Laut (3)

David sah aus dem Augenwinkel, wie Michas Lippen sich bewegten, bedachte seine Worte aber mit keiner Aufmerksamkeit. Sicher war der Freund neugierig, wie das Date gelaufen war (auch wenn dieser Punkt in der Herausforderung nicht definiert worden war und keiner Überprüfung bedurfte). Aber David wollte nicht über Leander reden. Ganz abgesehen davon, dass er keine Lust hatte zu erklären, dass er für die Herausforderung mit einem anderen Mann ausgegangen war, steckte ihm das abrupte Ende des Treffens noch in den Knochen.

Er hatte Leander nicht beleidigen wollen. Er hatte überhaupt nicht darüber nachgedacht, dass er dazu in der Lage wäre, ihn zu beleidigen. Dass Leander sich irgendetwas von dem zu Herzen nehmen könnte, was er dachte, oder dass das, was er da äußerte beleidigend war. Er hatte nur geschrieben, was er empfunden hatte, geradeheraus, wie er das immer tat.

Im Nachhinein erkannte er selbst, welchen Fehler er begangen hatte. Gut, er hatte Leander nicht unbedingt wiedersehen wollen (zu einem freundschaftlichen Treffen durchaus gerne, aber nicht mehr), aber ihn auch nicht verletzen. Der junge Mann war mehr als nur freundlich und zuvorkommend gewesen, außerdem interessiert und witzig und bemüht. David hatte ihr sonderbar gestaltetes Gespräch genossen. Es war erfrischend, dass jemand das Bedürfnis zu haben schien, ihn verstehen zu wollen, anstatt ihm nur die eigene Meinung aufzutischen (auch wenn Leander das ohne Punkt und Komma getan hatte). Und seine Aussage, er würde zum nächsten Treffen Davids Sprache ein wenig verstehen lernen, war für ihn ein ziemliches Kompliment gewesen.

Es war nicht richtig gewesen, Leander zu schreiben, was er geschrieben hatte. Selbst, wenn er es so gemeint hatte. Selbst, wenn er es immer noch so meinte.

Nach all der Mühe, die Leander sich für ihn gegeben hatte, fühlte er sich verpflichtet, das wieder hinzubiegen. Nicht so, dass der erneut an einer Auffrischung ihrer Bekanntschaft interessiert wäre, aber vielleicht zumindest genug, damit er die undurchdachte Bemerkung aus seiner Erinnerung strich.

David öffnete den Chat und blickte auf seine letzte Nachricht.

Ich glaube lieber nicht. Du bist mega nett, aber du bist mir zu tuntig.

Oh Gott, das war so typisch. Normalerweise sagte er, was er dachte, und in dieser chaotischen Welt, in der ihn die wenigsten verstanden, stieß er nur selten jemanden vor den Kopf. Zuhause war das anders, da waren alle so. Offen. Niemand zuckte mit der Wimper, wenn man darauf hinwies, dass die Person ordentlich zugenommen hatte oder dass einem das Essen nicht schmeckte. Dieses Mal war es anders. Er hatte die Beleidigung nicht in eine verwaschene Handbewegung verpackt, an der sein Gegenüber höflich vorbeischielen konnte. Er hatte dieses Wort schwarz auf weiß verschickt. Und es war eindeutig ein böses Wort, denn er selbst wollte sicherlich nicht damit belegt werden.

Es tut mir unheimlich Leid, Leander, begann er, eine Entschuldigung zu tippen. Du warst großartig heute und hast es mir nicht einmal übelgenommen, dass ich dir meine Gehörlosigkeit verschwiegen habe. Ich wollte dich nicht beleidigen. Deine Art hat mich tierisch eingeschüchtert. Du bist sympathisch, lustig, ziemlich hübsch und ich denke, ich mag dich, aber du bist irgendwie nicht mein Typ. Ich hätte dieses Wort nicht sagen dürfen.

David war unschlüssig, ob er es so abschicken könnte, und brütete noch über der Nachricht, als er mit geputzten Zähnen im Bett lag. Er war sich nicht mal sicher, ob es wahr war, was er schrieb. Dass Leander nicht sein Typ sei. Immerhin: Wessen Typ wäre dieser Mann nicht mit seinem makellosen Aussehen und dieser irrwitzigen Unfähigkeit, den Mund zu halten? Es war nicht unbedingt so, dass David sich nicht mit Leander an seiner Seite sehen konnte, dass er die Vorstellung nicht aufregend fand, dessen volle Lippen mit seinen zu ertasten, sondern eher so, wie es ihm beim Formulieren der Nachricht aufgefallen war: Leander schüchterte ihn ein. Oder vielmehr das Klischee, das er bediente.

Er drückte auf Senden und legte das Handy gerade zur Seite, als der Bildschirm bereits mit einer Antwort aufleuchtete.

Du bist echt unmöglich.

Mehr stand da nicht (und wenn Leander nicht so schnell tippen konnte, wie er sprach, war das hinsichtlich der verstrichenen Zeit auch kein Wunder), doch es wurde das Formulieren einer weiteren Nachricht angezeigt.

Ich schüchtere dich ein?

Und noch eine Nachricht folgte, für die Leander etwas länger brauchte.

Was soll das denn heißen? Verunsichere ich dich in deiner Männlichkeit?

David versuchte erst gar nicht, die Fragen zu beantworten, sondern wartete ab. Er war überrascht, dass Leander überhaupt reagierte, und seltsam erfreut, dass er emotional ausreichend involviert war, um sich um die späte Stunde um eine ausführliche Erwiderung zu bemühen. Selbst, wenn David nun sein Fett wegkriegte.

Ich versteh das. Leute wie ich sind Schuld daran, dass es diese lästigen Vorurteile über Schwule gibt, oder? Weil manche Männer gerne rosa mögen und an Blumen riechen, denken die Leute, sie könnten dich und mich über einen Kamm scheren. Wurdest du gemobbt, weil du auf Schwänze stehst?

Leanders Worte trafen David wie ein Schlag in die Magengrube. Nicht, weil sie harsch waren und (vergaß man seine eigene Verfehlung zuvor) reichlich unfair, sondern weil Leander Recht hatte. David hatte nichts gegen Schwule, die ein Klischee erfüllten – nicht bewusst zumindest. Er hatte nur Angst davor, für einen gehalten zu werden.

Ehe Leander mit seiner Tirade fortfahren konnte, schickte David seine Antwort dazwischen.

Nein.

Und natürlich wusste Leander wieder genau Bescheid.

Oh. Du bist überhaupt nicht geoutet.

Du willst nicht, dass die Leute denken, du wärst so einer.

Ist doch bescheuert.

David spürte ein kleines Lachen in seiner Kehle hochsteigen. Ist doch bescheuert. Es war erschreckend, wie einfach die drei Worte sein Problem erscheinen ließen. Er konnte sie noch nicht ganz verstehen, aber sie erleichterten ihn ungemein. Selbst, wenn sie abfällig gemeint waren – verdienterweise.

Stimmt, entgegnete er. Und widersinnigerweise fügte er an: Wieso? Leander schien auf diese Frage gewartet zu haben, denn er erläuterte ausführlich. David stellte sich vor, wie sich dabei aufgeregt seine Lippen bewegten, die aussehen wie das Nachher einer gelungenen Schönheits-OP.

Wieso? Weil du nicht dein Leben lang heimlich irgendwelche Typen in Hotelzimmern vögeln willst und sterben, ohne dass irgendjemand, der dir was bedeutet, dich je ganz gekannt hat.

Es sei denn, dir ist deine konservative Erscheinung so wichtig, dass du irgendwann eine Frau heiratest und zwei perfekte Kinder kriegst. Soll's auch geben.

Glück definiert jeder unterschiedlich.

Aber ich lass mich lieber ab und zu von projizierenden Schwulen eine Tunte nennen, als mir selbst zu verbieten, zu sein, wie ich bin.

David ließ die Hand mit dem Mobiltelefon für einen Moment sinken. Fassungslosigkeit hatte ihn ergriffen. Nicht über Leanders Worte, sondern über die Wahrheit darin. Darüber, dass ein Mann, den er für zwei Stunden gesehen hatte, ihn so leicht durchschaute und die Ängste in ihm erkannte, die ihm selbst nie ganz bewusst geworden waren.

Und gleichzeitig war er fassungslos darüber, dass diese Angst ihm mit ihrer bloßen Erwähnung tatsächlich bescheuert erschien. Dass er den Wunsch verspürte, sie abzuschütteln wie eine zu warme Jacke in den ersten Tagen des Frühlings, sich den Menschen mitzuteilen, die ihm wichtig waren und... Seine Vorbehalte gegen Leander waren wie weggewaschen. Immerhin war das einzige Argument gegen den freundlichen, witzigen, gutaussehenden Kerl soeben verpufft.

David biss sich auf die Unterlippe, als er zum Tippen ansetzte.

Wenn ich es nicht völlig verkackt habe... Zweites Date?

Leander tippte. David konnte die drei Punkte sehen, dort, wo die nächste Nachricht erscheinen würde, wie sie nacheinander aufleuchteten. Als sie verschwanden, wurden sie nicht durch einen Text ersetzt. Leander war wohl noch am Handy, aber... Dann wurde er als offline angezeigt.

Frustriert ließ David das Handy sinken und zog die Bettdecke höher. Was hatte er auch gedacht, dass er einen Mann beleidigen konnte und der nochmal mit ihm ausgehen würde. Verdammte Herausforderung, ging es ihm durch den Kopf, als hätten Katja und die anderen irgendetwas damit zu tun, wie er den Karren in den Dreck gefahren hatte.

Er schreckte erneut hoch, als plötzlich eine Vibration in seinen Fingerspitzen kitzelte. Leander hatte geantwortet.

Morgen abend. Zu dir oder zu mir?

David konnte es kaum fassen. Er wusste, wo seine Verfehlungen lagen, aber an welcher Stelle hatte er so überzeugt, dass Leander sich tatsächlich darauf einließ? Er fasste einen raschen Beschluss.

Zu mir.

Eine Bedingung, kam es postwendend zurück. David antwortete mit einem Fragezeichen.

Bitte sei laut. Es verunsichert mich tierisch, wenn mein Partner beim Sex keinen Mucks von sich gibt.


Dann war es so weit und David hatte nicht mitbekommen, dass Leander bereits im Wohnungsflur stand. Er war dabei gewesen, sich fertig zu machen, und als es klingelte, hatte wohl Micha dem zu früh Kommenden geöffnet. David stieß dazu, als die beiden sich gerade begrüßten.

Ein wenig unsicher war David dann doch. Es war eine durch nächtliche Dunkelheit geschürte, mutige Idee gewesen, sich nicht mehr vor seinen Freunden und seiner Familie zu verstecken. Jetzt kam es ihm vorschnell vor. Micha mit Leander zu konfrontieren, anstatt zuerst ein klärendes Gespräch mit ihm zu führen, würde ihn womöglich vor den Kopf stoßen.

David winkte und deutete auf die kleine Garderobe neben der Tür, damit Leander Schuhe und Trenchcoat loswurde (Ein Trenchcoat? Und was machten die Rosenranken auf dem geknöpften Hemd, das er drunter Trug, große Güte!?). Micha nutzte den Moment, als Leanders Blick woanders ruhte, um David auf sich aufmerksam zu machen.

Ist er schwul?, deutete er. Die Geste, die er zeigte, war David viel zu geläufig, obwohl er sie kaum je im Gespräch verwendete. Er merkte erst jetzt, als er sie sah, wie oft er sich vorgestellt hatte, sie seinen Eltern zu zeigen, sich seinen Eltern zu zeigen.

David nickte nur und taumelte vor Überraschung, als Leander sich aufrichtete und die Hand besitzergreifend auf seinem Oberarm platzierte. Aus den Schuhen geschlüpft kamen (oh Wunder) erdbeereisfarbene Socken an seinen Füßen zum Vorschein. David schmunzelte.

Warte!, riss Micha Davids Aufmerksamkeit wieder an sich. Er ist der, mit dem du auf dem Date warst? Du bist auch schwul?

Wow. Was David definitiv nicht erwartet hatte, war, dass nicht er selbst es war, der das Wort ins Gespräch brachte. Nun hatte Micha es bereits zweimal gezeigt und David hatte nichts getan, als dazustehen. Gerade wollte er zu einer Erklärung ansetzen, die mehr wäre als nur ein Nicken, als Leander sich einmischte. Er drückte Davids Arm dort, wo er ihn berührte, damit der alles mitbekam, was seine Lippen formten.

„Du bist der Mitbewohner, ja? Aber du bist nicht gehörlos wie David?", hakte Leander nach, obwohl er die Antworten bereits kannte. Micha nickte, ließ dann aber auch seine Stimme hören. „Nein, ich kann dich hören."

Leander nickte, ein freches Schmunzeln auf seinen rosigen Lippen, die durch die sonderbare Kleiderwahl irgendwie noch betont wurden. „Und David kann Lippen lesen. Aber ihr sprecht Gebärdensprache, also... Habt ihr wohl Geheimnisse?"

David wollte sich bereits entschuldigen und Micha bitten, zu übersetzen (auch wenn Leander die paar Worte nicht unbedingt hören musste, so war es doch unhöflich gewesen), aber Leander ließ sich nicht unterbrechen.

„Ich hab' dir doch was versprochen, schon vergessen?", wandte er sich David nun ganz zu. Er ließ nur eine kurze Pause, in der David nicht darauf kam, worauf er anspielte. Etwas versprochen? „Ein paar Worte habe ich nämlich schon gelernt." Damit drehte er sich zu Micha um, ein breites Grinsen auf seinem Gesicht. „Und stimmt." Er führte wie Micha zuvor seine rechte Hand zur Stirn und fuhr mit dem Mittelfinger (in einer fast etikettierenden Geste) darüber, ohne David mit der anderen Hand loszulassen.

„Ich bin sowas von schwul."

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