17. Gewissheit oder Ungewissheit

Liebste Sandrine,
nun bin ich verheiratet. Ich dachte nicht, dass es sich so anfühlen würde.
Marie und ich wohnen in einem großzügigen Landsitz Bärensteins. Wir haben viel Hauspersonal und alles was wir uns wünschen könnten, doch es ist als wäre eine Mauer zwischen uns. Es gibt nichts das ich tun könnte um diese einzureißen, vor allem da Marie mit jeder Nacht in der ich nicht das Bett mit ihr teile, wortkarger und wütender wird.
Versteht sie nicht, dass ich sie kennenlernen möchte? Ich wünschte mir du wärst hier. Unsere Zeit auf der Hochzeit war das einzige, das mich Freude über meine Vermählung empfinden lässt. Ich habe dich so sehr vermisst, liebste Schwester. Deine Kinder werden von Jahr zu Jahr schöner und stärker. Aber glaub nicht ich hätte die dunklen Ringe unter deinen Augen nicht bemerkt.
Ich habe auch die Male an deinem Hals gesehen. Warum tut er dir so weh? Er will unser aller Vater und Freund sein, der gütige Herrscher und doch verletzt er seine eigene Frau.
Schlimmeres allerdings tut er eurem erstgeborenen Sohn an. Als ich ihn das erste Mal auf meiner Hochzeit sah, war ich schockiert. Ein Junge, bösartig und gehässig, überseht mit Narben und Prellungen. Was hat Bärenstein nur mit dem armen Kind getan um ihn so werden zu lassen.
Ich hoffe nur unsere Nichte Ariella wird nicht dasselbe Schicksal ereilen. Denkst du Lothar wird sie mich adoptieren lassen? Ich will Nelenias Kind in guten, freundlichen Händen wissen. Dabei fällt mir ein, das ich Neuigkeiten über unsere Schwester habe. Leider schlechte. Sie hat ihr Regiment verlassen und ist untergetaucht. Niemand hat sie seit Monaten gesehen.
Aber es gibt Gerüchte. Angeblich soll sie eine Armee aufstellen um ihre Ariella zurückzuholen. Wenn das stimmt, auf wessen Seite soll ich mich dann stellen, Sandrine?
Welche Seite ist die richtige? Gibt es im Krieg überhaupt eine?
Mit aller Liebe John Henotello

Kyrie erwachte in der Zelle in der sie die ersten Tage ihres Aufenthaltes in der Akademie verbracht hatte. Diese furchtbare, graue, reizlose Zelle. Durcheinander setzte sie sich auf und sah an sich herab, erkannte einen schmuddeligen, weißen Krankenhauskittel und schwere, aus schwarzem Metall gefertigte Handschellen an ihren Händen.

Ihre Hände, die spitzen ihrer blonden Haare wie Teile ihres Körpers wiesen rote Farbe auf. Oder war es Blut? Sie wusste nicht wie lange sie geschlafen hatte, oder ob es überhaupt schlaf war. Vor ihrer Zellentür stand ein Tablett mit Essen, einfaches Brot mit Früchten. Kein Besteck. Kyrie verschwendete keine Zeit und stürzte zu dem Essen und dem Glas Wasser. Sie hatte einen seltsamen verbrannten Geschmack im Mund. Nachdem sie gegessen hatte, starrte sie für Stunden einfach nur an die Decke. Ihr Gehirn versuchte sich hartnäckig daran zu erinnern, was passiert war. Woher kam das Blut an ihrem Körper? Sie hatte keine Verletzungen, das hatte sie überprüft, also wessen Blut war es? Wie kam sie in diese bescheuerte Zelle? Plötzlich hörte sie das ihr bekannte klicken und metallische knarren der Tür. Schwerfällig wurde sie geöffnet und Zeus trat ein.

Sein Gesicht war bar jeder Emotion.

"Nava. Ich soll dich zu deiner Anhörung bringen." Sofort stand Kyrie auf und trat auf ihn zu. Sie konnte ihre aufkeimenden Glücksgefühle nicht unterdrücken. Seine Abweisende Haltung hielt sie nicht zurück, dafür kannte sie seine Methoden zum Selbstschutz zu gut. Endlich sah sie ihn wieder, er würde ihr sagen können was geschehen war.

Niemals würde Zeus sie anlügen.

"Meine Anhörung, Zeus, ich verstehe nicht. Was ist passiert? Wie komme ich hier her?" Statt zu antworten trat er in den Flur. Die Kameras, ging es Kyrie durch den Kopf. Im Flur würde es keine geben, sie konnten freier Sprechen. Zögerlich folgte sie ihrem Freund, hartnäckig bemüht sich das Gewicht der Handschellen nicht anmerken zu lassen. Etwas an seiner Reaktion ließ sie stutzig werden. Sobald sie aus dem Raum waren, schloss Zeus die Türe wieder und zog sie in eine stürmische Umarmung. Für wenige, kostbare Sekunden hielten sie einander fest, verzweifelt wie Ertrinkende.

Kyrie strich mit der Wange über seine Schulter, roch seinen einzigartigen Geruch. Ihre gemeinsame Nacht kam ihr in den Sinn und sie drückte sich noch stärker an ihn. Niemals wollte sie ihn loslassen.

"Kyrie, was hast du nur getan?", flüsterte Zeus in ihr zerzaustes Haar.

Sie wand sich aus seiner Umarmung und sah in seine schönen grünen Augen. Was sie in ihnen sah, erschreckte sie mehr als seine Worte. Ehrliche, unverfälschte Furcht. Vor ihr? Um sie? Fragen, die sie nur noch mehr verstörten.

"Was meinst du?" Zeus strich über ihre blonden Strähnen und nahm dann in Gesicht in seine rauen Hände. Ungläubig sah er sie an.

"Kannst du dich an nichts mehr erinnern?"

"Nein. Ich meine doch, ja. Ich glaube. Ich kann mich an Magenta erinnern. Sie hat Kasimir und mich in die Babyfaktory gebracht. Dann hat Conrad übernommen. Er war ein Arsch, glaube ich und dann..."

"Und dann...? Du weißt nicht was danach passiert ist?"

Kyrie zuckte mit den Achseln und verzog ängstlich das Gesicht. Dieses Gespräch verlief nicht wie sie erwartet hatte. Zeus hätte sie trösten und nicht weiter verletzten sollen.

"Nein, alles danach ist irgendwie ein wirr-warr aus rot und blau und ich glaube einem Spiegel."

"Ein Fenster.", flüsterte Zeus tief traurig, "es war ein Fenster. Du bist durchgedreht und hast Conrad mit deiner Telekinese den Schädel eingeschlagen. Danach hast du Kasimir aus dem Fenster geworfen. Er hat sich an einer großen Scherbe den Hals aufgeschnitten. Ist im Gras verblutet." Leugnend schüttelte Kyrie den Kopf.

"Nein, nein, das ist unmöglich! Ich würde doch niemals einem Freund wehtun. Du musst dich irren." Zeus griff erneut nach ihr, doch Kyrie wich zurück, bis sie an der gegenüberliegenden Wand ankam. Dort versuchte sie die Arme um sich zu schlingen, doch die Handschellen bestätigten ihr Zeus Aussage. Weshalb sonst sollten ihre Vorgesetzten ihr diese anlegen, wenn Kyrie nicht etwas grausiges verbrochen hatte. Schock rollte über sie wie eine große Welle.

"Es tut mir leid, Kyrie, aber das ist die Wahrheit. Ich hab dich gesehen. Ich habe gesehen wie Kasimir gestorben ist. Ich wünschte, ich könnte dich vor diesen Tatsachen bewahren, aber wenn du es nicht weißt wäre das falsch." Ihre Gedanken spannen im Kreis, und immer wieder tauchte ein Bild von Kasimir auf. Blutend mit zerstörtem Hals und leerem Blick in einen blauen Himmel sehend. Sie begann unkontrolliert zu zittern.

"Du hast ihn mit Feuer eingeäschert.", setzte Zeus kleinlaut nach. Erschrocken sah sie ihn an.

"Ich hab was getan?"

"Du hast Pyrokinese eingesetzt um seinen Körper zu vernichten."

Nein, schlimmer, sie hatte ihre zweite Gabe vor aller Augen angewandt.

Sie hatte sich verraten. Nun gab es kein Verstecken mehr. Tränen sammelten sich in ihren großen Augen. Zitternde Schluchzer bahnten sich ihren Weg aus ihrem Mund. Zeus breitete hilflos die Arme aus, er wirkte mit der Situation vollkommen überfordert. So Überfordert wie auch Kyrie sich fühlte. Unsicher trat er auf sie zu, doch sie wich ihm beharrlich aus, hielt immer eine Armlänge zwischen sich.

"Nicht, ich will dir nicht auch wehtun.", flüsterte sie erstickt. Stur griff er nach ihr und zog sie in eine feste Umarmung.

"Du würdest mir niemals wehtun.", erwiderte er starrsinnig. In seinen starken Armen ließ Kyrie sich fallen, fühlte die Schuldgefühle, Wut und Angst ihre Sinne betäuben und versprach nie wieder die Kontrolle zu verlieren. Als sie sich einigermaßen beruhigt hatte, fragte sie nach der geplanten Anhörung.

"Du hast zwei Mitglieder der Pythonissam getötet und eine weitere Gabe verheimlicht. Ich kann dir nicht sagen, was sie tun werden oder was deine Strafe sein wird, denn ich weiß es einfach nicht. So etwas ist noch nie vorgekommen, nicht während der Ausbildung hier."

Eine ungewisse Zukunft also. Aber Strafe war Kyrie immer noch lieber als Viktor, Sergei und Masako gegenüber treten zu müssen, ihnen erklären zu müssen, wie sie ihren Freund getötet hatte. Eine Tatsache, die Kyrie immer noch nicht glauben konnte. Die Schuldgefühle nahmen ihr den Atem, die Fähigkeit zu denken. Zeus strich erneut über ihre tränenfeuchte Wange.

"Egal was auch passiert. Ich werde an deiner Seite sein, Kyrie. Versprochen." Kyrie wandte ihm ihr Gesicht zu und atmete tief durch. Mit einem Räuspern stellte sie sicher, dass ihre Stimme nicht brechen würde. Sie musste nun stark sein.

"Na gut. Dann bring mich zu ihnen. Ich werde meine Verbrechen nicht leugnen." Zeus warme Finger fanden ihre kalten in den Handschellen.

Er schenkte ihr ein kleines, aufmunterndes Lächeln bevor sie schweigend die langen Gänge zu Kyries Anhörung gingen. Langsam schlug ihr Herz. Sie dachte an ihre Familie, daran wie sie ihnen Rache versprochen hatte, nun würde sie vermutlich getötet werden. Ein tollwütiger Hund, der die Hand seiner gnädigen Ernährer gebissen hatte. Sie sollte Wut empfinden, genau wie in so vielen anderen schrecklichen Situationen seit ihrem achtzehnten Geburtstag, doch wo ihre Gefühle einst hausten verspürte sie nur leere.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top