Laut (2)

David hatte sich in seine Jeansjacke gehüllt und war dabei, seine Stiefel zu binden, als Micha ihn im Flur aufhielt. Er schien Davids Einschränkung kurz vergessen zu haben, denn seine Lippen bewegten sich, als David herumfuhr. Dann begann er von Neuem. „Hast du schon jemanden für die Herausforderung?", erkundigte er sich.

David setzte ein schiefes Grinsen auf. Er war zwar nicht besonders erpicht auf das Date mit Leander, aber es war auch sein erstes Date mit einem Mann und das erzeugte dann doch ein nervös-vorfreudiges Kribbeln in seiner Magengegend. „Ich bin gerade unterwegs zu dem Date.", erklärte er sich, ließ sich viel Glück wünschen und verließ die gemeinsame Wohnung nach einem Schulterklopfen seines Freundes.

Auch Micha hatte nicht explizit darauf angesprochen, dass er ein Mädchen treffen würde, so wie Chrissi das im Pub getan hatte. Er hatte jemand gesagt und das war doch ziemlich neutral. Ahnten er und Katja, dass er sich für das Treffen mit dem ersten interessierten Jungen entscheiden würde, oder war ihre Formulierung ein Zufall?

Die Gedanken (er versuchte, sich an frühere Gespräche zu ähnlichen Themen zu erinnern und kam nicht mehr darauf, ob sie auch da unbestimmte Beschreibungen verwendet hatten und er bloß angenommen hatte, sie sprächen vom weiblichen Geschlecht) begleiteten ihn noch bis zu dem Café in der Stadt, das Leander für sie ausgesucht hatte. Er betrat es, ohne noch einmal tief durchzuatmen, wie seine Nervosität es ihm einzureden versuchte, und erkannte Leander sofort.

Haselnussfarbene Locken umrahmten das Gesicht bis zum Kinn, ließen den markanten Kiefer weicher aussehen, die gerade Nase zierlicher. Seine Lippen waren voll und rosig, die Brauen über den kühl blauen Augen perfekt geformt. Leander sah aus wie ein Hollywoodschauspieler aus vergangenen Zeiten, makellos und... wie ein Prinz. Dann war da das geknöpfte Hemd mit dem feinen Blumenmuster, der seidige Schal, der locker um seinen Hals hing. Die ganze Statur war schmächtig, klein. David konnte sich nicht entscheiden, ob der Anblick seine Nervosität tilgte oder potenzierte. Denn Leander war absolut nicht sein Typ, ganz gleich wie hübsch, aber alles an seinem Aussehen schrie schwul, was David sein Tun unausweichlich vor Augen führte.

Er datete tatsächlich einen anderen Mann, zum ersten Mal in seinem Leben. Und niemand außer den anderen Anwesenden in dem gemütlich aussehenden Lädchen wusste davon. Es war aufregend und enttäuschend gegenüber seiner Vorstellung und nun kam noch der Teil, in dem Leander bemerken würde, dass David nicht sprach.

Leander erhob sich, als David an den Tisch trat, den er besetzt hatte, und eine Parfumwolke flog David entgegen. Der hübsche Mann roch nicht unangenehm, bloß... zu viel.

„Hallo David, schön, dass du da bist. Hast du das Café gut gefunden?" Die Art, wie Leanders volle Lippen Worte formten, hatte etwas fast schon Obszönes, und David gefiel, wie deutlich er sprach, jedes Wort vom nächsten getrennt, kein Genuschel, keine Abkürzungen. Zumindest im ersten Satz.

David nickte die Begrüßung ab, bemühte sich um ein Lächeln. Erst als er sich auf den Stuhl gegenüber von Leander fallen ließ (der hatte auf einen Stuhl ums Eck gedeutet, doch so könnte David seine Lippen besser im Blick behalten), setzte auch der sich wieder.

„Sollen wir bestellen? Ich habe noch gewartet, obwohl ich viel zu früh hier war. Wenn ich nervös bin, komme ich immer zu früh. Außerdem habe ich einen Bus früher genommen, um dich nicht warten zu lassen, und der fährt nur jede halbe Stunde. Entschuldige. Ich rede auch viel, wenn ich nervös bin. Also... Sollen wir bestellen?"

Leanders Lippen bewegten sich schneller zu dem Schwall an Information, noch immer schien er ordentlich zu akzentuieren, sodass David keine Schwierigkeiten hatte, ihm zu folgen. Auch Leanders Arme begleiteten die Unterhaltung, jedoch in wilden, verwaschenen Gesten, die nichts bedeuteten. David amüsierte das Gestikulieren von Hörenden. Es sah albern aus und sagte rein gar nichts. Bloß jetzt vermittelte es das gesamte Ausmaß von Leanders Aufregung, die ihm aus den Augen leuchtete.

David nickte, als Leander bereits die Hand gehoben und eine Kellnerin herangewunken hatte. Nun musste er sich beeilen, die Karte aufzuschlagen, und darauf zu finden, was er suchte. Er sah wieder auf, als Leander und die mittelalte Dame ihn erwartungsvoll ansahen, hielt ihr die Karte hin mit seinem Finger neben dem Aufdruck „Kännchen Kaffee" und wartete die obligatorische Frage ab. „Milch, Zucker?" Er schüttelte den Kopf, lächelte, und wandte sich wieder Leander zu, als sei nichts gewesen.

Der schien erstmalig zu merken, dass etwas von seiner Erwartung abwich. Er legte ganz leicht nur den Kopf schief und es dauerte einen Moment, bis seine Brauen wieder auseinander glitten, die verwundert zusammen gefahren waren.

„Wenn du magst, können wir gleich auch noch Kuchen bestellen. Agathe [Agatha? Schwer zu erkennen] macht diesen wunderbaren Aprikosen-Streuselkuchen. Ich bin öfter hier, darum – Also nicht zu Dates, sondern weil Agathe [Hießen Leute so? Es schien jedenfalls ein Name zu sein] eine Freundin meiner Mutter ist. Ich habe nicht viele Dates. Also keine Ahnung, ab wann man sagen würde, dass es viele sind, ich glaube, es ist wirklich im normalen Bereich und natürlich nie mit mehreren Männern zur gleichen Zeit." Leander stoppte (vielleicht war er fertig, vielleicht holte er bloß Luft, das würde David im nächsten Moment bemerken) und wurde etwas fahl im Gesicht. „Du bist jedenfalls der einzige, den ich gerade treffe. Oh. Das klingt, als würden wir uns regelmäßig treffen, dabei sehen wir uns zum ersten Mal. Du weißt, was ich meine, oder?"

Hilflos sah Leander unter seinen dichten Wimpern zu David herüber, der mit einem neckenden Grinsen den Kopf schief legte. Leanders offensichtliche Aufregung amüsierte ihn. Er war nicht so langweilig wie sein Profil David hatte glauben lassen, auch wenn er noch immer zu adrett und glatt war, für seinen Geschmack. Vielleicht würden sie sich gut verstehen und freundlich auseinandergehen, dachte er kurz. Bis ihm wieder einfiel, dass sein Gegenüber noch von seiner Gehörlosigkeit erfahren würde. Und dass er die ganz absichtlich nicht in der App erwähnt hatte. Dementsprechend würden sie also nicht einfach freundlich auseinander gehen.

Leander grinste und verbarg halb beschämt sein Gesicht hinter den Händen. Sonnengebräunte Haut, feingliedrige Finger, manikürte Nägel – sie passten ins Bild.

„Ich habe dich noch gar nicht zu Wort kommen lassen!", stieß er hervor, als er die Hände wieder sinken ließ. David fragte sich, ob er auch verborgen hinter den Händen etwas gesagt haben mochte. Nun schien Leander sich zu zwingen, nicht in weiter zu plappern, denn er sagte nur noch einen Satz: „Sag du mal was, ich will deine Stimme hören."

Leander lächelte lieb, nicht ahnend, dass seine Formulierung kaum besser ins Schwarze hätte treffen können.

David hob die Arme und deutete: „Das könnte schwierig werden.", ohne zu erwarten, dass Leander ihn verstünde. Aber er würde die Bedeutung dahinter begreifen, also war es im Grunde egal, zu was er seine Hände formte.

Leanders Augen wurden groß. Sie schienen immer größer zu werden, bis er sich nach hinten gegen seine Stuhllehne fallen ließ und die Luft ausblies. Nun würde er sich erinnern, dass davon in keiner von Davids Nachrichten die Rede gewesen war, und seinen Unmut kundtun. David könnte gehen, sein erstes echtes Date (auch wenn es durch eine alberne Herausforderung initiiert worden war und sein Gegenüber andernfalls nicht seine erste Wahl dafür gewesen wäre) als gescheitert abspeichern und es vermutlich nicht so bald wieder versuchen.

Aber schon im nächsten Augenblick richtete Leander sich wieder auf, schien die Verblüffung einfach abzuschütteln. „Wow, du bist..." er runzelte die Stirn, vervollständigte den Satz nicht. „Damit hätte ich ja jetzt überhaupt nicht gerechnet! Ich dachte eben kurz, du wärst unhöflich, als du beim Bestellen kein Wort gesagt hast, das tut mir Leid! Du hast gar nicht erwähnt, dass du – wobei das vermutlich Sinn macht. Hätte ich wahrscheinlich auch nicht, man will ja nicht, dass der andere total voreingenommen ist oder vielleicht Angst hat, damit nicht umgehen zu können und sich deswegen gar nicht erst treffen will oder so. Oh, tut mir Leid, das war unsensibel, ist dir das mal passiert, dass jemand dich deswegen nicht kennenlernen wollte? Mir macht das nichts, ich rede sowieso genug für ein ganzes Dorf, sagt mein Vater immer. Nur... Jetzt kannst du mir gar nichts erzählen, weil ich deine Gebärdensprache nicht verstehe. Vielleicht... Du kennst bestimmt diese Servietten beim Griechen, auf denen die wichtigsten Ausdrücke auf Griechisch draufstehen? Vielleicht kannst du mir einen Crashkurs geben und mir das wichtigste beibringen. Nur Ja und Nein und Bitte und Danke und so."

David spürte, wie sich ein Grinsen auf seinem Gesicht breitmachte. Es fing mit einem Kitzeln in seinen Mundwinkeln an, dann wanderte es in seine Wangen, in den Nasenrücken und die Augenwinkel weiter. Währenddessen lief über Leanders Gesicht eine ganze Litanei an Gefühlsausdrücken und kurioser Weise gelang es keinem einzigen davon, es zu entstellen.

Auf dessen erwartungsvollen Blick hin zuckte David die Schultern, lächelnd, um ihm zu verstehen zu geben, er möge anfangen. Sie kamen bis zum Bitte, als die Dame von eben zwei Getränke brachte. Eine Tasse schwarzen Kaffee für David und etwas weißes in einem hohen Glas mit einem langstieligen Löffel darin für Leander. „Lasst es euch schmecken!", sagte sie, worauf David nickte. Erst bei dem erschrockenen Blick auf Leanders Gesicht runzelte er fragend die Stirn.

Der schüttelte den Kopf, wie um eine Antwort zu verweigern, aber als David schmollend die Unterlippe vorschob und das gerade gelernte „Bitte" gebärdete, kicherte Leander und erklärte ihm seine Reaktion doch. „Sie hat gerade schrecklich laut geredet. Wahrscheinlich hat sie gesehen, dass du mir Gebärden zeigst. Das war... komisch." David grinste und zuckte die Schultern. Er hatte schon davon gehört, wie die Leute in Anwesenheit von blinden Menschen lauter sprachen, was angesichts ihres meist gut ausgeprägten Gehörs eher widersinnig war, aber wenn sie ihn anschrien, machte ihm das wenig: Es änderte nichts an der Lesbarkeit der Worte von ihren Lippen.

Dann zeigte David auf Leanders Getränk und machte ein fragendes Gesicht. Leander nahm einen Schluck, leckte sich die Lippen ab (es war durchaus möglich, dass er mit der Bewegung die Aufmerksamkeit auf sie lenken wollte, dachte David, was in Hinblick auf die Art ihrer Verständigung überflüssig war). „Das ist eine heiße weiße Schokolade.", erklärte er mit wenigen Worten. Mädchengetränk, steuerten Davids Gedanken bei. Es passte zu Leander, auf genau die Weise, die ihm ein mulmiges Gefühl in seiner Anwesenheit machte.

„Oh, wie sage ich süß mit Gebärdensprache?", fragte Leander nach, machte irgendetwas mit seinen langen Wimpern. Er flirtete, merkte David. Wieder löste der Gedanke gemischte Gefühle bei ihm aus: Es war ihm unangenehm, dass jemand mit ihm auf diese Weise kommunizierte, der ihm nicht auf diese Weise gefiel, und gleichzeitig genoss er es ein wenig, dass Leander sich trotz der Gesprächsbarriere für ihn zu interessieren schien.

David verriet ihm die Gebärde für das Adjektiv und wartete ab. Sicherlich könnte Leander das Thema weiter ausreizen, doch er fragte nur weiter nach wichtigen Begriffen, machte sie etwas verkrampft nach. Er lernte Ja, Nein, Bitte, Danke und Entschuldigung. Als er gerade weiterfragen wollte, schien ihm etwas anderes einzufallen.

„Wie ist das eigentlich mit deinem Studium, wenn du... Also du bist... Warte, du verstehst mich die ganze Zeit, aber antwortest nicht mit Lauten, also bist du... stumm?" David zeigte ein Nein. „Also liest du meine Lippen? Das ist so cool. Vor Allem, wenn Leute nicht wissen, dass du das kannst, aber du weißt trotzdem, was sie sagen, oder? Manchmal denke ich, ich würde gerne mehr Fremdsprachen können, dann wüsste ich immer, was die Leute sich für Geheimnisse erzählen. Aber warte, dann bist du... wie heißt das, taubstumm?" David wiegte den Kopf hin und her. „Okay, es fällt mir gleich ein. Du kannst also theoretisch sprechen, aber nicht hören, oder? Hör-... Gehörlos?" Endlich spreizte David Daumen und kleinen Finger ab und ließ seine Hand vorm Körper zweimal nicken.

„Gehörlos.", wiederholte Leander, wie er schon zuvor die Gebärden zum Einprägen wiederholt hatte. „Und an der Uni, da kannst du ja nicht immer die Lippen vom Professor lesen, oder? Reichen dir die Skripte zum Lernen und Verstehen? Oder... Du sitzt bestimmt immer ganz vorne?" David nickte grinsend. Es war ganz interessant, sich so zu unterhalten, mit jemandem, der im Grunde nur eine Handvoll Worte seiner Sprache verstand. Vor Allem war er beeindruckt, wie viel Leander sich mit ein paar bloßen Bestätigungen und Verneinungen zusammenreimen konnte.

„Und zuhause? Deine Eltern, haben die dir die Gebärdensprache beigebracht?" Wieder bestätigte David und Leander legte den Kopf schief. „Ist das... genetisch? Also können deine Eltern hören oder sind sie auch taub? Oh, darf man taub sagen? Oder sagt man gehörlos?"

David lachte. Seine Augen schlossen sich für einen Moment und er spürte das gewisse Rumpeln in der Brust, den gesteigerten Luftfluss durch seine Kehle. Auch wenn Leanders Ausstrahlung ihn ein wenig abschreckte, machte es Spaß, mit ihm zusammenzusitzen und ihn so viele Fragen auf einmal stellen zu sehen, dass er durch ein Nicken oder Kopfschütteln keine Ahnung mehr hätte, was er gerade in Erfahrung gebracht hatte.

Dann merkte er, dass er lachte, und hörte damit auf. Er lachte nicht gerne. Doch, er lachte gerne, zuhause bei seiner Familie, wenn etwas wirklich lustig war, und in Gesellschaft, wenn er ganz genau wusste, keiner hörte ihn. Aber er bemühte sich doch sehr, es in dieser Welt zu unterlassen, in der die Leute sich vor dem Geräusch erschraken, das furchtbar anders klingen musste als ihr eigenes Lachen.

Als er sich umblickte, merkte er, wie die Kellnerin und ein älteres Paar von einem benachbarten Tisch ihn anstarrten. Unsicher schaute er Leander an. Es könnte ihm im Grunde egal sein, was der von ihm dächte, denn er nahm sich hier nur seiner Herausforderung an und wollte keine Beziehung mit ihm eingehen. Dennoch beunruhigte es ihn, nicht absehen zu können, wie er reagieren würde.

Leander sah nicht wirklich anders aus als die älteren Herrschaften. Er starrte, sein Mund stand dabei sogar ein wenig offen. Kurz überlegte David, die bereits gelernte Gebärde für „Entschuldigung" zu zeigen, doch er sah es auch nicht ein, die Verantwortung auf sich zu nehmen, den anderen vielleicht erschreckt zu haben. Stattdessen nahm Leander wieder die Zügel des Gesprächs an sich.

„Das war... Das waren wohl zu viele Fragen auf einmal." Er schmunzelte leicht schuldbewusst und man könnte ihn wohl niedlich finden, wie er dabei die Augen niederschlug. „Also... Sind deine Eltern auch gehörlos?"

David antwortete: „Ja."

„Wohnst du noch bei ihnen?"

„Nein."

„Wohnst du alleine?"

„Nein."

Leander schien zu überlegen, wie er sich das erklären sollte.

„In einer Wohngemeinschaft?"

„Ja."

„Und sind die anderen auch gehörlos?"

David runzelte die Stirn, legte den Kopf schief. Fragte Leander zum Verständnis nach oder nahm er an, die Gesellschaft anderer Gehörloser sei für Davids Alltagsbewältigung unabdingbar? Das schaffte er seit einigen Jahren ziemlich gut alleine, vielen Dank auch. Bevor er jedoch schnippisch wurde (was ihm mit ein paar Jas und Neins wohl schwergefallen wäre, zum Ausdruck zu bringen), ließ er die Fragerunde weiterlaufen.

„Nein."

„Aber sie können sich besser mit dir verständigen als ich."

David lächelte, dachte daran, wie er mit Micha ganz zu Beginn seines Studiums und ihres Zusammenwohnens ähnliche einseitige Unterhaltungen geführt hatte. „Ja."

„Ein Glück!", fand Leander. „Es ist gar nicht so leicht, alles so zu formulieren, dass ich mit deiner Antwort was anfangen kann, und... Oh nein, so wollte ich das nicht... Ich meine, es ist nicht leicht, aber es stört mich überhaupt nicht, ehrlich! Und für dich ist es wahrscheinlich total nervig, dass wir nur über das reden, was ich bestimme. Vielleicht kannst du ja... Du könntest was aufschreiben und dann kannst du ein Thema vorgeben. Hast du einen... Oh, wir brauchen keinen Stift, du kannst mir ja übers Handy schreiben, das ging ja vorher auch. Ich meine – wenn du willst?"

Wieder konnte David sich eines ehrlichen Lächelns nicht erwehren, auch wenn er dieses Mal ein Lachen zurückhielt. Leander schien entweder noch immer nervös zu sein, was irgendwie niedlich wäre, oder ganz grundsätzlich dazu zu neigen, sich beim Reden völlig zu verhaspeln. Letzteres war neu für David. Gebärdensprache war ziemlich geradeheraus und in seiner Gegenwart fassten auch Hörende sich meistens kurz, als wollten sie seine Augen durch das Lippenlesen nicht überstrapazieren.

Statt zu bestätigen, zog David sein Handy hervor, öffnete ihren Chat, in dem er Leander nur mit wenigen Nachrichten zu einem Date hatte überreden können, und tippte eine Nachricht.

Du weißt, dass du einfach gehen kannst, oder? Ich hätte dir vorher sagen sollen, worauf du dich einlässt. Du bist zu nichts verpflichtet.

Leander legte mit grübelndem Ausdruck den Kopf schief. „Nein! Ich finde dich nett, du bist interessant und siehst gut aus. Und ich habe schon so viel gelernt. So viel lernt man sonst nicht bei Dates. Und jetzt klingt es schon wieder, als ob ich das ständig mache, dabei... Nicht, dass ich nur hier sitze, weil deine Gehörlosigkeit interessant ist, du... Wir haben eigentlich über nichts anderes geredet, oder? Das ist ja ätzend von mir, eigentlich lernt man einander beim ersten Date kennen und ich reduziere dich völlig darauf, dass du taub bist. Tut mir Leid, David, sollen wir-"

David senkte den Blick auf sein Handy und blendete Leanders weiteres Gebrabbel damit aus. Der schöne Mann hatte immerhin Recht: Sie waren dort, um einander kennenzulernen.

Wohnst du bei deinen Eltern?

„Oh.", machte Leander über dem Erhalt der neuen Nachricht. „Ja, ich bin nie ausgezogen. Ich habe den ganzen Dachboden für mich, mit Bad und kleinem Kühlschrank. Außerdem arbeite ich gleich um die Ecke, es ist einfach praktisch. Und ich weiß, es ist irgendwie peinlich, aber meine Eltern sind einfach so toll und wir verstehen uns richtig gut."

Das ist schön. Wo arbeitest du nochmal?

„Beim Floristen. Ich habe schon als Kind immer gerne Blumen gepflückt und schön angeordnet zu kleinen Sträußen. Das gab natürlich Ärger, weil die schönsten Blumen in Nachbars Garten gewachsen sind, aber da stand irgendwie gleich fest, dass ich das später zum Beruf machen will. Blumen machen die Leute glücklich."

Ach, wie passend, dachte David. Ein Schwuler, der zu viel Parfum aufträgt, süße Heißgetränke bestellt und Sinn für Ästhetik hat. Was auch sonst. Dann dachte er über den letzten Satz nach und hielt an sich, zu widersprechen. „Mir kommen keine toten Blumen ins Haus!", hatte seine Mutter ihn an einem ihrer Geburtstage gescholten, das war sicherlich schon zehn Jahre her. „Jetzt sind sie noch schön, aber guck sie dir in zwei Tagen an, da sind sie nur noch schlaff und trostlos!" Stattdessen pflegte sie liebevoll ihre Beete im Vorgarten und freute sich über winterharte, bienenfreundliche Topfpflanzen.

„Was ist deine Lieblingsblume?", setzte Leander nach und David wunderte sich nur noch mehr.

Wer hat denn eine Lieblingsblume?

Ein Lachen schmückte Leanders feine Züge. „Jeder sollte eine haben. Hast du keine?"

David versuchte, in seinem Kopf eine Antwort darauf zu finden. Es war nicht so, dass er nicht genügend Blumen kannte, um eine auszuwählen, das war wohl Mutters Penetranz geschuldet, doch es kam ihm nicht in den Sinn, eine schöner zu finden als die andere. Also hob der den Zeigefinger, ließ ihn einmal von der einen Seite zur anderen kippen. Nein.

„Okay, aber du hast bestimmt eine Lieblingsfarbe!"

David überlegte wiederum, wusste nicht direkt eine Antwort.

Blau vielleicht, tippte er.

Leander verzog unzufrieden die Lippen, aber selbst mit den schiefen Falten um seinen Mund, sah der noch herrlich einladend aus. „Blau klingt wie die Antwort eines Fünfjährigen. Blau ist ja noch nicht mal eine richtige Farbe.", protestierte er.

David runzelte die Stirn, zeigte ein „Wieso?", in der Hoffnung, dass Leander es aus dem Kontext verstehen konnte.

„Blau ist eine ganze Kategorie an Farben. Welches Blau meinst du denn?"

Irgendwas Grünliches finde ich schön, bemühte David sich, zu spezifizieren.

Leander schürzte die Lippen und machte vielleicht einen Laut dabei, sagte aber nichts, als er die Nachricht las.

Was ist denn deine Lieblingsfarbe?, schob David nach, da dem anderen dieses Thema offenbar wichtig zu sein schien. Außerdem war er durchaus interessiert, was der für eine angemessene Antwort hielt.

„Ich mag Erdbeereisfarben.", erklärte Leander. David schüttelte den Kopf.

Das hast du dir aber gerade ausgedacht, die Farbbezeichnung gibt es nicht. Du meinst doch rosa.

Noch als er das letzte Wort tippte, fiel es ihm auf: rosa. Das war wohl die Krönung des Klischees. Wieso musste Leander so durchschaubar sein? Wieso erwartete David nach ihrer abwechslungsreichen Unterhaltung etwas anderes, etwas mehr von Leander, und war nun enttäuscht, dass er diesem gewissen Bild entsprach?

Ein wenig unterhielten sie sich noch und David gab sich Mühe, darüber hinwegzusehen, dass Leander nicht sein Typ war. Schließlich hatte der sich auch nicht gerade vorgestellt, ein Date mit einem Behinderten bestreiten zu müssen, und machte seine Sache sehr gut. Er war ja nett, nur... David tröstete sich damit, dass es von vornherein nur diese Herausforderung gewesen war. Er hätte nicht die Erwartung aufkommen lassen dürfen, auf einen Kerl zu treffen, der seinen Vorstellungen entsprach UND ihm die Sache mit dem Vorenthalten seiner Einschränkung nachsah.

„Möchtest du noch einen Kaffee trinken? Oder ein Stück Kuchen probieren? Oder wir könnten noch ein bisschen spazieren gehen, wenn du willst?", bot Leander an, als die Kellnerin bereits mehrfach zu ihrem Tisch gekommen und gefragt hatte, ob sie ihnen noch einen Gefallen tun könne.

David verneinte. Es war anstrengend gewesen, auch wegen des vielen Lippenlesens, aber vor Allem wohl wegen der Neuheit der Situation. Sie baten also um die Rechnung, zahlten jeder ihr Getränk und sahen sich unsicher an. Wie beendete man ein Date? Was sagte man zum Abschied, wenn man eigentlich sicher war, dass man einander nicht wiedertreffen würde? Es war ja nicht, als ob David Leander nicht mochte oder nicht wiedertreffen wollte, bloß nicht... als Date.

„Bis zum nächsten Mal lerne ich ein bisschen Gebärdensprache, versprochen!", erklärte Leander, und das machte es dann irgendwie doch schwer, nach einer Verabschiedung für immer zu suchen. Bis zum nächsten Mal? Und dann wollte er sich richtig mit ihm verständigen?

„Es sei denn..." Leander pausierte und in David schwelte die Furcht, er hätte seine Gedanken gelesen und ruderte nun zurück. Aber dann war da wieder dieser Augenaufschlag, ein frecher Zug um seine schrecklich schönen Lippen. „Es sei denn, du möchtest noch mit zu mir kommen."

David erschrak diese Wendung mehr, als Leanders Traurigkeit es gekonnt hätte. Mit zu ihm kommen, so wie...? Und wohnte er nicht bei seinen Eltern? Und...? In dem Moment schlugen mehrere Sorgen gleichzeitig auf David ein. Er war noch nie mit einem anderen Mann mit nach Hause gegangen und es wäre definitiv zu früh, es mit Leander zu tun. Außerdem war Leander für ihn nicht... Er könnte sich schon vorstellen, sich noch einmal mit ihm zu treffen, aber nicht um... Und immerhin war er, selbst als vielleicht schönster Mann, den er je gesehen hatte, nicht Davids Typ. Irgendwie... zu schön.

Leander lächelte abwartend, biss sich nervös oder flirtend in die Unterlippe. Davids Blick wurde etwas zu lang von dem Anblick gefangen genommen, dann nahm er das Handy mit dem geöffneten Chat wieder in die Hand und tippte.

Im nächsten Moment wich jegliche Emotion aus Leanders Gesicht. Er erhob sich aus seinem Stuhl (David dachte schon, er wolle nun einfach aus dem Café stürmen), stellte sich dicht vor David und wartete. Er machte sich nicht die Mühe, ihn zu bitten, aufzustehen, er wartete einfach ab.

Also stemmte auch David sich aus seinem Stuhl hoch, wandte sich Leander zu, nur um zu spüren, wie dessen flache Hand auf seine Wange niedersauste. Als das brennende Gefühl unter der Haut einsetzte, hatte Leander den Laden bereits verlassen.

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