Inspiriert von 'Cepheus'

Es war kein ' lebendig werden'. Es war kein 'aufwachen'. Es war kein 'zu Bewusstsein kommen'. Sie war einfach da. Und sie war blind. Obwohl... sahen Blinde nicht nur Schwarz? Sie sah weiß. Blütenreines, blendendes Weiß. Benommen tastete sie neben sich. Der Boden (war es Boden?) war glatt und rau zugleich. Weder warm noch kalt. Alles um sie herum entzog sich jeglicher Definition, sie entzog sich jeglicher Definition! Da war keine Haut, keine Haare, kein Gesicht, kein Körper... Sie existierte nicht... und doch war sie da. Ihre Finger (Hatte sie überhaupt Finger?) stießen gegen etwas... etwas, was DA war. Ein Stift? Mit zitternden Händen (Hatte sie überhaupt Hände?) nahm sie das kleine Ding und setzte es da an, wo sie sein müsste, zeichnete den ersten Strich. Das Grau wirkte wie Dreck zwischen dem reinen, unschuldigen Weiß, doch sie begann zu existieren. Mit jeder Linie, die sie zeichnete ein Stück mehr. Die Bleistiftmiene formte ihre geschwungenen Lippen und sofort schnappte sie gierig nach Luft. Ihre zitternden Hände schattierten ihre Augen und schon riss sie sie auf. Endlich war sie da. Endlich existierte sie... Keuchend sah sie an sich herunter. Ihr Haar war verknotet, tote Blätter und kleine Zweige hatten sich darin verfangen. Aus irgendeinem Grund trug sie ein... Hochzeitskleid? Es musste einmal weiß und wunderschön gewesen sein. Der Traum jedes kleinen Mädchens, doch es war zerrissen, mit braunen Flecken bedeckt und der Saum, der am Boden schleifte, war bereits schwarz. Darunter lugten ihre nackten Zehen hervor. Was war passiert? Was war das für ein Ort? Zu allen Seiten war es einfach nur weiß. Unmöglich festzustellen, ob dort ein Raum lag, oder eine Wand. Sie kam sich immer noch blind vor. Unsicher, immer noch den Bleistift in der Hand machte sie einen Schritt nach vorne und ließ ihn fallen, als sie erschrocken zusammenzuckte. Die Striche und Linien, aus denen sie bestand lösten sich von ihr, flossen auf den Boden und verzweigten sich, als wären sie lebendig, bis sie schließlich etwas außergewöhnliches schufen. Unter ihren nackten Füßen zeichnete sich ein Waldboden. Totes Laub, kleine Zweige, morsche Baumstämme begannen zu existieren, durch Linien und Schattierungen. Fasziniert machte sie einen weiteren Schritt. Die Striche kletterten höher, verzweigten sich zu Bäumen, schufen ein Blätterdach aus Grau. Da stand sie also. In einem abstrakten Wald, doch was machte sie hier? Die junge Frau senkte den Kopf. Warum? Wa-rum? Sie wusste es nicht. Ihre Erinnerungen waren fort... Sie war ein weißes Blatt Papier. Nicht einmal ihr Name war noch da. Nein! Wer konnte es wagen? Wer hatte sie ihrer Erinnerung bestohlen? Sie glaubte sie rufen zu hören... die verlorenen Teile von sich selbst. Tiefer in dem Wald aus Grau. Sie würde sie wiederfinden! Ihre nackten Füße knisterten leicht auf dem Laub, als sie zwischen den umwucherten Bäumen hindurch ging. Farbloser, grauer Nebel waberte ihr um die Hüfte, schien zu flüstern. "Tijana" Ihr Name... Ti-ja-na. Sie hatte ihren Namen gefunden. Immer weiter streifte sie durch den Wald. Nervosität schnùrte ihr die Kehle zu, als zwischen den Bäumen zwei Gestalten auftauchten. War das... sie selbst? Vor ein paar Jahren? Und ein Junge? Er rempelte ihr jüngeres Ich absichtlich leicht an. Die Schulbücher fielen ihr aus der Hand und sofort bückte er sich, um sie aufzusammeln. "Verdammt, tut mir das Leid! Sorry, ich hab dich nicht gesehen!" "Schon ok..." murmelte die jüngere Tijana, die ebenfalls hastig die Bücher wieder aufhob. Es war das Chemiebuch, bei dem ihre Hände sich plötzlich trafen und auch zum ersten Mal ihre Blicke. Die beiden Gestalten verschwanden, verschmolzen mit dem geisterhaften Nebel. Wer war der Junge gewesen... Wo war sein Name... sein Name war aber wichtig! Sie spürte es. Trotzdem mussten sie weiterlaufen, ohne ihn zu wissen. Langsam wurde das Meer aus Bäumen dichter, kleine Büsche ragten aus dem toten Laub. "Hey, warte!" Tijana zuckte zusammen und drehte sich erschrocken um. Der... Junge? Er rannte zwischen den Bäumen hindurch direkt auf sie zu. Der Nebel teilte sich vor ihm, als würde er nicht in diesen grauen Wald gehören. Sie blieb unschlüssig stehen, doch er nahm sie nicht einmal wahr. Um genau zu sein rannte er durch sie hindurch, wie ein Geist. Auf ihrer Zunge breitete sich ein bittersüßer Geschmack aus, als sie ihm nachsah, während er auf ihr jüngeres Ich zu rannte. Wie alt musste sie da sein? 17? "Hey!" überrascht drehte die jüngere Tijana sich um, ein verträumtes Lächeln auf den dünnen Lippen und blieb stehen. "Tijana... ich... ich muss dir etwas sagen und zwar bevor ich wieder kalte Füße bekomme." Sie konnte ihr jüngeres Ich perplex blinzeln sehen, selbst aus dieser Entfernung. Sie wäre gerne näher an die Szene heran gegangen, aber aus irgendeinem Grund wagte sie es nicht. "Tijana... ich habe mich in dich verliebt." Das junge Mädchen keuchte, ihr Lächeln wurde noch ein Stück breiter. "M-mir geht es auch so... Ich hatte nur Angst es dir..." Sie verstummte abrupt, als er ihr eine Hand auf die Schulter legte und sich leicht zu ihr herunter beugte. Einen wunderschönen Augenblick lang waren ihre Gesichter nur eine Hand breit voneinander entfernt, dann küssten sie sich. Dann verschwanden die Gestalten wieder, lösten sich wieder zu dem Nebel auf, aus dem sie gemacht waren. Sie... sie hatte einen Freund. Tijana spürte es. Die Verliebtheit nistete sich, zusammen mit der Erinnerung, tief in ihrer Brust ein und schimmerte dort, wie ein kostbarer Diamant. Doch... Dieser Junge... Sein Name... Wie war sein Name? Tijana wusste es nicht. Immer noch nicht. So musste sie weiter gehen, suchte sich ihren Weg durch tanzende Nebelschwaden. "7 Jahre." Seine Stimme war älter geworden. Erwachsener. Dieses Mal dauerte es eine Weile, bis Tijana die zwei geisterhaften Gestalten fand. Sie saßen auf dem Waldboden, ohne ihre Umgebung auch nur im Geringsten wahrzunehmen. Die andere Tijana, mittlerweile kaum noch jünger, lehnte verliebt an seiner Brust, er hatte den Arm um ihre Schultern gelegt. "Wir sind seit 7 Jahren zusammen und ich liebe dich immer noch, wie am ersten Tag." Der junge Mann lächelte, küsste die andere Tijana. "Ich dich auch." "Schatz... Ich muss dich etwas fragen." Vorsichtig löste er sich aus ihrer Umarmung und stand auf. Seine Hände zitterten leicht, als er in die Hosentasche griff und einen Kniefall machte. "Tijana... willst du mich heiraten?" Alle ihre Hemmungen verschwanden. Sie rannte über das raschelnde, graue Laub, bis sie neben ihm stand. Der geisterhaften Gestalt aus Strichen und Schattierungen. Keiner der beiden bemerkte sie. "Ja! Oh mein Gott, ja!" Eine bleistiftfarbene Träne schimmerte im Augenwinkel der jungen Frau, als er ihr den Diamantring an den Finger schob und schon lösten sich die beiden in Nebel auf. Tijana, die allein zurück blieb schlug sich die Hände vor den Mund. Sie hatte keinen Freund, sie hatte einen Verlobten! Zum ersten Mal wanderte Tijanas Blick zu ihren Händen. Da war er, der Ring. Echt und an IHRER Hand! Noch nie war sie glücklicher gewesen. Das Lächeln hielt sich hartnäckig auf ihren Lippen und als sie weiter lief federten ihre Schritte. Merkwürdiger Weise störte es sie dieses Mal nicht, dass sein Name immer noch fehlte. Auch bemerkte sie die aufkommende Kälte nicht, die sich zwischen den Schatten der toten Blätter langsam nach oben schob und auch, dass der Nebel sich zögernd lichtete, um einer lauernden, tiefen Dunkelheit Platz zu machen registrierte sie nicht. Sie fuhr sich nur immer wieder mit dem Daumen über ihren Ring und setzte ihren Weg fort. Die nächste Gestalt war alleine. Aufgeregt rannte sie zwischen den Bäumen hindurch, die langen Haare hochgesteckt und dem blütenreinen Hochzeitskleid, das einen merkwürdigen Kontrast zu der dunklen, grauen Umgebung bildete. "Schatz! Schatz, wo bist du?" Unschlüssig blieb sie stehen und zwang sich ruhig zu atmen. "Okay... Die Blumen sind noch nicht da und die Ringe sind verschwunden, aber alles wird gut. Ganz ruhig..." Ihr Kopf fuhr hoch, der Blick in ihren gehetzten Augen wurde verwirrt. Da war ein Geräusch... und die echte Tijana hörte es auch. Die kunstvollen Bleistiftstriche setzten sich in Bewegung, flossen wie ein kleiner Bach und ließen den Wald um sie herum verschwinden, formten ihn um, bis um sie herum ein langer Gang entstanden war. Tijana konnte aus irgendeinem Grund einfach nur da stehen und sich selbst zusehen, wie sie in die Richtung eine geschlossenen Tür ging und diese langsam, mit zitternden Fingern öffnete. Dort stand ihr verlobter, der noch an diesem Tag hätte ihr Mann werden sollen. Er trug den Anzug bereits, doch das war nicht das schrecklich falsche an diesem Anblick. Vor ihm stand eine Angstellte, die hier in dem Haus arbeitete, wo sie hatten heiraten wollen. Nur mit einem Slip bekleidet und die Hand an seiner Hose. Die Gestalten lösten sich auf und die grauen Linien, die der Gamg gewesen waren schlichen seelenruhig auf ihren Platz zurück und wurden wieder zu Bäumen und totem Laub. Tijana schluckte. Entteuschung, Schmerz und Trauer überrannten sie und plötzlich störte es sie nicht mehr, dass sie seinen Namen nicht wusste. Wieso hatte er ihr das angetan? Woher die Kraft kam wusste Tijana nicht, doch sie schleppte sich in ihrem verdreckten und zerissenem Hochzeitskleid noch tiefer in den Wald. Jetzt spürte sie die Kälte. Sie kroch durch die Sohlen ihrer nackten Füße in ihren Körper und ließ sie etwas blasser werden. "Tijana, bitte hör' mir zu!" Nicht noch eine Erinnerung! Sie wollte ihn nicht wieder sehen! Sie wollte allein sein... "Ich will dir aber nicht zuhören!" Dem Ich in ihrer Erinnerung schien es genauso zu gehen. Noch war ihr Kleid weiß, wie Schnee. "Bitte, Tijana! Ich liebe nur dich! Es tut mir so leid!" "Das glaube ich dir aber nicht!" Ihre Stimme wurde lauter, Wut blitzte in ihren Augen auf. "Bitte, was muss ich tun, dass du mir glaubst? Ich tue alles! ALLES! Sie hat mich an gegraben! Sie..." "Hat sie dich denn gezwungen deine Hose auf zu machen? Verschwinde einfach! Geh mir aus den Augen!" "Nein, Tijana! Ich flehe dich an. Glaub..." Die Hand der Tijana mit dem blütenweißen Kleid schloss sich um einen schweren Ast... Nein! Daran wollte sie sich nicht erinnern! Der Nebel kletterte ihr bis zur Hüfte, als die betrogene Verlobte zuschlug. Dann lösten sie sich wieder auf und der Nebel lichtete sich, gab die Sicht frei auf IHN. Keine Erinnerung, keine Geisterhafte Gestalt, die sich wieder in Nebel auflösen würde. Dieses Mal war er genau so echt, wie sie. Tijanas verlobter trug noch den Anzug, der ihm so unglaublich gut stand. Aus der Tasche seiner Jacke waren die Ringe herausgefallen, die sie zuvor noch vergebens gesucht hatte... Sein Kopf... In einem makaberen, unnatürlichen Winkel stand sein Kopf vom Rest des Körpers ab und seine Augen starrten ins Leere. Nein! Tijana keuchte, presste sich ihre Hände auf den dünnen Mund. Natürlich war sie wütend gewesen, aber die liebte ihn! Sie hätte ihm vergeben! Ein Wimmern hallte durch den grauen Wald. Das erste Geräusch, das sie von sich gab. Nein, nein Tijana konnte diesen Anblick nicht länger ertragen! Das Mädchen fuhr herum, stolperte über den Saum ihres Kleides, als sie anfing zu rennen. Die Schuld schrie in ihr, fraß sie von innen auf. So konnte sie nicht leben, nicht mit dieser Erinnerung! Das Laub raschelte und knackte unter ihren Füßen, graue Äste und Dornen zerrissen den Stoff ihres Kleides. Schließlich war Tijana wieder dort, wo sie zum ersten Mal zu sich gekommen war. Der Stift musste immer noch dort liegen! Weinend fiel sie auf die Knie, durchwühlte das Laub aus Linien und Schattierungen, bis sie das Holz des Bleistifts unter den Fingern spürte und mit ihm einen Radierer. Tijanas lange Fingernägel gruben sich in das Gummi, als sie es auf ihrer gezeichneten Haut ansetzte. Das Weiß zerriss die grauen Linien, verschluckte Schattierungen und die junge Frau schrie auf. Ihre Haut, ihre Augen und ihr ganzes Gesicht wurde zerrissen, bis es nicht mehr da war, bis nur noch ein weißer Fleck zurück blieb, ein unbeschriebenes Blatt Papier. Der Wald um sie herum begann in sich zusammen zu sinken, das grau machte dem unschuldigen Weiß Platz und verkroch sich eingeschüchtert zurück in den Stift. Der Schmerz und die Schuld waren verschwunden, doch... Es war kein 'lebendig werden'. Es war kein 'aufwachen'. Es war kein 'zu Bewusstsein kommen'. Sie war einfach da...

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