Ihre zweite Chance (Mystery-Thriller) + Hörbuch!
Mein Gewinnerbeitrag zu "Schicksalshafte Begegnung " von WattpadParanormalDE und WattpadAfterDarkDE.
Großartig gruselig lesen von @Taybor auf YouTube:
Ein Ast peitschte ihr ins Gesicht und hinterließ einen blutigen Striemen auf der Wange. In mondloser Finsternis stolperte die junge Magd orientierungslos durch den Wald. Gehässige Dornen zerrten an ihrem grobgewebten Kleid und knorrige Eichenwurzeln versuchten, sie zu Fall zu bringen. Aufziehender Nebel waberte zwischen den mannsdicken Stämmen und verdrängte das letzte Licht der kalt blickenden Sterne.
In ihrer Brust hämmerte das Herz und presste ihren schnellen Atem in kurzen Stößen hinaus. Es ging nicht mehr. Schwer atmend blieb sie stehen. Warf einen gehetzten Blick in den finsteren Nebel. Doch ihr Verfolger würde sich nicht abschütteln lassen. Nicht von einer einfachen Magd.
Eine zarte Berührung, als wäre einer der Nebelfetzen lebendig geworden, streifte ihren Arm. Ein spitzer Schrei entrang sich ihrer Kehle. Gänsehaut breitete sich vor Erregung über ihren gesamten Körper aus. Die Furcht schien von ihr abzufallen, sie vergessen zu lassen, in welche Gefahr sie sich befand.
Aus dem Nebel formte sich die Fratze des Vampirs, der sie verfolgte. Direkt neben ihrem Kopf. Knapp außerhalb ihres Sichtfeldes. Er flüsterte in ihr Ohr: „Das Spiel beginnt."
„Graf von ...", die Magd stockt und scheint nach Worten zu ringen.
„CUT! STOPP!" Klack. Grelles Licht verdrängt die indirekte blaue Beleuchtung, die die Nacht im Wald simulieren sollte. Gegenüber den künstlichen Baumstümpfen erhoben sich sichtlich genervte Kollegen hinter den Linsen der Kameras, langstieligen Mikrofonarmen und von stoffbespannten Stühlen.
„Oh, Mann, Melanie. Es ist doch nur ein Satz!" Wulf, ihr bärtiger Regisseur, steht auf und wirft seine Arme in die Luft. „Graf von Plymoth-Westminsterby, seid ihr das? Damit geht die Szene eigentlich erst richtig los. Danach kommt John aus dem Nebel, auf Grund deines von seinen Künsten vernebelten Geistes küsst du ihn, und so weiter und so fort ..."
Ihre Wangen heizten sich merklich auf, gut dass sie ein dickes Film-Make-up trug. Das war heute Abend bereits der sechste Versuch. Aber hätte sich dieser idiotische Drehbuchautor nicht einen simpleren Namen ausdenken können? Graf Dracula, zum Beispiel und nicht Graf von Plym ... irgendwas. Scheiße. Sie hatte es schon wieder vergessen.
„Sorry, Wulf", antwortete sie, „wollen wir es nochmals probieren?"
„Nein, ist in Ordnung, wir sind nach dem Tag heute alle durch. Es ist kurz vor acht." Damit wendete er sich an die Crew: „Das wars Leute! Wir machen Schluss! Morgen früh um sieben geht es weiter. Und du Melanie", er deutete mit dem Zeigefinger auf sie, „lernst deinen Text anständig. Jede Drehminute kostet Geld."
„Aye, aye, Sir", antwortete sie und salutierte.
Kurz darauf machte sie sich auf den Weg in Richtung Maske. Fast acht. So ein Mist. Sie wäre erst gegen zehn zu Hause und hatte Robert versprochen zum Abendessen da zu sein. Nice try. Immerhin dürfte um diese Zeit kein Stau mehr auf der Autobahn zwischen den Studios hier in Babelsberg und ihrem Häuschen in Markendorf sein. Ihr Mann hatte es von seinen Großeltern geerbt. Leider. Günstiger zu wohnen, war kaum möglich. Weiter weg von Berlin, kurz vor der polnischen Grenze bei Frankfurt an der Oder, jedoch ebenfalls nicht. Seufzend schlenderte sie in die Maske und ließ sich abschminken. Leider hatte sie hier nur eine Nebenrolle und wartete immer noch auf den großen Durchbruch.
↼⇁
Wie erwartet, fuhr sie erst kurz vor zehn mit knirschenden Reifen auf die regennasse Auffahrt ihres Hauses. Bei ihrem weißen Toyota Corolla, dessen fünfstellige Kilometeranzeige sich schon mindestens zweimal über die 99.999 gedreht hatte, fragte sie sich, wann die Karre endgültig ihren Geist aufgab.
Nanu? Das Haus war komplett unbeleuchtet. Normalerweise war Robert um diese Zeit noch hellwach. Zumindest im Schlafzimmer hätte sie flackerndes Fernsehlicht erwartet. Bevor sie losgefahren war, hatte sie ihm per WhatsApp Bescheid gegeben und er hatte geantwortet. Als Einkäufer eines Lebensmittelgroßhändlers war er oft genug tagelang auf Dienstreise. Aber nicht diese Woche.
Langsam stieg sie aus, griff ihre Tasche und schaute nochmals auf das Handydisplay zwischen den Katzenöhrchen ihrer Hülle. Keine Nachricht. Sich die Kapuze überwerfend lief sie zügig zur Haustür. Diese entsprach noch dem Geschmack von Roberts Großeltern: Dunkel, hölzern und massiv. Daran würden sich Einbrecher daran die Zähne ausbeißen.
Ihr Herz setzte einen Schlag aus, nur um diesen umso heftiger nachzuholen. Das Türblatt war nur angelehnt. Es stand einen Spalt offen. Dahinter nichts als tintenartige Finsternis, die jeden verschluckte, der dort in den Schaffen lauern könnte. Auch das rettende Außenlicht sprang trotz ihres Bewegungsmelders, den sie erst letzten Sommer mühsam angeschraubt hatten, nicht an.
„Robert?" Es war ein Krächzen, das in ihrem trockenen Hals stecken blieb. Nicht mehr als die Ahnung eines Flüsterns anstelle des selbstbewussten Rufens, das ihr vorschwebte.
Was war passiert? Hatte er unachtsam die Tür vergessen und schlief bereits? Hatte er einen Unfall und war mit einem Krankenwagen abgeholt worden? Oder hatte er Einbrechern die Tür geöffnet? Ihr Haus lag verwaist etwas abseits der Hauptstraße und sah optisch nach alten Leuten aus. Ein lohnendes Ziel für die osteuropäischen Banden, von denen sie in der Presse gelesen hatte.
Unschlüssig stand sie vor dem Türspalt. Einzelne Regentropfen zerplatzten auf dem Marmor der Türschwelle und klatschten auf ihr Wollkleid. Sollte sie direkt die Polizei rufen? Nein. Das war albern. Vermutlich schlief ihr Mann und würde sie gleich auslachen, sobald sie das Licht einschaltete und die knarzenden Stufen zu ihrem Schlafzimmer hinaufschlich.
„Robert?!", versuchte sie es nochmals deutlicher. Als Antwort erhielt sie nur das Prasseln der stärker werdenden Tropfen. Es half nichts. Im Regen stehen zu bleiben, war keine Option. Und falls es Einbrecher waren, wären die schon längst über alle Berge. Ganz sicher.
Langsam streckte sie ihre Hand durch den Türschlitz. Tastete blind nach dem abgerundeten Plastikschalter auf der rechten Seite. Er kippte mit einem trockenen Klacken nach unten. Ein greller Blitz schoss in ihre Augen, als die LED-Strahler im Flur aufflammten. Einen Moment sah sie nur rote und gelbe Punkte. Verflucht. Manchmal war sie echt ein Tollpatsch.
Sekunden später hatte sie sich an die Helligkeit gewöhnt und ein Lichtkeil fiel vor ihr auf die nasse Türschwelle. Nichts Besonderes, beruhigte sie sich, schob die schwere Haustür auf und trat in die Diele. Glas knirschte unter ihren Sohlen. Die nächste Schockwelle überrollte sie, ließ ihren Puls auf 180 schießen und alle Befürchtungen, die sie erfolgreich verdrängt hatte, wie einen dichten Schauer auf sie einprasseln.
Nichts war normal. Aufgerissene Schubladen ihrer Biedermeier-Kommode und deren Inhalt waren auf den weißen Fliesen verteilt. Schlüssel, Münzen, Batterien, Taschentücher und all der andere Krimskrams für den sie nie einen passenden Platz fanden. Die Rahmen der selbstgeschossenen Landschaftsfotos lagen zersplittert auf dem Boden, das Papier zerrissen. Das rot lackierte Schuhregal umgekippt, ihre Pumps wild verstreut.
„ROBERT!" Oh, Gott. Mehr schlitternd als rennend war sie mit einem Satz im Wohnzimmer; hämmerte auf den Lichtschalter und wurde von zerbrochenen Stuhlbeinen, aufgeschlitzten Kissen, herausgerissenen Tapeten und umgeworfenen Schränken empfangen. „ROBERT! Bist du hier?"
Schweigen. Kein Geräusch außer ihr wummerndes Herz und hektischer Atem. Mit langen Schritten rannte sie immer zwei Stufen auf einmal nehmend in den ersten Stock. Sie wich zerfetzten Vorhängen aus, die auf der Treppe lagen, und ignorierte ihr zerstörtes Heim, dass sie sich in den letzten drei Jahren in mühevoller Kleinarbeit aufgebaut hatten. Was hatten die Einbrecher mit Robert gemacht, wenn sie ihr Haus dermaßen verwüstet hatten?
Im ersten Stock war er nicht. Nicht im Schlafzimmer, im Bad, Besenkammer oder Gästezimmer. Auch nicht im Erdgeschoss, Keller, Garage und sogar im Speicher schaute sie nach. Schrie seinen Namen. Erfolglos. Überall pure, blindwütige Zerstörung. Nur ihr Mann, der war nicht zu finden.
Abgehetzt und außer Atem stand sie im Chaos des Wohnzimmers. Raufte sich die Haare. Was war passiert? Zum ersten Mal, seit sie hereingekommen war, brachen klare Gedanken durch die Oberfläche ihrer tiefen Panik, die bisher ihr Handeln bestimmt hatte. Wo war Robert? Und warum hatte jemand ihr Haus vollständig und brachial zerlegt? Normale Einbrecher machten so etwas doch nicht, oder?
Die Polizei. Logisch. Sie musste direkt die Polizei verständigen. Sicher wussten die, was zu tun war. Zügig griff sie nach ihrem Handy und wählte 110. Ihr Daumen verharrte zögerlich schwebend über dem grünleuchtenden Button mit dem Telefonhörer. Drück mich und alles wird gut, schien er zu schreien. Aber aus den Augenwinkeln nahm sie etwas wahr, das nicht hierhergehörte. Das war ein Witz. In diesem Raum war nichts mehr, wie es sein sollte. Trotzdem wandte sie sich um.
Auf dem gläsernen Wohnzimmertisch ruhte zwischen zerfetzten Illustrierten und aufgerissenen Briefumschlägen ein mit rotbraunem Leder beschlagener Kasten in der Größe eines Schuhkartons. Geschlossen und unberührt. Sie war sich sicher, dass sie keinen Koffer dieser Art besaßen. Messingknöpfe glänzten an den Ecken und er hatte einem Deckel, der sich abheben ließ. Ein mechanischer Verschluss an der Vorderseite verstärkte den Eindruck eines edlen Aktenkoffers, nur dass die Form nicht passte.
Das Handy mit der dicken 110 auf dem Display zur Seite legend hockte sie sich vor den Tisch. Dieser Koffer war ihr definitiv unbekannt. Sollte sie ihn öffnen oder erst die Polizei rufen? Sicher stand der Kasten nicht zufällig hier. Ihre verschwitzten Fingerkuppen glitten über den Verschluss und öffneten ihn klackend. Mit Bedacht schob sie den Deckel nach oben.
Im ersten Moment kapierte sie nicht, was dort vor ihr lag. Das machte einfach keinen Sinn. Sie fuhr mit den Händen durch den Inhalt und holte einzelne Teile heraus: Rote, grüne und gelbe Banknoten diverser Währungen, Dollar, Euro, Kronen, Schweizer Franken; Kreditkarten von Visa, Master, Diners mit unterschiedlichen männlichen Namen; weinrote und königsblaue Reisepässe für US-Bürger, Deutsche, Franzosen, Israelis und sogar Russen. Als sie diese aufblätterte, hatten sie alles eines gemeinsam: Roberts Antlitz starrte ihr entgegen. Mal mit Bart oder Brille, mal mit langen Haaren und mal mit kurzen. Aber er war es. Unverkennbar. Auch das Geburtsdatum war immer nahe an seinem. Nur die Namen und Adressen, die hatten nichts mit ihrem Ehemann gemein. Obendrauf lag ein leeres Pistolenhalfter, um das eindeutige Bild komplett zu machen.
Sekundenlang starrte sie auf die Ausrüstung eines typischen Agenten, wie bei James Bond, Jason Bourne oder Ethan Hunt. Fassungslos ließ sie die einzelnen Teile auf den Wohnzimmertisch regnen. War das Versteckte Kamera? Oder irgendein kranker Prank von Roberts Freunden? Stürmten gleich alle herein und feierten ihren Umzug in ein schickes neues Zuhause? Nein. Das war Blödsinn. Trotzdem. Was dort vor ihr lag, ließ ihr zerstörtes Haus in einem gänzlich anderen Licht erscheinen: Hier war keine osteuropäische Einbrecherbande durchgezogen und keine bedröhnten Jugendlichen, die nichts mit ihrer Zeit anzufangen wussten. Das Bild war eindeutig: Jemand hatte es systematisch durchsucht.
Und dieser Jemand hatte den Kasten nicht versehentlich vergessen, sondern bewusst in der Mitte des Wohnzimmers drapiert. Sie sollte ihn finden. Nochmals schaute sie sich den Inhalt genauer an. Ein leeres Pistolenhalfter? Warum leer? Das passte nicht. Als sie das braune Leder anhob, segelte ihr ein gefalteter Zettel entgegen.
Gerade erst hatte sich ihr Herz trotz all der Fassungslosigkeit beruhig, da schoss das wummernde Blut erneut durch ihre Ohren. Mit zitternden Fingern faltete sie das Blatt auseinander. In schnörkelloser Computerschrift stand dort:
Finde den Umschlag.
Öffne ihn nicht.
Bring ihn bis spätestens heute um Mitternacht zu folgenden Koordinaten.
Sonst stirbt dein Mann.
Darunter zwei Zahlenkolonnen, die ihr nichts sagten.
Nochmals schaute sie sich um. Das musste ein Witz sein. Also doch Versteckte Kamera.
„Ha, ha, ja, sehr witzig!", rief sie in den Raum, drehte sich im Kreis und suchte nach möglichen Verstecken für Kameras. Sicher käme gleich der platinblonde Moderator hämisch lachend wie ein Springteufel hervorgehüpft. „Ihr könnt rauskommen! Habt die Möbel ausgeräumt und stattdessen diesen Schrott hinterlassen. Seeehr lustig! Mir ist schon klar, wie der Trick funktioniert. Ich habe es kapiiiihiert."
Bis auf das Prasseln dicker Tropfen, die auf die schwarzen Scheiben ihrer Fenster klatschten, blieb es still. Kein Kamerateam oder Moderator, der sich freute, sie hereingelegt zu haben.
Eine Gänsehaut zog sich über ihren Rücken. Langsam dämmerte ihr, dass das kein fieser Prank war, sondern bittere Realität. Für eine Fernsehshow würde man nicht Tapeten herunterreißen. Außerdem waren das eindeutig ihre zersplitterten Möbel, zerfetzen Kissen und Fotos. Nicht irgendwelche.
Und jetzt?
Die Polizei! Sie hob das Handy. Die 110 und der grüne Knopf warteten nach wie vor darauf, sie zu erlösen. Aber ihr Daumen wollte sich nicht senken. Festgefroren verharrte er erneut. Ließ sich nicht mit der größten Willensanstrengung herabdrücken. Bis Mitternacht stand auf dem Zettel. Ansonsten würden sie Robert töten. Sie hatte keinen Grund, das zu bezweifeln. Den Kasten hatten sie ihr hiergelassen, um zu zeigen, dass ihr Mann offenbar für einen Nachrichtendienst arbeitete. Von wegen lange Auslandsreisen für Lieferantenverhandlungen. Es war bereits halb elf. Nur noch knappe 90 Minuten bis Mitternacht. Käme die Polizei und hätte sie alles erklärt, wären diese längst vorbei. Vermutlich schickten die zunächst eine Streife, um zu prüfen, wer die Verrückte mit der irren Geschichte war. Bestenfalls.
Verflucht. Niemand würde ihr helfen.
Aus irgendeinem Grund nahmen die Entführer an, sie wüsste, um welchen Umschlag es ginge oder wo dieser zu finden wäre. Und selbst wenn sie ihn fand, sie musste zu diesen Koordinaten fahren. Wie zum Teufel sollte sie das anstellen? Sie war doch kein Geheimagent! Okay. Ruhig Blut. Weiß man etwas nicht, googelt man es oder fragt ChatGPT.
Zehn Minuten später war sie schlauer: Die Zahlen waren Koordinaten und führten zu einem Gehöft in Drzewce in Polen, dass man laut ChatGPT „Dschev-tseh" aussprach. Wissen, das die Welt nicht braucht. Die Satellitenkarten von Maps waren da schon hilfreicher: Viel Wald und ein Bauernhof. Einsam im Nirgendwo ca. 45 Minuten von hier.
Fuck! Damit blieb ihr jetzt noch etwa eine halbe Stunde.
Los, Melanie, denk nach. Roberts Leben hängt davon ab. Umschlag. Versteck. Hier wurde bereits alles durchsucht und zerlegt. Irgendwo draußen? In der Garage? Sicher nicht, die würden sich nicht auf das Haus beschränkt haben. Eventuell vergraben? Dann fände sie ihn ebenfalls nicht.
Was blieb? Der Kamin! Dort lagen alte Kohlen und Holz – aber eher zu dekorativen Zwecken. Der Schornstein war bereits zu Zeiten von Roberts Eltern innen teils eingebrochen und damit nicht mehr nutzbar. Zügig lief sie hinüber. Langte mit dem Arm hinein und tastete herum. Erfolglos. Klar. Das würden die Entführer auch gemacht haben. Die Ascheschublade! Sie war geschlossen und niemals entleert worden. Außerdem würde niemand einen Papierumschlag im Kamin verstecken, falls dieser den Eindruck machte, noch in Benutzung zu sein.
Quietschend und schaben schob sie das Teil halb heraus und wedelte die Asche mit der bereits schwarzen Hand zur Seite. Volltreffer! Ein hellbrauner A4-Umschlag! Als sie ihn heraushob und den Staub wegblies, wurde ein rot gedruckter Schriftzug „STRENG GEHEIM" sowie der deutsche Bundesadler auf einem Klebesiegel deutlich.
Sollte sie nachschauen? Nein, denk gar nicht daran, Melanie. Die Anweisung war eindeutig. Jetzt hatte sie gerade noch genug Zeit, um das Ziel bis Mitternacht zu erreichen. Also los!
Nach einem kurzen Spurt durch strömenden Regen setzte sie mit quietschendem Reifen zurück und drückte das Gaspedal bis zum Anschlag. Hoffentlich gab die alte Karre zwischendurch nicht den Geist auf. Wäre nicht das erste Mal, bei einem solchen Platzregen.
↼⇁
An der Grenze gab es zum Glück aktuell keine Kontrolle und keinen ewigen Lkw-Stau, sodass sie kurz darauf bereits über polnische Landstraßen holperte. Finstere Nadelwälder zogen im schwächelnden Kegel ihrer Scheinwerfer vorbei. Auf diesen Straßen fuhr um diese Zeit niemand. Warum auch. Es ging mitten hinein ins Nirgendwo. Wenn ihr hier etwas zustieße, würde keiner was erfahren. Bei dem Gedanken schluckte sie. Daran hatte sie noch nicht gedacht. Sobald Roberts Entführer den Umschlag hatten, gab es keinen Grund sie beide am Leben zu lassen. Das hier war keine coole Agentengeschichte, sondern bittere Realität. Aber hatte sie eine Wahl? Nein.
„Das Ziel befindet sich in 100 Metern auf der rechten Seite", kam die quäkende Stimme aus ihrem Handy. Mit schlitternden Reifen ließ sie das Auto am Straßenrand zum Stehen kommen. Laut Maps musste sie weitere 500 Schritte in den Wald wandern. Hoffentlich gab es wenigstens einen begehbaren Weg.
Der Regen hatte aufgehört, als sie die Tür ihres Corollas mit Bedacht zudrückte. Feuchtigkeit hing in der Luft und verdichtete sich zu dunstigen Wolken. Leider gab es keinen Weg. Sie würde sich durch das Unterholz schlagen müssen. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass das verdammt knapp würde. Es war zehn vor zwölf. Das Handy mit dem Richtungspfeil vor sich haltend schob sie die nassen Zweige zur Seite. Nach wenigen Metern waren ihre Sneakers vollgesogen und sie hatte in der pechschwarzen Dunkelheit jede Orientierung verloren. Hoffentlich funktionierte die Richtungsanzeige. Sie musste sich beeilen und schritt weiter aus. Die Büsche lichteten sich und kurz darauf kam sie im Laufschritt voran. Schneller, Melanie, trieb sie sich an und sprintete los.
Autsch! Ein Ast peitschte ihr ins Gesicht und hinterließ ein heißes Brennen auf ihrer Wange. Orientierungslos stolperte sie durch den Wald. Gehässige Dornen zerrten an ihrem Rock und knorrige Wurzeln versuchten sie zu Fall zu bringen. Aufziehender Nebel waberte zwischen den dicken Stämmen und nahm ihr das letzte bisschen Orientierung.
Sie bemerkte ihr vor Aufregung und Anstrengung hämmerndes Herz. Ihr Atem kam nur stoßweise. Es ging nicht mehr, sie brauchte einen Augenblick Pause. Nur eine Minute. Schwer atmend stützte sie ihre Hände auf die Knie und warf einen gehetzten Blick in den finsteren Nebel. Erwarteten sie die Entführer bereits?
Eine zarte Berührung, als wäre einer der Nebelfetzen lebendig geworden, streifte ihren Arm. Mit einem Spitzen schrei sprang sie zurück. Was zum Teufel war das? Für einen Moment vergaß sie, in welcher Gefahr Robert schwebte.
Eine raue Männerstimme flüsterte ihr ins Ohr: „Das Spiel beginnt."
„Hey!", schrie sie. „Was soll das?"
„CUT! STOPP!" Klack. Das laute Rufen von Wulf, ihres Regisseurs, und grelles Licht verdrängten die Schatten der Nacht. Der dichte Nebel verpuffte in dem Moment, in dem sich die zugehörige Maschine abschaltete. Ihr gegenüber im Studio erhoben sich sichtlich genervte Kollegen hinter den Linsen der Kameras, langstieligen Mikrofonarmen und von stoffbespannten Stühlen.
Was zum Teufel ...? Ihre Panik wich schlagartig Verwirrung. Wie kam sie hierher? War sie nicht eben lebensmüde in einem finsteren polnischen Tannenwald unterwegs gewesen? Hinter ihr befanden sich keine Fichten mehr, sondern nur noch überdimensionale Eichenstümpfe aus Pappmaschee.
Robert! Sie musste ihn sofort anrufen! Was auch immer hier passierte – es war ihre zweite Chance, die Geschichte nochmals zu drehen.
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