Laut
„Okay, jetzt ist David an der Reihe!"
David lehnte sich schmunzelnd zurück gegen die harte Holzbank an ihrem Stammtisch im Irish Pub. Es laugte ihn bei diesen Runden jedes Mal ein bisschen aus, den durcheinandergerufenen Gesprächen zu folgen. Er kriegte nicht immer gleich mit, wenn mehrere Personen gleichzeitig sprachen und nicht selten verpasste er Satzanfänge. Dass seine Freunde einander nie ausreden ließen, erschwerte das Ganze. Möglicherweise spielten auch die zwei Pint Kilkenny eine Rolle, die seine Konzentration weiter dezimierten.
Was Chrissi angekündigt hatte, war ihm jedoch nicht entgangen. Entspannt musterte er die Gesichter der vier anderen, die nun verschwörerische Blicke austauschten.
Sie spielten dieses Spiel jedes Mal, wenn sie sich trafen. Es gab Ausnahmeregelungen, dass Herausforderungen beispielsweise vor wichtigen Ereignissen wie einem Vorstellungsgespräch oder einer Prüfung nicht ausufern durften, und auch wenn sie einander nur zu gerne piesackten, wollte wohl niemand von ihnen die persönlichen Grenzen der anderen verletzen. Vielleicht machte es deswegen solchen Spaß, sich eine Herausforderung für David zu überlegen, der mit allem recht lapidar umging. Oder es lag doch nur an seiner Andersartigkeit, die besondere Angriffsstellen bot.
Katja klatschte in die Hände, die Bewegung zog Davids Blick an. „Ich habe eine großartige Idee!" Alle Blicke richteten sich auf sie, beobachteten, wie sie den Kopf schief legte und David hämisch anfunkelte. Oh, auf die Aufgabe freute er sich schon, dachte er.
„Lass hören!", deutete er an. Katja schmunzelte. „Du meldest dich bei einer Datingapp an." Sie grinste und wartete auf Reaktionen, ihrem Blick nach zu urteilen. David wollte schon nachfragen, ob das alles sei, doch die anderen betrachteten sie noch unverwandt: Ihre Stimme musste am Ende des Satzes ein Zeichen gegeben haben, dass noch mehr folgte. „Du likest alle angezeigten Profile und gehst mit der ersten Person, mit der du gematched wirst, auf ein Date." Dieses Mal hob sie in der Pause zwischen in den Sätzen den Zeigefinger in die Höhe, eine Geste, die Aufmerksamkeit einfordern sollte. „Der Punkt ist, es muss eine ganz normale Datingapp sein. Und du darfst in deinem Profil und beim Klarmachen des Dates keinen Hinweis darauf geben, dass du gehörlos bist."
David spürte das Zucken seiner rechten Braue. Das war eine schreckliche Idee. Es war eine grauenvolle Idee. Und irgendwie gefiel sie ihm. Er hatte mitverfolgt, wie Micha sich so ein Profil eingerichtet und ein paar Mädchen getroffen hatte, mit manchen nur lange via Text geflirtet. Es sah spaßig aus und David hätte kein Problem damit, sich mit einer App auszuprobieren. Dass es eine „ganz normale" App sein sollte, fand er kurios. Meinte Katja mit „normal" hörende Menschen? War er nicht normal? (Blöde Frage, natürlich war er ein Kuriosum für seinen Freundeskreis, der zwar kollektiv ein paar Gesten gelernt hatte, um ihn im Gespräch verstehen zu können – und ihn ließen sie immerhin bis zum Ende seines Satzes kommen -, sich aber nicht damit abmühte, selbst mit Gebärden zu sprechen. Es war wohl irgendwie cool mit ihm befreundet zu sein, aber die Freundschaft reichte bei keinem von ihnen so tief, dass es in den vergangenen zweieinhalb Jahren je zu einem Treffen zu zweit mit ihm gekommen war. Außer bei Micha, der immerhin sein Mitbewohner war und ihn erst in die Clique integriert hatte.) Und ging sie davon aus, dass es Datingapps speziell für Gehörlose gab?
Der Gedanke kam David nach zwei Bier urkomisch vor, wobei sie vielleicht gar nicht so abwegig war. Die meisten Gehörlosen hatten wohl ihre Beziehungen: Er selbst war von Gehörlosen Eltern aufgezogen und auf eine Gehörlosenschule gegangen, in deren Nähe sie mit ihm gezogen waren. Erst als er älter wurde und beschlossen hatte, sein Leben selbst zu gestalten, hatte er beschlossen, Lippenlesen zu lernen und darauf bestanden, eine normale Schule besuchen zu dürfen. Waren gehörlose Menschen also sowieso von anderen gehörlosen umgeben, wozu brauchten sie dann eine App? Für David dagegen, der aus seinem stummen Kosmos ausgebrochen war, klang die Vorstellung einer solchen App ebenfalls abwegig: Wie hoch wäre wohl die Chance, eine gehörlose Person im gleichen Alter in der näheren Umgebung zu finden, die außerdem Single wäre und die gleiche App nutzte? Gut, vielleicht höher, als er glaubte. Aber das war ja auch nicht der einzige Anspruch, den er stellte.
„... doch unfair!", protestierte Chrissi, was David erst zu spät bemerkte. „Was ist mit dem armen Mädchen, das sich beim Texten voll in ihn verliebt und das dann beim Date feststellen muss, dass..." Sie brach ab, ohne weiterzusprechen, ihr Blick auf einmal auf Michas Gesicht gerichtet. „... so schlimm daran? David hat das gleiche Recht, jemanden zu..." Emre stieß gegen Davids Ellenbogen, als er sich zum Sprechen aufrichtete. „... hast doch Katja letztes Mal erst dazu herausgefordert, Handynummern von zwanzig Typen in zehn Minuten einzusammeln. Das war okay, aber wenn David..."
David wusste nicht, wohin er schauen sollte, bekam ein paar Worte von dem mit, was Katja mit stolzem Blick erklärte (sie hatte bereits nach acht Minuten wieder am Tisch gestanden), und winkte mit beiden Armen, um die Diskussion zu beenden. „Ich nehme die Herausforderung an!", ließ er sie wissen, zuckte mit den Schultern und griff in die Schüssel mit den Nüssen, die in der Mitte des Tisches standen.
Abends war es dann anders. David war offen mit seinen Freunden, immer ein bisschen gleichgültig, lustig. Alleine gingen ihm andere Dinge durch den Kopf und er fragte sich von Mal zu Mal, ob diese Gedanken ihn nicht eigentlich verschlossen und sorgenvoll machen müssten.
Er hatte keine Angst vor der Herausforderung. Zwar hatte er seit den Treffen mit den Töchtern ihrer Freundinnen, die seine Mutter ihm in seiner Schulzeit aufgedrängt hatte, kein Date mehr gehabt, doch er war sicher, er könnte seinen Charme herauskramen und per Nachricht mit einem Mädchen flirten. Das war ihm eigentlich nie schwergefallen und da machte es kaum einen Unterschied, ob er sich wie damals mit einer Gehörlosen unterhielt oder einer Hörenden Nachrichten schickte.
Er hatte nicht einmal Angst davor, einen hörenden Menschen mit seiner Gehörlosigkeit zu konfrontieren, der ihn vermutlich nicht verstehen würde. Er mochte die Welt der Hörenden. Sie kam ihm bunter vor, chaotischer, und er redete sich ein, er könnte dazugehören. Er brauchte als Partner niemanden, der das gleiche Schicksal teilte wie er.
Es wäre einfach, zu tun, was Katja gefordert hatte. Ein Profil erstellen, das erste gematchte Mädchen zu einem Date überzeugen, hingehen. Damit wäre sein Soll erfüllt. Es wäre einfach, aber es würde nichts bedeuten, keinen Einfluss auf ihn nehmen oder auf sein Leben.
Er hatte genau gesehen, was sie gesagt hatte, erinnerte David sich, als er längst im Bett lag, die kleine Beleuchtung aus der Steckdose die Decke erhellte. Sie hatte nicht Mädchen gesagt.
Er könnte also ein Profil erstellen und den ersten gematchten Typen zu einem Date überzeugen. Bloß wenn der ihm wirklich gefiele, könnte genau die Situation, die ihm bei einem Mädchen völlig gleichgültig wäre, ihn vor ein Problem stellen. Was, wenn der andere ihm gefiele und dann schockiert feststellen musste, dass er David einfach nicht verstehen würde?
David lud ein Foto von sich hoch (Man sah seine rauen Gesichtszüge, seine vom Grinsen entblößten Zähne, seine nicht zu bändigende dunkle Mähne und, wenn man weiter zum unteren Bildrand sah, breite Schultern und seinen Bizeps.) und gab eine grobe Beschreibung an, die nichts über seine Einschränkung verriet. Dann startete er die App und versah sämtliche angezeigte Profile mit einer positiven Bewertung.
Ein paar junge Männer waren dabei, die ihm optisch ins Auge stachen, der Großteil war jedoch nicht sein Typ. Er beschäftigte sich aufgrund seiner Aufgabe nicht mit dem Lesen der Selbstangaben, denn es wäre nicht an ihm, eine Wahl zu treffen. Die Chance, dass einer der hübschen Kandidaten der erste wäre, der sein Like erwiderte, war doch eher gering.
Er besuchte zwei Vorlesungen, setzte sich in einen leeren Seminarraum zum Nacharbeiten der Skripte und machte sich nach einem Besuch in der Cafeteria (trotz der Größe der Uni konnte die Dame an der Kasse sich schon seit der ersten Woche an ihn erinnern und unterhielt sich ab und zu mit langsam holpernden Gebärden mit ihm, da ihre Nichte wohl taubstumm sei) auf den Heimweg. David saß in der S-Bahn, als er einen Blick in die App riskierte und ihm vier Matches angezeigt wurden. Er schluckte, atmete tief durch und hoffte. Vielleicht hatte er Glück und es wäre ein Hübscher dabei. Wobei, fiel ihm auf, er eher von Glück sagen könnte, wenn der erste Kandidat ihn nicht tiefergehend interessierte. Er wollte sich schließlich nicht in jemanden vergucken, den er wegen des Spiels seiner Freunde direkt belogen hatte.
Drei Gesichter blickten ihm entgegen und ein Bild eines Roboters (Wer meldete sich mit einem solchen Bild in einer Datingapp an? Natürlich erwiderte er Davids Like, denn außer von Leuten, die eine Wette verloren hatten, bekam er auf diese Weise wohl kein Interesse.), wobei David staunte, dass er sich an ein Gesicht sogar erinnern konnte: Ein nachdenklich dreinschauender Schwarzhaariger, dessen Anblick ihm durchaus zusagte.
Er musterte die Zeitangaben der jeweiligen Match-Benachrichtigungen und seufzte trotz seines eben gefassten Beschlusses, auf einen Typen zu hoffen, der ihn optisch weniger ansprach, als es sich um einen der übrigen beiden handelte, dem Davids Profil als Erstes gefallen hatte. „Leander".
David öffnete die Seite, auf der unterhalb des Bildes ein paar Angaben des Jungen aufgelistet waren. Nun würde er sich wohl die Zeit nehmen für die Einzelheiten, um ihn entsprechend Katjas Herausforderung zu einem Date mit sich zu bewegen.
Leander (der Name kam David seltsam vor und klang eher wie aus einem Märchen als nach der realen Welt) war einundzwanzig Jahre alt, machte eine Ausbildung, er traf gerne seine Freunde und machte Judo. Langweilig, fand David. Dann tippte er das Bild an, um es zu vergrößern, und seufzte erneut. Na toll, dachte er, so einer.
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