Strichliste
„Hey, Süßer, Lust zu tanzen?" Ich grinse den Fremden an und setze bereits den dritten Strich auf meine imaginäre Liste. Ich habe Jan versprochen, dass wir nach drei Strichen gehen können, aber irgendwie will ich das Gefühl noch nicht missen. Er versteht das, hat er gesagt, aber der säuerliche Blick mit dem er zur Bar aufgebrochen ist, um mich für einen Moment freizugeben, sagt etwas anderes.
Der Fremde fährt bereits seine Arme aus, um sie auf meiner Hüfte abzulegen, und ich weiche zurück. Ich brauche nicht einmal sein Gesicht oder seinen Körper abzuscannen, ehe ich ihm eine Abfuhr erteile. Es ist mir egal, ob er mir gefallen könnte. Er ist nur ein Strich auf meiner Liste, dient der Bestätigung einer Hoffnung.
„Du brauchst das doch nicht, du bist perfekt", hat Jan gesagt. Ich habe versucht, es ihm zu erklären. Es geht nicht darum, dass ich schön gefunden werden will. Das will ich nur von ihm. Aber ich will endlich wissen, ob es geklappt hat. Ob sie das in mir sehen, was ich in mir gesehen haben will.
Er hat ein paar Mal geseufzt und mir diesen Club vorgeschlagen. Nun ist es bereits ein paar Minuten her, dass er aufgebrochen ist, um uns mit Getränken zu versorgen, und ich tanze immer noch.
Eine Präsenz schmiegt sich an meinen Rücken, erst spüre ich die Hitze, dann die tatsächliche Reibung von Stoff auf Stoff. Ist Jan schon zurück? Doch er riecht nicht nach Jan.
„Ich hab dich schon beobachtet, Hübscher." Ich schüttele seinen süßlich alkoholischen Atem ab und mache einen großen Schritt von ihm weg. Trotz der unangenehmen Aufdringlichkeit lächle ich. „Ich bin in Begleitung.", erkläre ich, zucke entschuldigend die Schultern. Er verdreht die Augen und zieht ab.
Ich hätte nicht gedacht, dass es so leicht wird. Dass ich vielleicht ein, zwei Mal angesprochen werde, darum war mein Ziel so niedrig gesteckt. Dass bereits nach einer halben Stunde das Ziel erreicht ist und ich das Gefühl noch nicht müde bin, habe ich nicht erwartet.
Mein Blick fliegt suchend Richtung Bar und erhascht einen blonden Lockenschopf, darunter ist über die Menge der Tanzenden ein Stück seines grünen Shirts sichtbar. Er hebt ein Getränk an seinen Mund, schluckt, bewegt sie Lippen, als unterhalte er sich. Auf der anderen Seite ein Barmann im Muscleshirt, der immer wieder nach dem Abfertigen der Bestellungen zu ihm zurückkehrt.
Ich runzle die Stirn und halte auf die Szene zu, die ich beobachte. Wieso unterhält sich Jan mit dem Barmann? Wieso kommt er nicht zurück und tanzt mit mir?
Mir wird der Weg versperrt, knallblaue Augen bohren sich in meine. „Komm, ich geb' dir einen Drink aus!", ruft der Blauäugige über die laute Musik. Mein Schmunzeln kommt halbherzig. Ja, schön, es stimmt: Meine Wirkung erzielt den gewünschten Effekt. Keiner zweifelt mehr an meiner Männlichkeit. Aber was spielt das für eine Rolle, wenn es Jan egal ist? Wenn er sich lieber mit dem Barmann unterhält? Immerhin ist mein Ziel längst erreicht, wir können gehen! Will er das überhaupt noch?
Ich versuche, um den Jungen, der mir die Sicht nimmt, herumzuschauen, aber was ich sehe, dämpft mein Hochgefühl nur noch mehr. Der Barmann lacht. Jan auch.
„Komm schon, du kannst dir was aussuchen, Baby!" Kurz lenkt der Fremde mich ab, dann gehe ich einfach um ihn herum in Richtung der Bar.
Nur... Jan ist verschwunden.
Irritiert suche ich die Umgebung ab, er kann nicht weit gekommen sein. Aber er ist nicht zu sehen und ich werde langsam nervös. Wir haben unsere Handys an der Garderobe abgegeben. Immerhin wollten wir zu zweit in den Club und würden bald wieder gehen. Wenn ich ihn jetzt nicht wiederfinde, kann ich ihn nicht erreichen. Ist er schon bei der Garderobe und will draußen auf mich warten?
Das würde zu ihm passen, nur was ist mit dem Barmann, mit dem er sich so toll unterhalten hat? Vielleicht weiß der, wohin Jan wollte.
Entschlossen gehe ich auf den Tresen zu und suche nach dem Dunkelhaarigen, der meinen Freund eben noch bedient hat. Als ich ihn nicht erblicke, ploppt ein grässliches Szenario vor meinem inneren Auge auf. Jan, der Barmann, das Hinterzimmer. Hektisch fliegt mein Blick umher, Jans auffällige Locken müssten doch irgendwo durch die Menge blitzen. Er ist größer als die meisten und...
„Suchst du irgendwen, Schätzchen?" Irgendjemand haucht mir mit tiefer Stimme von hinten ins Ohr und ich habe nicht einmal mehr den Nerv zu überlegen, ob es Nummer fünf oder sechs auf der Liste ist. Ich will doch nur Jan wiederfinden. Alleine und bekleidet und genauso grummelig, wie er mich verlassen hat.
„Ich habe einen Freund!", rufe ich ungehalten, mache mir nicht die Mühe, mich zu dem anderen Mann umzudrehen. „Jammerschade, du gefällst mir." Er will einfach nicht verschwinden. „Ich wette, du machst dich wunderbar in unserem Schlafzimmer..."
Das Possesivpronomen lässt mich dann doch herumschnellen. Erleichtert falle ich meinem Freund um den Hals und ziehe ihn in Windeseile in Richtung der Garderoben.
„Hat also alles geklappt?", erkundigt er sich und drückt meine Hand, als wir endlich wieder frische Nachtluft atmen.
„Ich konnte nichtmal mehr mitzählen.", behaupte ich und lache über seinen bestürzten Ausdruck. Dann knufft er mich in die Seite und lacht. „Du Luder! Wehe, ich muss sowas nochmal über mich ergehen lassen!"
Kurz mustere ich sein Gesicht von der Seite. Über sich ergehen lassen? Ja, okay, ich habe mich ganz bewusst von anderen Männern anflirten lassen, bin aber auf keinerlei Avancen eingegangen. Während er mit dem Barmann shakern musste. Sind wir dann nicht jetzt quitt?
„Danke.", flüstere ich, meine Eifersucht vorerst beiseite lassend.
Jan zuckt unbeeindruckt die Schultern. „Ich hab dir gesagt, wir müssen nicht lang bleiben, damit du deinen Beweis hast."
Ich nicke ergeben. So sehr ich diesen neuen Körper liebe, kann ich doch die Selbstzweifel noch nicht ganz abschütteln. Es verleiht mir ein himmelhochjauchzendes Hochgefühl, endlich ganz ich sein zu können.
Aber alle, die mir bezeugen wollen, dass man keinen Unterschied zu anderen Männern bemerkt, wissen von meiner Lebensgeschichte. Ich brauchte die Bestätigung von Fremden, die Sicherheit, dass ich jetzt wirklich ganz angekommen bin. Dass alle sehen können, wer ich bin.
„Was machst du jetzt mit deiner Liste?", fragt Jan und schließt die Wohnungstür auf. „Welche Liste?", frage ich zurück, schließlich existieren die Striche nur in meinem Kopf. „Naja, musst du es dir nicht aufschreiben oder..." Ich hebe in übertriebener Geste die Arme und zerreiße den imaginären Notizzettel im Raum zwischen unseren Körpern. Als er mit sichtbarer Erleichterung auflacht, ziehe ich ihn in meine Arme und verkünde: „Jetzt zählt für mich nur einer."
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top