Überraschungsgast
Noch vor der Tür begegne ich meinen Eltern. Mama beugt sich zu Papa herab und zupft an seinem Jackenkragen herum. Neu, bemerke ich. Das hat sie vor dem Unfall nicht gemacht. Er schlägt schmunzelnd ihre Hand weg und zwinkert mir an ihrem Wintermantel vorbei zu.
Als wir im vierten Stock ankommen, stelle ich fest, dass die Treppen schneller sind als der uralte Aufzug. Ich habe allerdings auch nur eine kleine Tüte mit Geschenken mit: Je eins für die drei Kinder und dann das Zeug fürs Wichteln. Mama und Papa überhäufen ihre Enkel natürlich mit Geschenken und balancieren noch eine Plätzchenplatte auf Papas Schoß bis nach oben. Also ja: Die Treppen gehen schneller. Wenn man nicht wie er seit dem blöden Unfall im Rollstuhl sitzt.
Papa nimmt es gelassen und ich denke, dass er wirklich Glück hat, so ein lebensfrohes Naturell zu besitzen. Und wir auch, denn ohne seine selbstironischen Späße und das ungewohnte Herunterblicken könnte man sein Handicap glatt vergessen.
„Oh, da seid ihr ja! Kommt rein, kommt rein!" Vicky reißt die Tür auf, ihre Wangen erhitzt, die elegante Frisur bereits ein bisschen entrückt. Weihnachten mit Kindern ist anstrengender als ohne, das weiß ich noch vom letzten Jahr. Im Grunde feiern wir in der Drei-Zimmer-Wohnung meiner Schwester, seit die Zwillinge auf der Welt sind. Sie sind jetzt etwas über zwei Jahre alt, das macht es also zum dritten Weihnachtsfest im vierten Stock.
Von innen tönt uns bereits Kindergezank entgegen. „MIKE! NIMM OMA MAL DIE KEKSE AB!", brüllt Vicky, als ich mir gerade direkt neben ihr die Schuhe von den Füßen streife. Ich platziere sie so ordentlich wie möglich neben den durcheinandergefallenen Gummistiefeln der Kinder und reihe die kurzentschlossen auch wieder auf. Als ich vor Oma und Opa (der Wechsel von Mama und Papa zu Oma und Opa vollzieht sich rasant in meinem Denken) das Wohnzimmer betrete, verharren die Zwillinge in ihrem Spiel und starren mich an. Elias macht einen Schritt rückwärts und Nicole rennt zum Sofa und schmeißt sich in die Kissen: Sicherheitszone.
Ich winke ihnen zu und rufe eine Begrüßung in den Raum hinein. Ich bin ihre Vorsicht gewohnt. Immerhin sehe ich die beiden nicht halb so oft, wie ich es mir wünschen würde, und mein dichter Bart macht mich wohl irgendwie furchteinflößend. Elias winkt zögerlich zurück: „Ha-o Ontel Mar!" Angestachelt vom Mut ihres Bruders wiederholt nun Nicole seine Worte: „Hallo Onke Marc!" Einzig ohne Vorbehalte grüßt mich Hilda, als ich mich über ihre Wiege beuge. Friedlich liegt sie darin, sabbert die Spitze der einen geringelten Socke an, die sie trägt. Der andere Fuß ist nackt und wird sogleich von meinen Fingern gefangen genommen und gestreichelt. „Hallo, du Liebe.", raune ich herunter. Sie grinst zahnlos zurück.
Als der Plätzchenteller vor Allem noch Krümel und nicht gewollte Rosinen beherbergt, klopft es dreimal an die Wohnungstür. Irritiert blicke ich zu den Gastgebern, die die Reaktion der Zweijährigen abzuwarten scheinen. Auch Oma und Opa tragen Schmunzeln auf ihren Lippen. Wird noch ein Gast erwartet und ich wurde nicht eingeweiht? „Wer kann das denn sein?", spricht Vicky meine Gedanken aus, klingt dabei aber, als wisse sie Bescheid und wolle ihren Kindern bloß die richtige Antwort entlocken. „Wei-hak-mam!", brummt Elias an ein paar Marzipankartoffeln vorbei, die sich in seinem Mund vereint zu haben scheinen. „Falsch!", brüllt Nicole und korrigiert: „Weih-nachten-mann!"
Noch immer nicht schlauer verfolge ich die Schritte meiner Schwester in den Wohnungsflur, wo sie hinter der Garderobe für mich unsichtbar wird. Elias und Nicky (Wie schön die Namen Victoria und Nicole doch zusammenpassen, hatten sich die Eltern gedacht und sich dann mit reimenden Spitznamen wiedergefunden) springen von ihren Stühlen herunter und flitzen stolpernd hinterher, nur um dann respektvoll in den Türrahmen gedrückt stehen zu bleiben. Erwarten sie tatsächlich einen Weihnachtsmann? Und wieso scheinen alle vorher ein Memo über dessen Eintreffen bekommen zu haben nur ich nicht?
„Ho, ho, ho!", dröhnt es aus dem Flur und ein synchrones Zucken geht durch die kleinen Körper der Zweijährigen. Eine rote Farbwand wird kurz sichtbar und dann steht er im Wohnzimmer, zweifellos: Der Weihnachtsmann. Rote Mütze, roter Mantel, schwere Stiefel. Er umfasst mit einer – nicht ganz ins Bild passend – unbehandschuhten Hand die Schnürung eines Sackes, der prall und schwer neben ihm auf dem Boden ruht. Sein Blick huscht durch den Raum, zum Tisch, an dem Oma, Opa und ich sitzen. Er sieht ein bisschen hilflos aus, bevor er in seinen Bauch atmet und die Kinder begrüßt.
Sein Bauch ist beachtlich. Er scheint ein paar Kissen vertilgt zu haben, bevor er sich auf den Weg gemacht hat, und die liegen ihm nun schwer im Magen, beulen den Mantel inhomogen aus. Ein dicker Gürtel schnürt ihn zusätzlich ein, den Armen. Nicky und Elias machen sich nichts aus diesen kleinen Abweichungen von der makellosen Erwartung und staunen den Mann aus gebührendem Abstand an. Sein Bart ist schließlich länger als der ihres Onkels und damit logischer Weise auch furchteinflößender.
Während die beiden nach und nach auftauen und sich Geschenke aus dem mitgebrachten Beutel anreichen lassen, kleidet mein Verstand die Frage, um wen es sich handeln könnte, mit Spekulationen aus. Ein Freund von Mike womöglich, kinderlos, der gleich wieder aufbrechen wird, um sein spätes Erwachsenen-Weihnachten zu feiern. Es könnte sogar ein gebuchter Schauspieler sein, wie ein Partyclown. Vielleicht ein Nicht-Christ, für den dieser Tag ein Arbeitstag wie jeder andere ist.
Als Nicky und Elias das Lego-Duplo-Set gemeinsam aus seiner Geschenkverpackung befreien, bricht ein Streit los. Mike stupst mich an, drückt mir das Baby auf den Arm, und regelt das. Ich schaue zu Hilda herunter und lächle. Ihr scheint der ganze Trubel egal zu sein, sogar eine gewisse Freude in ihr auszulösen. Das sonst so schwierige Baby, das meiner Schwester und ihrem Mann den Schlaf raubt, ist im Angesicht von fremdem Weihnachtsmann und Besitzanspruch-Gezanke wunschlos glücklich. Nur ihre Socke fehlt noch immer und das gibt mir Rätsel auf. Wieso hat sie noch niemand gesucht und ihr wieder über den Fuß gestülpt? Wo ist sie zuletzt gesehen worden? Und wieso ist ihr weiches Babyfüßchen immer noch so angenehm warm?
Der Weihnachtsmann lässt sich auf den freigewordenen Stuhl neben mit plumpsen. Er ächzt wie ein alter Mann, doch das kann ich ihm ob der warmen Verkleidung nicht verdenken. Die Großen scheinen gerade Omas und Opas Päckchen auszupacken. Gleich werden die Zähne geputzt und ab geht es ins Bett. Morgen wird dann mit der reichen Ausbeute gespielt.
Der Weihnachtsmann – ein Mysterium, dass die Geschenke so viel spannender sind als diese Sagengestalt – ist längst vergessen, obwohl noch gut sichtbar rot leuchtend im gleichen Raum. Nun hat auch Hilda ihn erblickt und streckt ihre Hände in seine Richtung aus. Ich denke, vielleicht müsste ich ihn jetzt begrüßen, nachdem dazu vorhin keine Zeit war, und in Erfahrung bringen, wer er ist, doch ein wenig will ich die Unwissenheit noch auskosten.
Er greift nach einem der letzten Ingwertaler (die bei den Kindern nicht ganz so beliebt waren, allerdings meine absoluten Favoriten sind) und beißt davon ab. Mit einem erschöpften Seufzen sackt er in sich zusammen.
Nicht einfach nur ein Job, denke ich. Weihnachten bedeutet ihm etwas – an Weihnachten Kindern eine Freude zu machen bedeutet ihm etwas, doch für sich selbst verspricht er sich in diesem Jahr nichts von dem Fest. Er wirkt resigniert, enttäuscht, und als hätte er das Fest gänzlich anders für sich erwartet.
Hilda reckt sich noch immer dem Mann im Mantel entgegen und fängt an, verlangend zu quengeln. Unsicher räuspere ich mich und blicke dem Weihnachtsmann in die erstaunlich blauen Augen. Nicht einmal sein Alter kann ich erkennen: sehe unter Mütze und Bart nur Augen, Nase und Wangen. Jünger als meine Eltern, finde ich, aber weiter eingrenzen lässt es sich nicht.
„Ähm, ich glaube, sie will mal zu dir...", äußere ich meine Befürchtung und sehe die blauen Augen ganz kurz hell aufflackern, als sie auf das Baby fokussieren. Er streckt seine Arme ebenfalls zu ihr aus – die Hände, bemerke ich, sehen eher jung aus – und hebt sie auf den weich gepolsterten Bauch. Hilda gluckst und krallt sich in das weiße Barthaar, neben dem, wie ich nun erkenne, auch Klebstoff aus der Kinnpartie des Weihnachtsmannes sprießt. Seine Augen weiten sich erschrocken, als das kleine Wesen an dem Verkleidungsutensil zieht. Schon löst sich die Bartattrappe auf einer Seite seines Kiefers. Mit einem prüfenden Blick in Richtung der endlich gähnenden Geschwister befreie ich mühselig Hildas winzige Finger aus den Haarsträngen und hebe sie zurück auf meinen Schoß. Dann strecke ich eine Hand aus und drücke den Bart über dem glattrasierte Kinn darunter wieder fest. Der Fremde schenkt mir ein müdes Lächeln.
Als die Kinder schlafen, sitzen nur noch die Großen erwartungsvoll um den Tisch. Wichteln. Ich denke mit leichtem Unwohlsein an die zwei Päckchen, die noch in dem Leinenbeutel neben meinem Stuhl ruhen. Das eigentliche Wichtelgeschenk kam mir für Mike dann doch etwas zu gewagt vor und aus Unsicherheit habe ich ein Zweites besorgt: Einen dunkelblauen Kaschmirschal. Wenn ich erst austesten könnte, welcher Art die Geschenke der anderen sind, könnte ich spontan entscheiden, dachte ich. Nun sitzt der Weihnachtsmann (noch immer anwesend, mittlerweile jedoch ein paar Schichten schlanker und gänzlich bartlos) neben mir und ist beim Wichteln nicht mit eingeplant. Der Arme, denke ich, er hätte sich für seine Mühen an diesem für ihn enttäuschenden Abend ein kleines Geschenk verdient. Könnte ich Mike sein angedachtes Geschenk überreichen, bliebe der Schal besitzerlos und würde sicherlich gut zu den traurigen, blauen Augen passen.
Mama beginnt: Sie bekommt von Papa irgendein Gartenwerkzeug, das sie sich gewünscht hat. Papa bekommt von Mike einen Bastelkalender voller Fotos von den Enkeln. Die Freude bei den Großeltern ist groß. Als dann auch Vicky irgendetwas vorhersehbar langweiliges auswickelt, greife ich leicht enttäuscht nach dem Notfall-Schal-Geschenk. Genau der Weihnachtsmann, der kein Geschenk bekommen wird, verwickelt mich in dem Moment in ein Gespräch. So schaue ich erst wieder auf, als Mike sich mit hochrotem Kopf räuspert und mir meinen Fehlgriff bewusst macht. Leicht beschämt blicke ich zu meinen kichernden Eltern, dann zu meinem nach wie vor unbekannten Sitznachbarn, der mir verschwörerisch zuzwinkert. Gerade so, als habe er mich absichtlich abgelenkt.
Dann bin ich an der Reihe, Vicky reicht mir ein zylinderförmiges Päckchen herüber. Sie nagt an ihrer Unterlippe herum, als ich die Klebestreifen vom bunten Papier löse. Eine Tasse voll weiterer Ingerplätzchen wird sichtbar, dazwischen eine Karte. Als erstes ziehe ich jedoch etwas anderes hervor, das sich in das Geschenk verirrt hat, und muss lachen. „Ich glaube, das Geschenk ist gar nicht für mich gedacht!", gebe ich von mir und präsentiere die winzige geringelte Socke.
Die Karte – eindeutig nicht an das Baby gerichtet - enthält einen Gutschein für das Skydiving, das ich unbedingt ausprobieren wollte. Schon lange haben Papa und ich davon geredet, es jedoch nie in die Tat umgesetzt. Ich schaue mir die Konditionen des Geschenks genauer an und merke, es ist ein Gutschein für zwei. Perfekt also für Papa und mich, wie ursprünglich geplant, wäre da nicht seine plötzliche Gehbehinderung.
„Ich dachte eigentlich erst, ihr könntet zusammen hingehen, aber du findest bestimmt jemand anderen...", erklärt Vicky mit Blick zu Papa. Papa lächelt sie an mit dieser puren Ruhe, die er verströmt, und gibt ihr damit zu verstehen, dass er nicht traurig über dieses Versäumnis sein wird. Und für einen Moment spüre ich in seinem Blick und daraufhin auch in ihrem, dass Weihnachten ist. Dass vielleicht immer ein bisschen Weihnachten ist, wenn wir so zusammen sind, als Familie.
Ich bedanke mich überschwänglich bei meiner Schwester, denke, ich könnte ja sie einladen, mitzukommen, doch offenbar sind die Frauen unserer Familie genetisch vorbelastet für die Angst vor alles in wackeliger Höhe.
Noch ein wenig später wird eine Runde Karten gespielt, der Weihnachtsmann unverändert zu meiner Rechten, die neuerlich aufgedeckten Ingwertaler beinahe verputzt und das übrig gebliebene Notfallgeschenk schwer in meinem Hinterkopf. Beide strecken wir gleichzeitig die Hände nach dem letzten Ingwerplätzchen aus. Er überlässt es mir höflich und ich erwidere aus einem Impuls heraus: „Weihnachtsmann, gehst du nächstes Jahr mit mir Skydiven?"
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