Plastikfessel in die Höhe.

"Ist das wirklich notwendig?", erwiderte Brandon skeptisch. Die Augenbrauen zusammengezogen besah er sich widerwillig die Fessel.
Fred lächelte entschuldigend und nickte.

"Tut mir leid, aber du könntest immer noch ein wahnsinniger sein. Ich muss für ihre Sicherheit sorgen." Natürlich musste er das, dachte Brandon und hielt Fred seine Hände entgegen. Mit geübten Fingern zog Fred die Fesseln fest und nickte Crow zu.

"Bring sie her und bezieh dann mit Flower vor der Tür wache. Ich rufe wenn ich dich brauche." Crows misstrauischer Blick glitt von Brandon zu seinem Anführer.

"Bist du sicher, Boss?", hörte Brandon Crows rau Stimme.

Die Neugierde auf Freds geheimnisvolle Helferin war unerträglich, allerdings machte er sich sorgen um die Lügen, die er Fred erzählt hatte. Selbst an diesem Morgen, konnte er seine Entscheidung seine Identität geheim zu halten nicht bereuen. Es war zu gefährlich, aber würde diese Helferin ihm seine Geheimnisse entreißen können?

"Keine Sorge, ich habe alles unter Kontrolle. Guten Morgen, Honora. Ich möchte dir jemanden vorstellen."

Mit kleinen Schritten kam Fred um den Tisch herum und setzte ein Mädchen von etwa elf Jahren auf den Sessel Brandon gegenüber. Das Mädchen hatte lange hellrote Haare und große grüne Augen. Sommersprossen bedeckten ihre Wangen und die kleine Nase. Sie trug Jeans und ein weißes T-shirt mit Blumen. An ihren Händen erkannte Brandon frische Farbe. Blaue und violette Tupfer. Als sie seinen neugierigen Blick bemerkte, schob sie die Hände unter den Tisch und sah Fred fragend an. Dieser hatte neben ihr beschützend Haltung angenommen. Sein gesamter Körper schien unter Strom zu stehen.

"Darf ich dir unseren neuesten Gast vorstellen. Dies ist Neal Wolf."

Das Mädchen kicherte und sah ihn skeptisch mit hochgezogenen Augenbrauen an.

"Das ist nicht dein Name." Brandon lächelte Honora an, sie hatte Mut und Intelligenz. Viel zu sehr erinnerte sie ihn an seine Schwestern.

"Junge, das ist Honora."

"Hallo, Honora. Es freut mich dich kennenzulernen. Weißt du was jetzt passieren wird?", fragte er das Kind vor ihm. Honora zuckte die Achseln und sah ihm tief in die Augen.

"Ich werde tun, was nur ich tun kann." Verwirrt erwiderte er ihren Blick, wurde das Grün ihrer Augen etwa intensiver?

"Und das wäre?" Seine Stimme kam ihm weit weg und sehr leise vor.

Er spürte wie er in das satte Smaragd ihrer Augen gezogen wurde, der Kopf fühlte sich schwer und sein Körper schlaff an. Plötzlich befand Brandon sich nicht mehr in dem Verhörzimmer von OneSheep. Er war zuhause, stand in der Mitte seines Wohnzimmers, das Mädchen vor ihm. Sein Herz setzte einen Schlag aus, als er sich in der vertrauten Umgebung umsah.

"Kannst du mir sagen wieso du zu uns gekommen bist?", fragte Honora ihn freundlich. Das Wohnzimmer veränderte sich als Brandon über ihre Frage nachdachte. Nur Honora und er blieben fest verwurzelt stehen.

Von warmen Gefühlen ergriffen sah er sich selbst und Kyrie am Boden spielen. Durch die offenen Fenster strahlte warme Sonne auf sie. Kyrie waren etwa acht und Brandon sieben Jahre alt und hatten überall Holzklötze verteilt. Kyries blondes Haar war zu zwei Zöpfen geflochten und beide trugen sie die feine Sonntagskleidung für die Kirche. Nichts hatten sie so sehr gehasst wie das frühe Aufstehen und das langweilige Sillsitzen in der Kirche. Aber an diesem Sonntag, an diesem besonderen Tag, hatten ihre Eltern, das erste und einzige Mal in ihrem Leben verschlafen. Kyrie war wie immer rechtzeitig aufgestanden und hatte sich selbst und Brandon angezogen, doch die Eltern waren nicht gekommen und einer rebellischen Neigung folgend hatten sie die Erwachsenen schlafen lassen und stattdessen leise gespielt. Es war eine der schönsten Erinnerungen an seine Kindheit und Honora hatte sie ihm wieder ins Gedächtnis gerufen. Neugierig trat seine Begleiterin näher an die Szene heran.

"Sie ist der Grund warum du bei uns bist?" Ihre Skeptis war deutlich hörbar. In Brandon stieg eine weitere Erinnerung auf, Jahre später. Er saß als vierzehnjähriger mit der Gitarre in der Hand am Tisch und Kyrie sang mit ihm. Sie hatte eine furchtbare Stimme, schrill und schief. Vor Fremden war sie zu schüchtern gewesen ihre Leidenschaft dennoch auszuleben, aber wenn sie zu zweit waren, gab ein keine Zurückhaltung mehr. Immer noch hallte ihr gemeinsames Lachen an diesem einfachen Nachmittag in ihm nach, gab ihm die Gewissheit geliebt worden zu sein. Honora trat näher an die Erinnerung, taxierte Kyrie und seine jüngere Version.

"Wer ist sie? Warum ist sie so wichtig für dich?" Nun bewegte sich auch Brandon, stellte sich vor Kyries lächelndes Gesicht. In seinen Augen schimmerten Tränen. Ohne es zu wollen, gab er eine ehrliche Antwort. Im Angesicht seiner verlorenen Schwester konnte er nicht lügen.

"Das ist mein ältere Schwester. Ihr Name war Kyrie."

Honora legte ihm sanft eine Hand auf den Arm.

"Sie muss dir wichtig sein, wenn du ihretwegen diese gefährliche Reise unternimmst. Was ist mit ihr passiert?" Brandon schüttelte traurig den Kopf.

"Es ist nicht nur ihretwegen." Die Erinnerung an ihren letzten gemeinsamen Abend als Familie erschien vor ihnen. Eine lachende glückliche Familie.

So sehr darauf bedacht, sich dem System, das sie zu Sklaven machte, nicht entgegenzustellen.

"Sind das deine Eltern? Und das deine kleine Schwester?", Honora ging zu Coraline und sah sie nachdenklich an. Es herrschte nicht so viel Altersunterschied zwischen den beiden und Honora schien dies bemerkt zu haben. Bevor sie eine weitere Frage stellen konnte, veränderte sich die Szene vor ihren Augen. Der Moment als der Soldat seinen Vater erschoss, erschien vor Brandon. Er sah seine kleine Schwester schreien, die Mutter verzweifelt weinen und sich selbst hilflos danebenstehen. Erschrocken schnappte Honora nach Luft.

"Du meine Güte? Was passiert hier?", fragte sie, die Hände vor dem Mund gefaltet.

"Sie haben ihn getötet, meine Mutter und Schwester verschleppt und ich konnte nichts tun. Gar nichts. Ich war nutzlos. Wie ein Trottel bin ich nur daneben gestanden und habe zugesehen, wie das Regime meine Familie auseinander rieß." Voll Mitgefühl waren Honoras zarte Hände als sie sie in Brandons große legte und ihn aus seiner Trauer holten. Da war so viel Wut in ihm, Wut auf das Regime, seinen hilflosen Vater, aber am meisten auf sich selbst. Wäre er doch nur stärker gewesen, dann hätte er sie vielleicht retten können.

"Wo war deine ältere Schwester? Wo war Kyrie?" Ein letztes Mal veränderte sich das Geschehen um sie herum. Magenta stand vor ihnen den Mund zu seinem zufriedenen Lächeln verzogen. Kyrie lag in den Armen des anderen Soldaten, bewusstlos. Dies war Brandons letzter Augenblick mit seiner Schwester, der letzte Moment in dem er etwas hätte tun können und aus Respekt vor ihren Wünschen untätig geblieben war. Er bereute diese Entscheidung. Niemals wieder wollte er danebenstehen, wenn unrecht geschah. Und seine Schwester zu einer Soldatin gegen ihren Willen zu machen war unrecht, selbst wenn die Gesellschaft es nicht so sah. Honoras große, erschrockene Augen fanden seine.

"Sie ist eine Henotello? Du bist ein Henotello?" Noch einmal verspürte Brandon das Gefühl gezogen zu werden, sein Verstand wurde ruhig und blinzelnd fand sich wieder im Verhörzimmer. Honora vor ihm war schweißgebadet und zitterte heftig. Sofort war Brandon beunruhigt, er hatte so eine Reaktion schon viele Male bei Kyrie erlebt nachdem sie ihre Kräfte überstrapaziert hatte.

"Sie braucht Zucker und ein Bett. Sofort!", verlangte Brandon und wollte Honoras Hände nehmen. Verwirrt stellte er fest, dass er Handschellen trug. Fred ignorierte ihn und umarmte das Mädchen fest.

"Was hast du gesehen?", fragte er sanft. Honora schluckte und begann stockend zu berichten.

"Er ist ein Henotello. Seine ältere Schwester wurde vor nicht allzu langer Zeit geholt. Er sagt die Wahrheit über seine Familie. Seine Erinnerungen bestätigen es eindeutig. Fred, er gehört zu uns."

Fred strich dem Mädchen sanft über den Kopf und zog sie dann auf die Beine.

"Das hast du gut gemacht, Schatz. Crow wird dich in die Cafeteria bringen. Dort kannst du dir ein Schokoeis holen. Du hast es dir verdient."

Auf zittrigen Beinen verließ das Mädchen sie, jedoch nicht ohne Brandon noch einmal mitfühlend anzusehen. Das gemeinsam Erlebte schuf eine Verbindung zwischen ihnen, die sowohl Brandon als auch Honora eindeutig fühlte. Fred nahm geräuschvoll Honoras Platz ein während Brandon verzweifelt versuchte, das zitternd seiner Hände unter Kontrolle zu kriegen. Das Sehen seiner schlimmsten Erinnerungen hatte ihn schwer mitgenommen. Einige Sekunden sahen sie einander abschätzend an, bis Brandon doch das Wort ergriff, die Neugierde war zu groß.

"Sie ist eine Henotello. Woher kommt sie? Alle Blutlinien werden strengstens kontrolliert und überwacht. Es ist unmöglich, ein Henotello-Kind zu verstecken oder zu schmuggeln."

Fred lächelte und legte den Kopf schief. "Das stimmt, Junge. Aber es gibt Dinge, die weiß nicht einmal das Regime. Unsere Organisation existiert schon sehr lange, beinahe so lange wie Bärensteins Regime. Kennst du die Geschichte deiner Familie?" Brandon nickte. Natürlich kannte er sie. Er konnte seine Vorfahren bis hin zu Nelenia Henotello zurückverfolgen, der ersten Tochter Brianas, angeblich die mächtigste Henotello, die es je gab.
Fred beugte sich vor, stützte die Arme auf den Tisch.

"Wie viele Kinder hatte Briana Henotello?", fragte er stirnrunzelnd und kratze sich am Bart.

"Vier. Nelenia, Sandrine, John und Claudette.", antwortete Brandon ohne nachzudenken. "Falsch."

"Was? Nein, es gab diese vier, aber Claudette starb früh in der Kindheit, also reden die meisten von drei Kindern. Von diesen drei stammen alle Henotellos ab."

"Falsch. Briana war eine schlaue Frau, eine verzweifelte Mutter. Sie hat ihre Kinder über alles geliebt und den Fluch der Gabe, die sie über euch gebracht hat zutiefst verabscheut. Sie wollte euch nie zu Sklaven Bärensteins machen, niemals. Weißt du wie sie starb?"

"Im Kindbett, zusammen mit dem neugeborenen Kind." Fred schüttelte den Kopf. In seiner Stimme schwang sehr viel Leidenschaft mit.

"Nein, du hast recht das sie in den folgenden Tagen starb, doch das Kind starb nicht. Briana wusste, das Bärenstein sie wie ihre Geschwister quälen würde und hat Vorkehrungen getroffen um es weit weg zu wissen. Ihre Tochter Isla sollte nie die Qualen ihrer Familie teilen müssen. Ihre Nachfahrin hast du gerade kennengelernt."

Brandon hörte Bewunderung in den Worten des Anführers. Er selbst hatte in Briana immer die Wurzel allen Übels gesehen, doch wie hätte es anders sein können. In den Schulbüchern stand klar geschrieben, dass Briana sich freiwillig und mit Freude Bärensteins Eroberungen angeschlossen hatte. Niemals hätte er ihren Widerwillen vermutet. Ebenso wenig hatte er ein viertes überlebendes Kind vermutet. Isla Henotello war ein Wunder. Wie hatte sie sich all die Jahrhunderte bedeckt gehalten?, fragte sich Brandon verwundert.

"Honora ist wirklich ihre Nachfahrin?" Der Zweifel war deutlich herauszuhören. Sein Gegenüber bestätigte mit einem nicken.

"Ich habe deine Frage beantwortet. Beantworte nun die meine? Ist es dir ernst mit dem Wunsch deine Familie zu retten?" Brandon nickte eifrig, spürte die aufkeimende Wut beim Gedanken an seine Familie, unterdrücke sie jedoch um einen klaren Kopf zu behalten.

"Ja auf jeden Fall. Ich habe keine Hoffnung für meine Eltern. Aber meine Schwestern kann ich noch befreien."

Schwerfällig stand Fred auf und deutete ihm zu folgen. Gemeinsam schritten sie durch die Tür und gingen einem Schild folgend in die Richtung von >Boss<. Brandon nahm an das damit Freds Quartier gemeint war. Flower folgte ihnen, jedoch dezenter und weit weniger aggressiv als in den Minuten zuvor. Crow war nirgends zu entdecken.

"Deine ältere Schwester ist in der Akademie." Ein bestätigendes Nicken Brandons. "Vergiss sie. Wir kriegen sie da nicht raus, unmöglich. Diese Einrichtung ist eine Festung."

"Aber,...", setzte Brandon an, doch wurde unwirsch unterbrochen.

"Nichts aber. Da ist keine Möglichkeit. Sie wird dieses Gelände auch für einige Zeit nicht verlassen. Laut unseren Informanten gibt es ein klares System. Männliche wie weibliche Henotellos werden erst nachdem sie ein Kind entweder gezeugt oder geboren haben in eine Einsatztruppe befördert und damit an die Front geschickt."

"Das ist unmenschlich!", warf Brandon angewidert ein. Er stellte sich seine arme Schwester festgebunden an einem Bett vor. Was taten ihr diese Monster nur an. Fred führte ihn in ein großes Büro mit Aktenschränken und einem hölzernen Schreibtisch. Der Boden war kahler Beton wie die Wände auch, doch überall hingen Familien- und Kinderbilder. Es sah fast so aus als wären die Wände damit tapeziert. Mehrere sehr unterschiedliche Sessel standen im Raum verteilt und ohne Aufforderung ließ sich Brandon auf einen fallen. Fred ging zu seinem Schreibtisch, öffnete eine Schublade und holte ein Messer hervor. Beim Anblick des scharfen Bestecks bekam es Brandon wieder mit der Angst zu tun.

"Absolut. Flower schließ die Tür hinter dir." Flower tat wie ihr befohlen und nahm ebenfalls Platz. Während er sprach schnitt Fred Brandons Fesseln entzwei.

"Henotellos sterben aus. Sehr wenige von den Geschwistern beschließen aktiv Kinder zu zeugen. Die meisten wollen ihren Kindern nicht den Horror der Akademie und des Krieges überlassen." Fred lehnte sich lässig gegen seinen Schreibtisch und spielte mit dem Messer.

"Der Meinung bin ich auch. Als sie Kyrie mitnahmen, hab ich mir geschworen niemals Kinder zu haben. Niemals." Entschlossen schüttelte Brandon den Kopf und massierte seine zuvor eingeschnürten Handgelenke.

"Und da ist das Problem für Bärenstein.", erklärte Fred fachmännisch mit Leidenschaft in der rauen Stimme, "Er braucht Henotellos. Seine gesamte Macht gründet auf euren Fähigkeiten. Deshalb veränderte sich die Akademie im letzten Jahrzehnt von einem militärischen Ausbilungsort zu einem Zuchtprogramm. Bärenstein wurde klar, dass es ohne euch längst eine Revolution gegeben hätte."

Brandon verzog wütend das Gesicht beim Gedanken an Kyrie und ihren Schmerzen.

"Scheiße. Ich wusste, dass Kyrie es nicht einfach haben wir, aber nie hätte ich mir sowas vorstellen können. Jetzt verstehe ich auch Tante Tamaras Tod. Sie hat den Verlust ihres Kindes nicht überlebt."

Mitleidend klopfte Fred Brandon auf die Schulter und verschränkte dann die Arme vor der breiten Brust.

"Deine Schwester befindest sich noch im Basisprogramm. Erst in einigen Monaten wird man sie zur Reproduktion zwingen."

"Reproduktion?", fragte Brandon ablehnend. Fred nickte kopfschüttelnd und setzte sich Brandon gegenüber. Ein schiefes Lächeln begleitete seine Aussage.

"So nennen es die Leute in der Akademie. Ich habe diese Bezeichnung immer gehasst, aber eigentlich trifft es zu. Deine Schwester und die anderen Kinder in der Akademie sind Spielfiguren, Zuchtvieh und Foltermaterial zugleich. Diese Gebäude sind nur einer von unzähligen Gründen Bärenstein zu hassen. Es tut mir leid. Aber deine Schwester Kyrie ist keine Option."

Brandons Herz begann wehzutun, er fühlte es in seinem Brustkorb klopfen und mit jedem Schlag größere Schmerzen durch seinen Körper jagen. Nach allem was er von Fred erfahren hatte, verspürte er nur Kummer beim Gedanken Kyrie in der Akademie zu lassen. Er trauerte um seine Nichte oder Neffen, denn er würde das Kind niemals zu Gesicht bekommen.
Kyrie ebensowenig. Sie hatte sich nie besonders für Kinder interessiert, doch ihr Umgang mit Coraline war so voller Liebe gewesen, dass er sicher war, sie wäre eine gute Mutter geworden. Freds Worte rissen ihm aus seiner Verzweiflung.

"Deine jüngere Schwester,.."

"Coraline."

"Richtig, Coraline. Sie könnten wir vielleicht retten. Aber nicht in den nächsten Wochen oder Monaten."

Alarmiert stand Brandon auf und zog die Augenbrauen zusammen. Wenn er Kyrie schon leiden lassen musste, so konnte er doch zumindest seine kleine Schwester retten! Sie war noch zu jung um mit den Schmerzen umzugehen, würde daran zerbrechen.

"Wieso nicht?", fragte er aufgebracht. Fred ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, stand gemächlich auf und sah auf Brandon herab. Er war gut einen halben Kopf größer als der junge Mann, seine Stimme hart wie Stahl, die Augen unnachgiebig.

"Weil du ein Henotello bist. Der erste, der tatsächlich geflohen ist und das seit Jahren. Sie werden nach dir suchen und das überall. Du kannst hier nicht weg und wir können keine Aktion starten, solange wie verrückt nach dir gesucht wird. Glaub mir diese Tatsache ist für uns beide unangenehm, aber wir werden damit klarkommen. Hab geduld, Junge."

Wütend verzog Brandon das Gesicht, schlug mit der Faust auf den Tisch, wollte seinen verzweifelten Gefühlen Taten folgen lassen.

"Ich bin nicht dein Junge. Und ich kam her für Hilfe. Wenn ich keine Erwarten kann, dann versuche ich mein Glück auf der Straße!"

Mit Schwung drehte er sich um und kollidierte heftig mit Flower. Nur mit Mühe bewahrte er sie beide davor auf dem Boden zu landen. Ihre Augen fanden seine.

"Beruhig dich Wolf. Ich weiß untätig sein, tut weh, aber dieser Weg ist der richtige. Nur so wirst du am Ende deine Schwestern wiedersehen. Wir vertrauen dir. Nun ist es an der Zeit, dass du uns vertraust." Ihre Stimme hatte einen leichten Akzent, kaum wahrnehmbar, hätten Gefühle nicht ihre Stimme geführt. Kopfschüttelnd riss er sich von ihr los.

"Ich kann nicht warten. Ich kann nicht,..", weiter kam er nicht. Tränen rannen aus seinen Augen. Der Schmerz, den er seit Wochen in sich eingeschlossen hatte, brach heraus. Flower fing ihn auf als er zu Boden sackte. Zusammen saßen sie am kalten Beton. Sanft flüsterte sie ihm Worte in einer anderen Sprache zu, aber auch ohne Übersetzung hatten sie eine heilende Wirkung. Brandon ließ zu das sie ihn tröstete, trauerte um seine Familie wie er es von Anfang an hätte tun sollen.

"Wir werden deine Schwestern zu dir zurück bringen, Wolf. Ich verspreche es dir." Brandon spürte eine warme Hand an seiner Schulter und erkannte, dass es Fred war, der ihm dieses Versprechen gegeben hatte. Wenn die Zeit reif war, würde er Fred dazu bringen es zu halten.


Anmerkung der Autorin: Ich hab mich gefragt ob euch die Briefe von Nelenia, John, Sandrine und Co am Anfang der Kapitel gefallen? Sind sie sinnvoll, vermitteln sie ausreichend gefühl?
Bitte um Kommentare, eure Lisa-Marie

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