10. Kein Entrinnen

Liebe Sandrine,

es tut mir leid, das ich dir nicht Lebwohl sagen konnte.
Lothars Männer haben mich praktisch aus dem Bett gezehrt. Ich bin nun Rekrut in einer Kaserne und lerne ein guter Soldat zu werden.
Keine Sorge, ich bin nicht der jüngste. Es gibt auch Jungs die noch vierzehn sind. Da bin ich mit meinen fünfzehn Jahren praktisch ein Mann.
Jeden Tag lerne ich zu kämpfen und zu überleben. Es ist nicht leicht.
Ich vermisse Briana und Dimitri sehr. Sagst du meiner Nichte und Neffen, wie lieb ich sie hab? Wie geht es Klara, ist deine jüngste endlich wieder gesund?
Ich wünschte, ich wäre bei dir und könnte helfen.
An der Front erzählt man sich dass, Nelenia in ein Kloster gebracht wurde.
Sie sagen, dass unsere Schwester ein Kind erwartet.
Ob das Baby ihre Fähigkeiten besitzt? Irgendwie hoffe ich nicht.
Nun da ich den Krieg miterlebe, finde ich ihn nicht besonders gut.
Ich wünsche Nelenia eine Pause von all dem.
Ich schicke dir all meine Liebe und einen dicken Kuss an deine wunderbaren Kinder.
In liebe John Henotello

Kyrie schrie. Sie schrie seit Stunden, Tagen, Wochen. Seit einer Ewigkeit und einer Minute. Zeit war nur eine Illusion.
Schweißdurchtränkt lag sie auf der plattgetretenen Erde. Eine einzelne nackte Glühbirne erleuchtete den kleinen Raum. Es gab keine Möbel, bloß Folterwerkzeuge, verteilt an den Wänden hängend. Susette stand über ihr, eine bluttriefende Axt in den Händen, ein erregtes Glitzern in den Augen.

"Deine gespielte Unterwürfigkeit kannst du dir hier sparen."

Noch einmal holte die Frau aus und traf erneut Kyries Oberschenkel. Mit einem furchtbaren knackenden Geräusch und einem entsetzlichen Schrei gab der Knochen nach. Das Blut spritze in einem hohen Bogen auf Susettes schwarze Kleidung. Es schien sie nicht zu stören.

Verzweifelt einer Ohnmacht nahe versuchte Kyrie wegzukriechen, obwohl sie wusste das es sinnlos war. Susette hielt sie in einem Telepathischen Gefängnis gefangen, der einzige Weg zu entkommen war Susettes Einwilligung oder ihr Tod. Bis dahin konnte diese Wahnsinnige alles mit ihrem Verstand tun was sie wollte, während ihr Ehemann alles andere mit ihrem Körper anstellen konnte. Es gab kein Entrinnen. Schon vor gefühlten Wochen, war ihr dies klargeworden, sie versuchte nur noch die Schmerzen in einem erträglichen maß zu halten.
Wenn Susette etwas verlangte, widersprach sie nicht mehr, sie versuchte auch nicht mehr sich zu wehren.

Der Kampfgeist war ihr mitsamt den Fingern, Haaren und einem Auge abgetrennt worden.

"So nun reden wir mal über Meister Bärenstein und deine Gefühle zu ihm.", meinte Susette und kickte Kyries abgetrenntes Bein zur Seite.

Mit einem klatschenden Geräusch schlug es gegen die dreckigen Wände der Holzhütte. Kyrie atmete flach durch die Nase, hielt sich mit aller Kraft bei Bewusstsein während ihr Blut durch den Beinstumpf auf die Erde floss.
Sollte sie ohnmächtig werden, würde Susette sie aufwecken und wütend wieder Schmerzen folgen lassen.

"Ich stehe loyal zu Bärenstein.", presste Kyrie zittrig hervor. Ein Satz den ihr ihre Folterin in jede Minute ihres Aufenthaltes eingebläut hatte, so oft, dass Kyrie sich nicht mehr sicher war, ob er der Wahrheit entsprach oder doch eine Lüge war. Allerdings konnte sie dies bei den meisten Erinnerungen und Gefühlen nicht mehr sagen. All ihre Gedanken waren durchzogen von Schmerz und Unglaube über ihr Schicksal. Susette lächelte, hockte sich vor das verstümmelte Mädchen, strich ihm liebevoll über den Kopf.

"Das höre ich gerne. Meister Bärenstein wird es noch mehr freuen. Weißt du, du bist zäher als die meisten. Hältst viel aus, aber das wusste ich sofort als du Nathans Anziehung widerstanden hast. Nur jemand mit Willensstärke würde das schaffen."

Kyie holte rasselnd Luft, behielt Susette im Blick. Diese rutschte näher, zwang sich neben Kyrie und legte ihre Hand um Kyries blutüberströmte Schulter. In der Berührung lag beinahe so etwas wie Freundlichkeit, als wären sie alte Freunde, Schwestern, die sich nach einem langen Tag Geheimnisse erzählten.

"Ich denke wir sind endlich an einem Punkt angelangt, an dem du mir offen und ehrlich die Wahrheit erzählen willst, nicht wahr? Du willst doch das der Schmerz aufhört. Ich kann dafür sorgen, dass alles wieder gut wird."

Susettes Lächeln war das einer Vertrauten, das boshafte Glitzern, dass während vieler Stunden Folterung in ihren Augen zu sehen war, schien nun verschwunden. Zögerlich nickte Kyrie, versuchte mit dem verbliebenen Zeigfinger ihrer rechten Hand, eine Strähne aus dem Gesicht zu wischen.
Vergebens.
Susette half ihr und nahm die letzte Haarsträhne auf dem ansonsten kahlen Schädel und strich sie hinter Kyries Ohr.

"Also, was willst du mir sagen, Kind?"

"Ich stehe loyal zu Bärenstein."

"Und?" Kyrie schluckte.

"Ich.....ich...ich werde alles tun um meiner neuen Familie zu helfen."

"Richtig. Sehr gut. Irgendwelche Geheimnisse, die du gerne loswerden möchtest? Du weißt doch, du kannst mir vertrauen. Du möchtest doch deiner Familie nichts vorenthalten."

Kyries Gedanken waren so langsam, alles erschien ihr unglaublich schwer zu begreifen. Die Schmerzen waren überwältigend. Die Angst versteinernd. Sie machte den Mund auf, wollte Susette alles erzählen, über ihre Gaben und Brandons Verlangen zur Rebellion zu gehen. Wollte nur dass es endlich aufhörte.

Aber kein Laut drang aus ihrer trockenen Kehle.

Zitternd erzählte sie Lügen und Halbwahrheiten. Zum großen Teil, wusste sie nicht einmal was sie da sagte, dachte nur daran Susette zu geben was sie wollte. Also berichtete sie von kleineren Diebstählen auf die sie nicht stolz war und dem Davonschleichen in der Nacht.
Sie erzählte von gestohlenen Küssen eines älteren Mannes und den Schlägen ihrer Mutter. Letzeres fiel ihr besonders schwer, doch damit schien sie Susettes Anforderungen endlich zu genügen.

"Das hast du gut gemacht, Kyrilla. Du warst so ein gutes Mädchen, hast mir viel Freude bereitet. Leider ist es nun an der Zeit aufzuwachen."

Susettes Gestalt verschwand mit diesen Worten, ließ Kyrie in ihrem Schmerz alleine. Verängstigt, der Ohnmacht nahe, sah sie sich in der kalten, dunklen Hütte um. Sie konnte Susettes Worten, keinen Glauben schenken, unmöglich, viel zu sehr hatte sie sich an Hunger, Angst und Schrecken gewöhnt. Sie kämpfte gegen die Müdigkeit an, doch am Ende konnte sie sich gegen ihre schweren Lieder nicht wehren.

Sie schloss die Augen, hoffte wenn sie sie wieder öffnete, ihr Zimmer Zuhause zu sehen. Stattdessen öffnete sie die Augen und starrte auf eine himmelblaue Decke. Verwirrt setzte sie sich auf und bemerkte rote Striemen an ihren Handgelenken.
Was war da geschehen?
Sie suchte in ihren Erinnerungen nach dem Grund für die Striemen und ihrer Position auf der Bank. War sie nicht zuvor auf einem Sessel gesessen?

"Du bist du ja endlich. Dachte schon du wachst nicht mehr auf." Ruckartig wandte sie sich der Stimme zu, Susette stand neben der Bank.

Bis auf dunkle Augenringe und ein paar Falten in ihrem Rock sah sie noch genauso aus wie zuvor. Nicht ein Tropfen Kyries Blut war auf ihrem Körper zu sehen. Nathan stand neben ihr. Auch er hatte sich nicht verändert. Verwirrt strich Kyrie über ihre Arme, versuchte die geistigen Verletzungen nachzufühlen, doch mit ihrem Körper war alles in Ordnung. Sie räusperte sich.

"Wie lange war ich dort?", ihre Kehle fühlte sich heißer an.

Sie musste geschrien haben.

"Etwa drei Stunden. Fühlt sich wie eine Ewigkeit an, nicht wahr? Das ist das Schöne an einem telepathischen Gefängnis, wir können euch neue Rekruten an den Rand des Wahnsinns treiben und sehen was eure Persönlichkeit wirklich ausmacht ohne dabei wertvolle Zeit zu verlieren."

"Und was macht mich aus?", flüsterte Kyrie mit Blick auf ihre wunden Handgelenke.

Susette trat näher, senkte die Stimme zu einem verheißungsvollen Flüstern.

"Stärke und Macht. Da ist noch viel mehr in dir Kyrie. Ich hoffe, ich werde deine volle Macht miterleben. Nun steh auf."

Viel zu schnell kam sie der Forderung nach. Angst raste durch ihren Körper, dieselbe Angst, die sie auch in dem telepathischen Gefängnis empfunden hatte.

"Was empfindest du für Meister Bärenstein."

Nicht eine Sekunde zögerte Kyrie.

"Ich stehe loyal zu Meister Bärenstein."

Ihre eigene monotone, gefühlslose Stimme erzeugte Gänsehaut auf der ohnehin empfindlichen Haut. Susette nickte zufrieden und holte Kyries Akte noch einmal hervor. Diese wiederrum versuchte herauszufinden, woher dieser Satz gekommen war. Sie hatte nicht einmal überlegt. Schockiert begriff sie das Susette sie während der Folterstunden einer Konditionierung unterzogen hatte. Eine oberflächliche Konditionierung, doch eine die neue Rekruten während der militärischen Ausbildung sicherlich in Reih und Glied hielt.

Kyrie hatte nicht einmal mehr die Kraft wütend zu werden, sie fühlte sich um Jahre gealtert, verletzt und erschöpft. Ihre Gedanken waren so leer wie ihr Herz. Susette reichte ihr eine Kette mit zwei flachen metallstücken.

Die Hundemarke eines Soldaten.

"Das gehört dir. Leg die Kette niemals ab, verstanden? Blutgruppe, Fähigkeit und dein Name. Ab jetzt gehörst du zu uns. Gratuliere."

Mit kalten Fingern drehte sie die Metallstücke in ihrer Handfläche laß langsam die eingravierten Daten. Der Name war nicht ihrer und aus irgendeinem Grund konnte sie nicht verstehen warum. Susette bemerkte ihren verwirrten Gesichtsausdruck, nahm ihr die Kette ab und hängte sie ihr um den Hals.

"Keine Sorge, Nava ruhe dich erst mal aus, dann wirst du alles verstehen." Kyrie nickte und ließ sich zur Tür schieben. Nathan öffnete sie und drückte ihr zum Abschied noch einen Kuss auf die Wange. Zu perplex um sich zu wehren folgte sie einfach Susettes Anweisungen und verließ den Raum. Mit einem Knall fiel die blaue Tür ins Schloss.

Ein Mann wartete schon auf sie. Seine grünen Augen sahen sie mitleidig an. Sie kannte ihn, das wusste sie genau.

Woher kannte sie ihn bloß?

Frustriert suchte sie in ihrem erschöpfen Verstand nach seinem Namen.
Zeus, nein Lewis, oder doch Zeus? War ihr Name Kyrie oder Nava?

Vorsichtig trat der Mann näher, nahm die Kette zwischen seine Finger und laß den Namen, ihren neuen Namen. Traurig lächelte er.

"Hallo Nava. Ich bin Lewis. Ich bringe dich zu deinem Bett, dort kannst du dich etwas ausruhen."

Zögerlich nickte sie. Zeus nahm ihren Ellbogen und führte sie davon.
Zurück blieb nur der Gedanke an ein unschuldiges Mädchen.

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