Meet cute

„Okay, wir brauchen eine Geschichte."

Irritiert sieht Fabian zu Victor herüber, dessen Blick noch auf den sinnlosen Actionstreifen im Fernsehen gerichtet ist. „Eine Geschichte?" Er kommt nicht darauf, an welche vorangegangene Unterhaltung Victor anknüpft. Selbst nach zwanzig Jahren nicht und das macht der beste Freund schon immer.

„Na, wenn du mitkommst und bei der Hochzeit meinen Freund spielst, werden sie uns fragen, woher wir uns kennen. Wenn wir dann keine Geschichte haben und uns verraten, muss ich wieder stundenlang Glorias Geflirte ertragen und genau das will ich ja umgehen."

Fabian nickt langsam. Klar, ja, eine Geschichte für ihre erfundene Beziehung.

„Wir sagen einfach, wir haben uns über Freunde kennengelernt?", schlägt er vor. Victor seufzt auf, als habe Fabian den Ernst der Lage nicht verstanden. „Klar, wir sagen einfach, wir haben uns über Freunde kennengelernt. Was ist das denn für eine Geschichte? Das kaufen die uns doch nie ab. Wo sind da die peinlichen Details? Lügen muss man ausschmücken."

Nun seufzt Fabian. Da erklärt er sich bereit, Victor diesen riesigen Gefallen zu tun (nicht, dass es ihm viel ausmachen würde, aber das weiß der ja nicht) und der Freund rückt nicht einen Millimeter von seinen hohen Ansprüchen ab. „Gut.", entscheidet Fabian, „Dann denk du dir doch was aus."

Und plötzlich ist Victor mit seiner vollen Aufmerksamkeit im Gespräch. Er guckt nicht mal hin, als auf dem Bildschein ein Fabrikgebäude explodiert und die uralten Lautsprecher bei dem Krach fast nachgeben. „Also, wie wär's:", fängt er an, „Wir haben uns bei einer Kostümparty getroffen. Du warst als Jäger verkleidet und ich als Reh. Das ist doch witzig, oder?"

Fabian verzieht unglücklich das Gesicht. Das soll besser sein, als sich über Freunde kennenzulernen? Was für eine blödsinnige Geschichte. Und das sagt er Victor auch. „Das macht ja mal überhaupt keinen Sinn. Erstens Mal passt das so herum überhaupt nicht zu unserer Beziehungsdynamik-" Victor unterbricht ihn mit in der Luft herumstocherndem Zeigefinger. „Darum ist es ja so witzig." „Und zweitens", betont Fabian, „Hättest du – Mister Wir-müssen-die-Welt-retten-Veganer – mich niemals angesprochen, hätte ich in einem Jäger-Kostüm gesteckt."

Victor zuckt die Schultern, das scheint er einzusehen. Immerhin kennen die meisten Leute auf der Hochzeit ihn ganz gut. Familie und so. „Aber die echten Kostüme von der Party können wir nicht verwenden für die Geschichte. Harry und Ron waren sowas von offensichtlich gemeinsam geplant."

Jetzt muss Fabian grinsen, als er an die wahre Feier zurückdenkt. Ihm war nicht klar, dass Victor seine Idee daran angelehnt hat, und irgendwie gefällt sie ihm schon ein bisschen besser. „Harry und Ron sind ja auch sowas von offensichtlich auf uns zugeschnitten.", grinst er und wuschelt erst sich selbst durch die rote Mähne und dann durch Victors schwarz-zerzausten Schopf. Er erntet einen spielerischen Stoß gegen die Schulter.

„Oder... Du bist von hinten in mich reingestolpert und hast mich in einen Sandhaufen geschubst."

Fabian lacht auf in Erinnerung an damals. So haben sie einander zwar nicht kennengelernt, sondern kannten einander schon zwei Jahre lang, aber bezeichnend war diese Erfahrung für ihre Freundschaft trotzdem. „Schwierig.", wendet er ein. „Das klingt so spannend, dass sie einen Kontext dazu verlangen werden. Und seit wann, willst du behaupten, seien wir zusammen?" Victor zuckt die Schultern und macht eine auffordernde Geste: Fabian soll sich etwas Besseres einfallen lassen.

„Wie wäre es damit:", spricht er seinen Einfall aus. "Wir wohnen im gleichen Mehrfamilienhaus und eine von deinen roten Socken hat sich im Gemeinschaftskeller in meine Weißwäsche verirrt." Er schenkt Victor ein freches Grinsen. „Das war nur einmal!", stöhnt der. „Und da waren nur Schlafshirts und ein Bettlaken drin, das kriegt doch eh keiner zu sehen. Bei dir ist voll die Flaute!"

Fabian klappt den Mund wieder zu und spürt, wie seine Wangen warm werden. Flaute kann man das nicht gerade nennen, was in seinem Schlafzimmer herrscht. Er hat einfach kein Interesse mehr an belanglosen Bekanntschaften. Und zu etwas anderem ist er nicht im Stande, nicht solange er so fühlt. Bevor er sich verteidigen oder zurückschießen kann, bringt Victor noch einen Einwand vor, dem Fabians Scham wohl entgangen ist. „Wie soll das denn außerdem bitte funktionieren? Wie soll denn meine Socke in deine Waschmaschine-?" „Es gibt manchmal so Gemeinschafts-Waschmaschinen." Fabian hat das zumindest mal in einem Film gesehen. Victor winkt ab. „Das kennt doch heute kein Mensch mehr. Das funktioniert nicht."

„Oh, ich hab' eine richtig krasse!", ruft Fabian plötzlich aus. Victor scheint sich ihm noch ein wenig mehr zuzuwenden, wartet mit weit aufgerissenen Augen und gespitzten Ohren auf die angekündigte grandiose Idee. Fabian nutzt die Pause kunstvoll aus und verkündet mit bedeutungsschwerer Stimme: „Ich habe dich davon abgehalten, von einer Brücke zu springen!"

Sofort bricht ein helles Kichern aus Victors Kehle, das er mit der vor einer Lippen gepressten Hand zu ersticken versucht. „Das..." Er unterbricht sich selbst mit einem unwillkürlichen Auflachen. „Das stimmt ja sogar." Fabian hat sich wieder weiter zu Victor herüber gelehnt und jetzt stoßen beim Lachen ihre Schultern gegeneinander. So ist es herrlich, denkt Fabian. So kann es eigentlich immer sein. „Wärst du Angsthase nicht gewesen, wäre ich gesprungen! Aber ich konnte dich da nicht alleine stehen lassen, das wäre schon fies gewesen." Fabian muss immernoch grinsen. Er weiß genau, dass Victor an dem Tag selber kalte Füße bekommen hat. Es hat überhaupt nichts mit Solidarität zu tun gehabt, dass er dann auch einen Rückzieher gemacht hat. „War trotzdem ein cooler Urlaub. Auch ohne das Bungee-Jumping." Victor nickt zustimmend und schaltet ganz nebenbei den noch laufenden Fernseher ab.

Dann kommt ihm eine neue Idee: „Wir können sagen, dass ich dich getroffen habe, als du auf der Suche nach deinem entlaufenen Hamster warst, und wir ihn zusammen wiedergefunden haben.", bietet Victor an, was Fabian mit lautem Protest ablehnt. „Lass bloß Guido da raus!" Victor muss kichern und dann stimmt Fabian auch ein. Er ist froh, dass die Geschichte weit hergeholt ist. Guido ist zwar schon ein paar Mal entlaufen, aber immer nur innerhalb seines Zimmers. Er hat mittlerweile einen kleinen Haufen Haferkerne an der Fußleiste unter Fabians Bett aufgebaut, dahin zieht es ihn ab und zu.

„Naja, er hätte schon einen Auftritt in unserer Geschichte verdient. Du hast mich schon sieben Mal bei einem Date versetzt, weil irgendwas mit ihm war!"

Fabian ist für einen kurzen Moment wie eingefroren. Hat er richtig gehört? Victor veräppelt ihn doch, oder? „Stimmt ja gar nicht.", widerspricht er kleinlaut.

„Stimmt wohl!", lacht Victor. „Ich hab' mitgezählt. Letztes Mal hast du gedacht, er hätte deinen Air-pod gegessen, weil du Schussel ihn irgendwo verlegt hast!"

Fabian zuckt mit den Schultern. „Okay, aber es waren keine Dates."

Victor runzelt die Stirn, als verstehe er nicht, wovon sein bester Freund spricht. Dabei hat er das doch ins Spiel gebracht!

„Du hast gesagt, ich hätte dich wegen Guido bei sieben Dates versetzt. Aber das waren keine Dates." Als Victors ernst-verwirrter Blick sich nicht verändert, fügt Fabian verunsichert an: „Oder?" Da zuckt dann Victor mit den Schultern und brummt „Jacke wie Hose". Er kann ja nicht wissen, dass Jacke und Hose für Fabian in diesem Fall eben wohl einen erheblichen Unterschied machen. Oder... eigentlich immer. Was soll dieser Spruch eigentlich bedeuten?

Victors Stimmung ist sichtlich im Keller, wobei er eben noch vor Begeisterung über die Suche nach einer guten Geschichte gesprüht hat. „Was sagen wir denn dann bei der Hochzeit?", fragt Fabian vorsichtig nach. Aber Victor scheint die ganze Sache plötzlich egal zu sein. „Uns fällt schon spontan etwas ein.", beendet er das Thema.

Als sie dann nach der Trauung von Victors Cousine (die Fabian ganz sicher nicht zu Tränen gerührt hat!) bei dem Empfang auf eine Brautjungfer und die ominös aufdringliche Gloria im selben unvorteilhaften Brautjungfernkleid treffen, schlingt Victor seinen Arm um Fabians Mitte.

„He, wie habt ihr zwei euch eigentlich kennengelernt?", will sie wissen.

Fabian sieht zu Victor herüber und beobachtet das Auf-und-Ab-Hüpfen seines Adamsapfels als er schluckt. Er wollte Gloria eine Beziehung vorspielen, er wollte auf etwaige Fragen dazu spontan antworten, also soll er das jetzt auch tun. Eine fast unmerkliche Röte zieht sich über Victors Wangen, als er völlig unerwartet antwortet.

„Wir kennen uns im Grunde schon seit wir drei waren. Aus dem Kindergarten."

„Ohh.", kommentiert die namenlose Brautjungfer übertrieben entzückt. „Und wie seid ihr dann zusammengekommen?" Gloria, die nur danebensteht, lässt abschätzige Blicke über ihre verschlungene Haltung gleiten. Stellt sie ihre Beziehung in Frage? Auf welcher Grundlage zweifelt sie an der Geschichte? Fabian entscheidet, er kann die Alte nicht leiden. Sie soll Victor gefälligst in Ruhe lassen.

Er wartet genau wie die beiden jungen Frauen auf Victors Entgegnung. Auf die eine überzeugende Lügengeschichte, mit der sie Gloria loswerden und den Rest der Feierlichkeiten in Ruhe genießen können. Aber Victor kriegt den Mund nicht auf. Sein Blick zuckt kurz zu Fabian herüber, ohne ihn ganz zu erreichen, und die Röte auf seinen Wangen verdichtet sich.

Als die Stille zu lange dauert, übernimmt Fabian das Ruder. Er drückt Victors Flanke, da wo er den Freund umarmt hält. „Wir waren auf diese Hochzeit eingeladen. Victor wollte einer Frau entgehen, die immer so aufdringlich mit ihm flirtet, darum hat er mich gebeten, mit ihm ein Pärchen zu spielen." Eigentlich reicht das, denkt er, während er Luft holt, um weiterzusprechen. Eigentlich wird Gloria jetzt verstehen, dass sie gemeint ist und Victor kein Interesse an ihr hat. Fertig. Aber eigentlich ist auch schrecklich langweilig und das passt nicht zu ihnen. Also nutzt er die Luft, die sowieso gerade in Bereitschaft in seiner Lunge lauert, und spricht einfach weiter. Den Blick hält er dabei auf Victors Profil gerichtet, damit er nicht mittendrin den Mut verliert.

„Wir haben uns alle möglichen Geschichten ausgedacht, wie wir uns möglichst glaubhaft kennengelernt haben könnten. Aber dann..."

Da erwidert Victor den Druck, dort, wo seine Hand an Fabians Seite ruht. Fabian spürt die Wärme durch seine Anzugjacke und das lästig adrette Hemd. „Dann ist uns aufgefallen, dass unsere Geschichten schon perfekt sind." Er dreht den Kopf zu Fabian herum und lächelt. „Und wenn dir gleich einfällt, dass dein Air-pod unterm Bett liegen könnte und Guido seine Käfigtür alleine aufkriegt, dann wirst du mich nicht wieder sitzen lassen. Dann komme ich mit." Victors Hand fällt von Fabians Hüfte ab und sucht hinter seinem eigenen Rücken nach Fabians, nur um dann ihre Finger miteinander zu verschränken. So wie damals. In Zweierreihen vom Kindergarten zum Ausflugziel. So wie heute. Zu zweit gegen den Rest der Welt.

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