16. Zuchtvieh

Liebes Tagebuch
heute habe ich etwas Beunruhigendes gefunden. Einen Brief von jemanden der sich meine Mutter nennt. Ich habe Mama und Papa davon noch nichts gesagt, ich wollte mir erst sicher sein, dass ich die Antwort wirklich wissen will.
Wenn es stimmt, was in diesem Brief steht, ist meine wirkliche Mutter Briana Henotello und ich gehöre zu den Henotellos.
Die Verräterin Nelenia würde meine älteste Schwester sein.
Die Königin Sandrine wäre meine zweitälteste Schwester.
Den Kommandant John könnte ich dann meinen Bruder nennen.
Angeblich hatte ich sogar noch eine große Schwester namens Claudette, aber sie starb vor meiner Geburt. Wenn der Brief, der Wahrheit entspricht habe ich Geschwister. Bis jetzt war ich ein Einzelkind, das immer Bruder und Schwester wollte.
Nur bin ich mir nicht sicher ob ich wirklich Teil dieser Familie sein will. Briana hat mich nicht umsonst in ihrem Brief gewarnt, sie hat nicht umsonst ihr Leben für meine Freiheit von diesem verfluchten Namen gegeben.
Ich will Nelenia, Sandrine, John und deren Kinder kennenlernen, doch ich fürchte, ich werde es niemals. Ich glaube, der Brief ist echt und ich will das Opfer meiner Mutter nicht für nichtig erklären in dem ich mich freiwillig Bärenstein ergebe.
Ich werde tun, was Mutter geraten hat und den Brief verbrennen, ich werde meinen Namen niemals gebrauchen und vor aller Augen in der Masse versteckt sein. Niemals soll jemand wissen, dass es eine Isla Henotello gegeben hat.

Seit Tagen kämpfte Kyrie mit ihren Gefühlen. Seit dem Moment in dem Magenta ihr die Neuigkeiten über ihre Familie gebracht hatte.
Einen Tag später war sie noch einmal gekommen um ihr vom Tod ihrer Mutter und Schwester zu berichten. Nun war Kyrie vollkommen alleine auf der Welt. Sie hatte keinen Appetit mehr, schlief kaum noch und sprach nicht mehr.
Die Tage verschwammen vor ihren Augen, verblassten zu schmerzhaften Momenten. Immer wieder überkam sie ein heftiges Gefühl der Wut, ließ sie rot sehen, zittern und um sich schlagen.
In diesen Momenten fürchtete Kyrie anderen unabsichtlich wehzutun. Besonders in der Nacht während sie versuchte zu schlafen, überkamen sie häufig Alpträume, diese ließen sie die Kontrolle über ihre Gaben verlieren.
Ihr Kopfpolster war kohleschwarz verbrannt, ihr Nachtkasterl und die Spinde der anderen verbogen. Als sie eines Nachts auf die Toilette ging und sich beim vorbeigehen in den Spiegel sah, erkannte sie ihre Gesicht umrahmt von schwarzen Haaren kaum. Mit sechzehn erhielt sie diese nutzlose Gabe.
Auf Kommando konnte sie ihre Haare färben, in jede Farbe die es gab. Kyrie hatte sich nie wirklich für diese Gabe interessiert, doch nun wurde sie zur Gefahr. Aus diesem Grund stand sie seit dieser Nacht immer als erste auf, um sicher zu gehen, dass die grausigen Bilder in ihrem Kopf, ihr Äußeres nicht verändert hatten.
Kasimir, Masako, Viktor und selbst Sergei hatten versucht mit ihr zu sprechen, ihr zu helfen. Doch jeder Versuch wurde von ihr abgeblockt.

Da war einfach nichts das ihre Freunde tun konnten um ihren Schmerz zu lindern, allein die Rache konnte das. Und auf diese arbeitete sie hin, versuchte sich ihren unstabilen mentalen Zustand gegenüber Magenta und Conrad nicht ansehen zu lassen, wurde gefühlskalt und unbarmherzig in Trainingskämpfen. Während der Drilleinheiten wanderten ihre Gedanken dennoch zu Zeus.

Sie wusste, er könnte ihren Schmerz verstehen, sie vielleicht sogar trösten. Die Erinnerung an ihre gemeinsame Nacht ließ sie zumindest für Sekunden die dunklen Wolken über sich vergessen.

Nächsten Donnerstag würde sie ihn wiedersehen können, hätte die Möglichkeit ihren Kummer für ein paar Stunden zu vergessen. Aber eine Woche konnte lange sein, besonders in der Akademie. Besonders wenn der Befehl zur Reproduktion jeden Moment kommen könnte und sie durch ihre fehlende emotionale Ausgeglichenheit ihre Kräfte kaum noch kontrollieren konnte.

"Nava, wir müssen wirklich reden.", flüsterte Kasimir eines Nachmittags nach dem Mittagessen. Sie waren gerade auf dem Weg zu ihrem Schlafsaal um sich für die Nachmittagsdrills im Schwimmbad umzuziehen. Von jedem Rekruten wurde erwartet, ein einigermaßen guter Schwimmer zu sein. Noch eine Sportart, die Kyrie liebte, noch eine in der sie zeigen konnte wie gut sie war.

"Nein, müssen wir nicht.", antwortete Kyrie gleichgültig. Mit Kasimir reden, war das letzte was sie wollte. Nachdem sie ihn geschlagen hatte, waren ihre Gefühle ihm gegenüber immer noch ungeklärt.

Die fehlenden Schuldgefühle und der zusätzliche Druck zur Reproduktion verursachten Aggressionen in Bezug auf ihre Freundschaft, die sie nicht fühlen wollte. Ungeduldig versperrte Kasimir ihr den Weg. Mit zusammengebissenen Unterkiefer, strich Kyrie ihre Uniform glatt und vermied es seinen Blick zu erwidern.

"Doch müssen wir! Ich weiß, du hast viel verloren, aber wenn wir nicht langsam über den bevorstehenden Befehl reden, werden wir noch viel mehr verlieren. Bitte, ich will kein Monster sein, ich will das hier als ich selbst überleben."

Kyrie sah ihrem Freund in die Augen erkannte die übermächtige Furcht. Sie wussten beide was bei Befehlsverweigerung passieren würde, konnten sich die Folter und Qual bildlich vorstellen. Während der Eingangstest hatten sie einen guten Vorgeschmack. Wenn Kyrie sich also weigern sollte freiwillig an der Reproduktion teilzunehmen, bliebe Kasimir keine andere Wahl als sie zu vergewaltigen. Er wollte diese Nötigung um jeden Preis verhindern. Wie immer war Kasimir darauf aus ein netter Mensch zu sein, wie er es bei ihrer ersten Begegnung behauptet hatte.
Kyrie war sich bis jetzt nicht bewusste gewesen, wie wichtig ihm dieser Umstand war.

"Ich.."

"Nava, Kasimir. Schön das ich euch beide hier treffe. Kommt bitte mit.", unterbrach Magenta ihr Gespräch mit ihrer üblichen Arroganz. Sie drehte sich um und ging den grauen Flur entlang, ohne sich zu vergewissern, ob sie ihr folgen würden. Seufzend beschlossen sie ihr Gespräch auf später zu verschieben und ihrer Befehlshaberin zu folgen.

Kyrie besah sich Magentas Uniform näher, irgendetwas war da. Blut, erkannte sie. Überall auf Magentas Kleidung klebte Blut, frisch und rot. Magenta fing ihren erschrockenen Blick auf und lachte.

"Haha, ja das ist was du denkst, kleine Nava. Ich hatte heute früh die Ehre mit Mr. Good zu arbeiten. Ein wahres Genie, wenn du mich fragst. Vielleicht bekommst du auch einmal die Gelegenheit ihm bei seiner unglaublichen Arbeit zu assistieren."

In Magentas Augen sah sie stolz auf ihre vollbrachte Bluttat.

Ein widerliches Gefühl breitete sich in Kyries Magengegend aus, sie beschloss bei der Folterkammer nicht mitzumachen, egal was passierte. Schweigend folgten Kyrie und Kasimir der Frau hinaus in die frische Frühlingsluft. Die Sonne heizte die Luft bereits auf und ließ die Blumen, das einzig Schöne in diesem Areal, aufblühen. Auf dem Rasen konnten sie Rekruten kämpfen sehen, sogar eine Kampfeinheit, die zusammen ihre Kräfte der Pyrokinese anwendeten, konnten sie beobachten. Bald werde ich auch in einer Kampfeinheit sein, dachte Kyrie und Vorfreude machte sich in ihr breit.

Sie war fest entschlossen, so schnell wie möglich Jagd auf die Mörder ihres Vater zu machen. Magenta drehte nach links ab und ging auf ein Gebäude zu dessen Name "Reproduktionshaus" war. Die Rekruten nannten es allerdings die >Babyfaktory<. Kasimir neben ihr versteifte sich und blieb stehen, seine Augen waren zu großen Spiegeln seiner Angst geworden.

Kyrie blieb neben ihm stehen, sah zwischen Gebäude und ihm hin und her.

"Kasimir. Bleib ruhig. Komm weiter, schnell bevor Magenta was merkt.", sie versuchte ihn aus seiner Trance rauszureißen, doch das Entsetzten verwurzelte ihn fest.

"Ich kann das nicht, ich kann das einfach nicht. Ich will, dass nicht tun. Was soll ich tun?", flüsterte er immer wieder.

"Kasimir.", Kyrie probierte es weiter, als sie plötzlich Magentas Stimme hörte.

"Was ist los, Rekrut Kasimir? Weshalb bist du stehen geblieben."

Kyrie sah wie er tief Luft holte um Magenta etwas definitiv dummes zu entgegnen. Verzweifelt drang sie in seine Gedanken und fand etwas mit dem sie ihn retten konnte.

"David, vertrau mir. Bleib ruhig. Befolge ihren Befehlen, alles wird gut.", flüsterte sie kaum hörbar in sein Ohr. Erschrocken blickte er in ihr Gesicht.

"Woher?", setzte er an.

"Kasimir, was ist los?", fragte Magenta mit aufkeimender Wut.

Kyrie sah wie sich in seinem Kopf die Zahnräder drehten, sah wie seine Gedanken wild durcheinander tobten. Schließlich kam er zu einem Entschluss, nahm Haltung an und sagte mit fester Stimme.

"Ich hatte einen Krampf im Bein, Mam. Er hat sich jetzt gelöst. Ich bin bereit weiterzugehen." Magenta nickte nachdenklich, sah ihn jedoch noch einige Sekunden lang an.

"Bist du sicher, Kasimir? Du hast nichts zu sagen?", ihre Stimme bettelte nach einer aufmüpfigen Erwiderung, einem Grund ihre Gabe des Schmerzes einzusetzen. Kasimir schluckte. Kyrie blieb stumm. Diesen Showdown musste er selbst bestreiten, Einmischung ihrerseits konnte üble Folgen haben.

"Nein, mam. Es tut mir leid, Sie aufgehalten zu haben. Ich bitte vielmals um Entschuldigung.", schleimte Kasimir sich seinen Weg aus dieser potentiell schmerzhaften Situation. Magenta nahm seine Entschuldigung mit Würde und einem zufriedenen Lächeln an, danach ging sie weiter zur Babyfaktory.

Kyrie folgte und beobachtete Kasimir neben sich. Egal welche Gefühle sie in Bezug auf ihre Freundschaft hatte, sie würde nicht zulassen, dass er sich umbrachte in dem er die Befehle verweigerte. Immerhin, dachte sie selbstzufrieden, hatte sie ja bereits einen Plan um aus der Reproduktionsmasche herauszukommen.

Kasimir brauchte sich also keine Sorgen um seine Menschlichkeit machen. Magenta scheuchte sie in die Babyfaktory und brachte sie durch eine breites Foye zu einer Rezeption. Das Gebäude ähnelte beängstigend dem Ankunftsgebäude der neuen Rekruten. Mit einem Unterschied.
Die Wände waren nicht grau, sie waren gelb. Ein schwacher Versuch, die abartigen menschenunwürdigen Handlungen dieses Gebäudes zu kaschieren. Die Rezeptionistin kam hinter ihrem weißen Tresen hervor. Sie trug einen weißen Krankenhauskittel und weiße bequeme Schuhe. Ihr Lächeln wirkte tatsächlich echt, als sie die Neuankömmlinge begrüßte.

"Guten Tag, Kasimir. Guten Tag, Nava. Willkommen. Ich bin Maisie, die Verwalterin." Die Eingangstür wurde geöffnet und Conrad trat ein. Selbst im Gebäude nahm er seine Sonnenbrille nicht ab. Auch ihn begrüßte Maisie freundlich lächelnd. Conrad drehte sich zu Magenta.

"Mr. Good, hat wieder nach dir verlangt." In diesem Moment sah Kyrie das erste ehrlich erfreute Lächeln, das sie je in Magentas Gesicht gesehen hatte. Wie der Wind und ohne Verabschiedung rannte Magenta aus der Tür und überließ Conrad ihre Rekruten. Maisie seufzte und bat sie ihr zu folgen.

Durch einen weiteren gelben Flur, gelangten sie in die Babyabteilung. Kyrie bestaunte mit offenem Mund, die Babys in einem großen Raum. Die Glasscherbe zwischen innen konnte die Geräusche der Neugeborenen nicht dämpfen. Hell und unschuldig schrien sie oder schliefen friedlich. Der Anblick ließ Kyrie für einen Moment zur Ruhe kommen. Ein Raum voller Unschuldiger Seelen, unbefleckt von Kummer und Schmerz war an diesem furchtbaren Ort kaum aushaltbar.

"Der Anblick lässt jeden kurz stehen bleiben. Selbst die härtesten Soldaten.", meinte Maisie mit einem schmunzeln und strich sich das kurze rote Haar hinters Ohr. Einfache goldene Ohrringe zierten diese, ließen ihr geschminktes Gesicht noch mehr strahlen. Unbewusst griff Kyrie nach ihren eigenen Ohrläppchen, doch da steckten keine Ohrringe. Sie hatte sie während ihrer ersten Nacht im Schlafsaal in ihrer linken Schuhsolle versteckt.

Niemand sollte in der Lage sein, ihr das letzte Geschenk ihrer Familie wegzunehmen. Kyrie merkte wie sie ihr Lächeln erwiderte und schallte sich. Sie sollte dieser Fremden weder freundlich noch vertrauensvoll begegnen.

Sie war ein Monster wie alle hier arbeitenden Menschen.

"Kommt weiter.", Maisie führte sie leichtfüßig an den Kindern vorbei in einen Flur von dem mehrere Türen abzweigten. Jede Tür war mit einer Zahl beschriftet. Vor der Tür Nummer 2 blieben sie stehen. Maisie nahm einen Schlüssel und schloss die Tür auf.

Nur widerwillig sah Kyrie in dieses in ihren Augen Hurenzimmer. Es war beunruhigend zu merken, dass ihre Vorfahrin Briana als Hure gelebt hatte und dieses Schicksal ihren Nachkommen ohne ihr Wissen vererbt hatte. Ein ewiger Kreislauf aus dem es kein Entrinnen gab. Ein breites, mit grauen Bettzeug bezogenes Bett stand in der Mitte des Zimmers.
Die Bettpfosten waren aus stabilen Metall, jedoch teilweise blank gescheuert.

Kyrie tippte auf Handschellen oder etwas ähnliches, das an diesen befestigt gewesen waren. Ein breiter Stuhl rechts neben dem Bett, auch er hatten einen Rahmen aus einfachem Metall und die Polsterung aus grauem Stoff. Der Spiegel seitlich an der Wand erweckte Kyries Misstrauen.

Er schien nicht richtig zu spiegeln und wenn sie genau hinsah, konnte sie fast einen Raum dahinter erahnen. Es gab ein Fenster gegenüber der Tür.

Das Sonnenlicht strahlte warm in den ansonsten kahlen, unpersönlichen Raum. Conrad schubste Kasimir und Kyrie hinein. Maisie verabschiedete sich und verschwand auf dem Weg den sie gekommen waren. Nun waren sie alleine mit ihrem Befehlshaber. Selbstbewusst verschränkte Conrad die Arme und stellte sich breitbeinig vor ihnen auf. In dieser Pose kamen seine Muskeln besonders gut zu Geltung, vermutlich der Grund warum er sie so oft einnahm.

"Ihr zwei habt den Befehl zur Reproduktion erhalten. Wisst ihr was das bedeutet?" Kasimir schwieg, sah eingeschüchtert zu Boden, Kyrie antwortete gekonnt selbstbewusst.

"Wir sollen ein Kind zeugen."

"Richtig. Wisst ihr wie das geht?" Keine berechtigte Frage. Jeder wurde im Biologieunterricht zwangsläufig aufgeklärt. Beide nickten sie also. Conrad seufzte erleichtert. Offenbar war er prüde und wollte das Thema nicht bearbeiten. Vielleicht hatte er es aber auch schon zu oft erklären müssen.

"Gut. Ihr werden jeden Tag nach dem Mittagessen hier sein bis ihr ein Kind gezeugt habt. Sobald dies geschehen ist, wirst du Kasimir in eine aktive Einheit versetzt. Nava, du bleibst bis zur Geburt im Reproduktionsgebäude. Danach wirst auch du einer aktiven Einheit zugeteilt."

Wieder nickten sie zum Verständnis.

"Ranghohe Offiziere und Ärzte werden während der Zeugung durch den Spiegel ein Auge auf euch haben." Kyrie hatte bis zu diesem Moment nicht wirklich zugehört, doch nun horchte sie auf.

"Was? Sie werden zuschauen während wir Sex haben?", fragte sie gleichermaßen ungläubig wie angewidert. Conrad wandte sein bebrilltes Gesicht ihr zu.

"Das ist korrekt." "Das ist doch wohl nicht Ihr ernst?!", rief sie wütend aus.

"Haben wir ein Problem, Rekrut Nava?" Kyrie warf die Hände in die Höhe und stemmte sie dann gegen ihre Hüften. Die Augenbrauen waren zusammengezogen, ihr Atem ging schwer. Ihr schöner Plan, ihr wirklich perfekter Plan würde nicht funktionieren wenn sie beobachtet wurden.

All ihre Vorbereitung, ihre Hoffnung, alles war hinüber, alles zerstört. Wenn Conrad sie dazu zwingen würde, verlöre sie die letzte Kontrolle über ihren eigenen Körper. Sie wäre tatsächlich eine Hure des Regimes.

"Oh, ja. Wir haben ein Problem. Ich werde nicht mit einem beinahe Fremden schlafen, während ein paar geile, alte Säcke hinter einer Glaswand sich einen runterholen! Ich bin keine Hure und lasse mich ganz sicher nicht zu einer machen!", schrie sie ihren Befehlshaber an. Kasimir sah sie erschrocken an.

Seine Augen hatten wieder die Form großer Spiegel. Die Furcht war auch wieder da, aber noch etwas anderes: Unsicherheit. Er war sich nicht sicher, ob er mit Kyrie Strafe riskieren, oder den Mund halten sollte. Conrad baute sich währenddessen drohend vor Kyrie auf.

"Dies ist ein Befehl, Rekrut Nava. Du wirst ihn befolgen, haben wir uns verstanden?" Für mehrere Sekunden herrschte absolute, eiskalte Stille im Raum. Niemand sprach während Kyrie und Conrad sich einem Starrwettbewerb hingaben. Als Conrad merkte, dass sie nicht klein bei geben würde, holte er mit der flachen Hand aus.

Der Schlag hörte sich wie Donner an und hatte ebendiese Wirkung im Raum. War davor schon nichts geredet worden, so versteiften sich nun auch die Körper aller Anwesenden. Jeder wusste es, spürte es, etwas schlimmes war geschehen. Mit diesem Schlag riss der letzte Faden Kyries schwindender Kontrolle. Die Wut übernahm und mit einem einzigen Wort, schleuderte sie Conrad quer durch den Raum gegen die Wand.

"Nein." Sie hob ihn telekinetisch hoch, hielt ihn fest, während er verzweifelt versucht sich aus ihrem mentalen griff zu befreien.

"Nein." Seine Brille wurde in der Luft zertrümmert und zum ersten Mal sah sie seine Augen. Schwarze Pupillen, schwarze Iris, schwarzer Glaskörper. Conrad begann schmerzverzehrt zu schreien. Das Licht im Raum schien ihm wehzutun. Kyrie hörte es kaum.

"Nein." Mit einem wütenden Aufschrei warf sie ihn noch mal gegen die gegenüberliegende Wand. Conrad rutschte von der Wand und hinterließ eine blutige Spur.

"Nava, Nava, hey. Ich weiß, das ist schlimm, aber du musst jetzt aufhören. Bitte, das bringt doch nichts." Kasimirs Stimme schien so weit weg zu sein. Seine sanften Augen waren vor Furcht geweitet, sein Mund verzehrt. Kyrie merkte, dass er nicht Angst vor Conrad haben konnte, der lag schließlich zusammengesunken am Boden, nein, er hatte Angst vor ihr. Diese Erkenntnis half ihr jedoch nicht aus der furchtbaren Rage in der sie sich befand. Kasimirs Worte zählten nicht, seine Gefühle und seine Worte richteten sich gegen sie. Er schien nicht auf ihrer Seite zu sein.

"Wieso? Wieso soll ich aufhören. Du wolltest auch was sagen, wieso bist du gegen mich? Warum willst du diesen Monstern helfen? Du hasst mich, ist es das? Oder hast du deine Meinung geändert und willst mich doch Vergewaltigen? Du bist genau wie sie!"

Der Gedanke seines Verrates machte Kyrie wild, ließ sie ihn verabscheuen und hassen.
Sie knurrte und warf Kasimir, ihren Freund, aus dem Fenster. Sie hatte nicht beabsichtig ihn dorthin zu werfen, sie wollte ihn nur aus ihrem Blick haben, aber wie immer waren ihre Gaben zu sehr mit ihren Emotionen verbunden, nahmen ihre Gefühle zu wörtlich.

Die Scherben krachten und ein langer, schmerzverzehrter Schrei war zu hören. Danach kehrte Ruhe in den Raum zurück.

Totenstille.

Immer noch in Rage drehte sie sich zur Tür und bemerkte verwirrt, dass sie alleine war. Da war niemand mehr der Ziel ihrer unbändigen Wut hätte werden können. Langsam begann sich der wütende Nebel in ihrem Kopf zu lichten.

Sie konnte wieder Denken. Etwas war da falsch, sie würde einem Freund nicht wehtun, oder? Wen hatte sie noch mal aus dem Fenster geworfen? Kasimir oder Conrad?
Nein, Conrad lag am Boden, wo war Kasimir?

Durcheinander und vorsichtig kletterte sie über das mit Scherben übersäte Bett und sah aus dem kaputten Fenster. Einen Meter unter sich sah sie ihren Freund liegen. Seine dunklen Augen sahen in den blauen Himmel. Die Gliedmaßen streckten sich zu allen Seiten aus, lagen im weichen Gras umgeben von bunten Wildblumen. Langsam sickerte sein tiefrotes Blut aus einer wunde am Hals in den weichen Erdboden. Er würde so friedlich aussehen, wäre das nicht das Rot und seine toten, leeren Augen. Aber das sah Kyrie nicht, was sie sah, waren die Blumen, die Sonne und ihr Freund, der friedvoll schlafend im Gras lag. Unbeholfen kletterte hinaus und setzte sich neben Kasimir.

Sofort saugte sich ihre Uniform mit seinem Blut voll.

"Hey, Kasimir. Schläfst du? Wenn du nicht aufwachst, kriegst du von Magenta und Conrad Ärger." Zärtlich strich sie über seine kurzen Haare, berührte die weiche Haut seines Gesichts. Stur rüttelte sie an seinen Schultern, versuchte vergeblich ihren Freund zu wecken.

"Kasimir, wach auf. Los jetzt, wir kommen zu spät."

Kyries Herz wurde schwerer als die Erkenntnis in ihren wirren Verstand sickerte. Zitternd strich sie über seine blutgetränkte Uniform, realisierte sein stummes Herz und spürte wie jegliche Wärme aus ihrem Körper verschwand. Am Rand ihres Blickfeldes konnte sie Magenta, Maisie, andere Rekruten, Offiziere und Ärzte erkennen, doch keiner von ihnen kümmerte sie.

Ihre gesamte Aufmerksamkeit lag auf dem toten Freund, dessen Leben sie beendet hatte. Der Schock dieser Tatsache raubte ihr jegliche Vernunft. Tief luft holend aktivierte sie ihre Feuergabe und lies die orangenen Flammen seufzend in Kasimirs Leiche entweichen. Die Zuschauer hielten für einen Moment den Atem an und begannen dann zu flüstern. Doch Kyrie war voll und ganz auf den jungen Mann vor ihr konzentriert.

In ihren Gedanken spielte sich sein heiteres Lachen wie auf einer kaputten Schallplatte ab. Seine Fürsorge, Ehrlichkeit und vor allem seine unerschrockene Freundlichkeit waren für immer verloren. Was würde man seiner Familie sagen, ging es Kyrie durch den Kopf. Alleine seinen Körper konnte sie vor weiteren Experimenten bewahren, er sollte frei am Himmelszelt wandern. Während seine Leiche langsam verbrannte, schwand die Kraft aus Kyries Körper. Ihre Augen wurden unfokussiert und schließlich brach sie auf der Wiese neben der Asche Kasimirs zusammen.

"Auf Wiedersehen, David. Es tut mir so leid.", flüsterte sie in den Wind während eine einzelne Träne ihrem Auge entfloh und damit Schwärze über sie hereinbrach.


Bemerkung von Autorin: Das war kein einfaches Kapitel. Ich hab lange mit mir gehadert was aus Kasimir werden sollte. Ich hoffe, ihr seid nicht zu traurig über sein dahinscheiden. Liebe Grüße LM

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