Dickbespachtelte Plätzchen (ein Janette Müller Krimi)
Mein Beitrag zum "24 Türchen - Community Adventskalender" 2022.
Organisiert und veröffentlicht von Jen3er.
Artwork als Bonusmaterial.
GEWINNER des "Mord in anderen Sphären" Contest von WattpadActionDE 😁
Seine weit ausgestreckten Arme haben Engelsflügel in weißen Staub gezeichnet. Hauptkommissarin Janette Müller ließ die Szenerie auf sich wirken. Es erinnerte an einen Schneeengel. Der passende burgunderrote Heiligenschein angetrockneten Blutes, der sich unter dem Kopf des Toten mit anklagend zur Decke gerichteten Augen ausgebreitet hatte, vervollständigte das Bild.
Auf langen Tischen stapelten sich mit Folie geschützte Adventsgedecke. Pappteller mit überbordend dekorierten Plätzchen, silberne Kügelchen, güldene Sterne, glänzende Schokoglasur, dicker Zuckerguss. Übelkeit stieg in ihrer Magengegend auf. Diese unnötig mit künstlichen Lebensmitteln beklebten, fetten Kalorienbomben hasste sie wie die Pest. Wie das ganze Weihnachtsgedöns.
Es blitzte. Die Kollegen der Spurensicherung hielten jedes Detail penibel auf digitalen Datenträgern fest.
„Jochen", fragte sie oben auf der Treppe stehend den leitenden Beamten vor Ort, „was haben wir?"
„Eine Festtagsleiche."
„Scherzkeks. Geschenke und Rotwein gibt es erst heute Abend bei deiner Frau. Erzähl mir lieber etwas über die Leiche. Selbstmord können wir wohl ausschließen."
„Niko Rotnase, 60 Jahre, Chef dieses Catering-Unternehmens. Ist vermutlich bei dir oben auf der Betontreppe ausgerutscht, unglücklich gefallen und zack." Er klopfte sich mit der flachen Hand auf den Hinterkopf.
„Hm ... und was ist mir den pittoresken Flügeln? Hat er die selbst mit den Armen in den Mehlstaub gezeichnet oder war das irgendein Psychopath, der uns eine Grußkarte hinterlassen hat?"
Jochen schaute auf seinen Notizblock. „Zumindest gab es keine Fußspuren im Mehl, als die Ersthelfer ankamen. Wenn, dann war es ein geschickter Täter."
„Und ein ziemlich kranker noch dazu. Oder es ist eine Botschaft", resümierte sie.
❆ ❅ ❆
Draußen vor der Tür des Catering-Betriebes stehend beobachtete sie die Kinder aus der Nachbarschaft, die sich lachend und tollend mit Schneebällen beschmissen. Ein Mädchen im Schneeanzug warf sich mit den Rücken in das tiefe Weiß und produzierte einen Schneeengel. Wie den im Keller. Auf der anderen Seite des winzigen Parks stand eine schwarzhaarige Mittfünfzigerin mit einer dampfenden Tasse und schaute herüber. Eventuell die Oma, die auf ihre Enkel aufpasste? Kein Wunder, hier parkte das halbe Revier hinter rot-weißem Flatterband. Blaulicht flackerte über die Jugendstil-Fassaden. Die Gasse war nicht weit von der Münchener Leopoldstraße entfernt.
„I-hin der Weihnachts-bäcke-rei" dudelte die viel zu eingängige Melodie aus versteckten Lautsprechern. Na prima. Erst das eklige Adventsgebäck, jetzt grenzdebile Lieder, von denen sie Ohrenkrebs bekam.
Oh, Sch...! Es war kurz vor 14:00 Uhr! Mit einem Satz sprang sie ihn ihren Dienstwagen und setzte mit durchdrehenden Reifen zurück. Morgen kämen ihre verhassten zukünftigen Schwiegereltern vorbei. Zum ersten Mal. Noch mehr süßliches Gebäck und Kinderlieder. Bah. Dazu edle Bio-Festtagsgans, die ihr Freund Andreas mit viel Liebe zubereiten würde. Sie hatte ihm versprochen, den vorbestellten toten Vogel vom Feinkostgeschäft abzuholen, als der Funkspruch mit dem Leichenfund hereinkam.
Der Laden schloss bereits. Das war mehr als sportlich. Sollte sie es probieren? Vielleicht hatte sie Glück und das Geschäft hatte heute länger geöffnet. Eile war angesagt. Mit Blaulicht und Martinshorn jagte sie gnadenlos ihre dienstliche Mittelklassekarosse durch die Münchner Innenstadt. Autos fuhren an den Straßenrand, Fußgänger mit Tüten hochpreisiger Marken sprangen panisch zur Seite. Das würde einen Rüffel von ihrem Chef geben. Dienstanmaßung und so. Egal. Gans und zukünftiger Familienfrieden waren wichtiger. Ihre Beziehung litt unter den unsäglichen Dienstzeiten. Und darunter, dass sie oft ihre Arbeit über das Private stellte.
❆ ❅ ❆
Schlitternd rumpelte ihr Auto über den Bordstein vor dem Spezialitätenladen „Feinkost Pflanzerl". Sie riss die Tür auf. Nein! 14:15. Die schmale Ladenfront war noch beleuchtet, jedoch niemand mehr hinter der Theke zu sehen. Mit langen Schritten platschte sie durch den Schneematsch zur engen Eingangstür. Falls sie Glück hatte, würde jemand ihr Klopfen hören und die Gans herausreichen.
Keuchend hämmerte sie gegen die Glasscheibe. Keine Reaktion. Oh Mann. Erster Weihnachtstag mit zukünftigen Schwiegereltern und ohne Braten. Zwei Desaster epischen Ausmaßes, die ihre Beziehung massiv erschüttern würden.
Alles Bollern half nichts. Niemand kam. Die Tür stand einen Spalt offen. Hatte man vergessen abzuschließen? In diesem Fall wären Angestellte im Laden. Glück gehabt!
„Hallo!", rief sie in den leeren Geschäftsraum und drückte die Tür mit Bedacht auf. Ein automatisches Klingeln kündigte ihren Besuch an. „Ist jemand hier? Ich komme wegen des Bratens für Müller!"
Bis auf das Gedudel leiser Weihnachtsmusik herrschte Stille. „I-hin der Weihnachts-bäcke-rei". Was sonst. Heute war nicht ihr Tag. Sie schaute sich drinnen um und rief erneut. Die Theke war nicht komplett ausgeräumt. Aber auch in den nächsten 3-4 Minuten tat sich nichts. Seltsam. Mit Bedacht trat sie hinter den Tresen und öffnete eine Schwingtür, die in Richtung der inneren Räumlichkeiten führte.
„Hallo? Polizei! Hauptkommissarin Janette Müller. Ist alles in Ordnung bei Ihnen? Ich komme jetzt herein." Sie kündigte sich offiziell an, um sich später nicht vorwerfen zu lassen, sie hätte das Protokoll verletzt.
Der Raum war finster. Wer ließ vorne den Laden offen und schaltete hinten das Licht aus? Langsam zog sie die Dienstwaffe, rief erneut lautstark ihr Sprüchlein und tastete nach einem Lichtschalter. Mit einem Klacken erhellte sich ein fünf Schritt messender Lagerraum. Auf Metallregalen stapelten sich eingelegte Oliven, Anchovis, Antipasti, italienische Pasta, Risottoreis, Milch, Zucker, Eier, Gewürzdosen und das obligatorische weihnachtliche Gebäck. Oblaten, Dominowürfel und dickbespachtelte Plätzchen. War klar. Hinzu kam ein hutzeliger Holztisch mit abgewetztem Stuhl.
Ihre Gans war nicht zu sehen. Auch sonst niemand. Eine Tür führte scheinbar raus in den Hinterhof. Sie war angelehnt. Einige Schneeflocken wehten herein. Die zweite sah nach Kühlraum aus. Vorsichtig schlich sie hinüber, drückte den schweren Riegel runter und schob sie auf. Grelles Neonlicht flammte automatisch auf und ein kühler Luftzug ließ sie frösteln.
Ein Déjà-vu. Vor ihr mitten im Raum lag lang ausgestreckt eine kräftige männliche Person mit Halbglatze im weißen Kittel auf dem Bauch. Eine frische Blutlache breitete sich neben dem Schädel aus. Ein massiver Feuerlöscher lag daneben auf dem Boden, vermutlich die Tatwaffe. Zügig schaute sie sich mit erhobener Waffe um, aber außer Regalen mit Kühlwaren sowie einem Paket mit der handgemalten roten Aufschrift „Müller" war der Raum leer. Verstecken unmöglich. Die schwere Tür schloss sich automatisch mit einem metallischen Knall. Egal.
Mit zwei Schritten war sie bei dem Verletzten und ertastete den Puls. Er schlug nicht mehr. Verflucht! Zügig holte sie ihr Handy aus der Tasche und wählte 112. Kein Netz. Mist. Ein Tag zum Mäusemelken. Sie sprintete zur Tür und riss den Riegel herunter. Oder auch nicht. Der Mechanismus blockierte nach ein paar Zentimetern. Was zum ...?!
„Hey!", schrie sie und bollerte gegen das Metall. „Das ist nicht witzig! Polizei! Aufmachen! Hier ist ein Schwerverletzter!"
Keine Reaktion. Mechanik defekt? Eher nicht, das war ein simpler Riegel, der sich von beiden Seiten herunterdrücken ließ. Jemand hatte sie eingesperrt! Verflucht. Vermutlich hatte der Mörder im Hinterhof nur darauf gewartet, dass sie diesen Fehler beging und die Tür mit dem Stuhl blockiert. Selbst schuld einfältige Kuh, schoss ihr durch den Kopf. Warum hast du nicht vorschriftsgemäß erst die Türen gesichert und die Kollegen verständigt? Mist. Jetzt saß sie ohne Kommunikation mit einer Leiche und Andreas Weihnachtsgans bei maximal 5 Grad Celsius fest.
Eine halbe Stunde später hatte sie alle Möglichkeiten, welche die Kammer bot, ausgelotet. Es gab keinen Handyempfang, in keiner der Ecken. Die Tür mit Gewalt zu öffnen unmöglich. Wie lange überlebte sie bei dieser Temperatur? Wenn es schlecht liefe, käme hier erst in drei Tagen jemand vorbei. Oh Mann. In Bewegung bleiben, war das Wichtigste. Ihre Körpertemperatur durfte auf Dauer nicht mehr als zwei Grad fallen.
Vier Stunden und ein paar Hundert Hampelmänner später rumpelte es draußen. Die Tür öffnete sich und das Gesicht eines Streifenpolizisten, dessen Name ihr nicht einfiel, spähte herein.
„Endlich! Wurde auch Zeit. Ich dachte schon, ich würde die ganzen Feiertage hier verbringen."
Damit ließ sie ihren verdutzten Kollegen stehen und sprintete zum Auto.
❆ ❅ ❆
„Hallo Schatz ... Nein, den Braten durfte ich nicht mitnehmen ... Weil es ein Tatort ist, mit Leiche und allem Drum und Dran, Herrgott!" Entnervt hieb sie auf den roten Button. Sie saß im Blaulichtgeflacker in ihrem Wagen und stützte ihre Stirn das Lenkrad. Die Heizung lief volle Pulle. Langsam kehrte Wärme in ihre ausgekühlten Knochen zurück. Als wenn es nichts Wichtigeres gäbe als eine Gans. Andreas hätte sich wenigstens erkundigen können, wie es ihr ginge. Aus dem Radio erschallte ein fröhlich-debiles „I-hin der Weihnachts-bäcke-rei". Mit einem kräftigen Schlag brachte sie es zum Verstummen.
Zurück zu den Leichen: Heiligabend. Zwei Tote. Beide ermordet. Das war kein Zufall. Von wem und warum? Erneut rief sie ihren Kollegen Jochen an. Der erkundigte sich nach ihrem Befinden. Sie sollte ihre Beziehung zur Gans und Andreas nochmals gründlich überdenken.
„Hast du was für mich?", fragte sie.
„Ja. Die beiden waren Konkurrenten. Haben sich um einen prestigeträchtigen Auftrag gebalgt. Das Catering für das Spendencafé des Stadtrates am 28.12. Bis letztes Jahr, hat ihn immer Pflanzerl erhalten. Dieses Jahr wurde das lukrative Geschäft an Rotnase vergeben. Unter dubiosen Umständen."
„Okay. Pflanzerl hätte ein Motiv. Aber der ist ebenfalls tot."
„Wenn zwei sich streiten ..."
„Ja, ja. Und wer ist der Dritte?"
„Vermutlich blond."
„Blond?", fragte sie irritiert.
„Ja. Die SpuSi hat ein auffälliges blondes Haar nahe beider Leichen gefunden. Unabhängig davon haben sich nur die beiden auf den Auftrag beworben. Es ist anzunehmen, dass man ihn kurzfristig am 27. vergibt. An wen ist unklar."
„Dann muss es etwas anderes sein."
„Wenn du das sagst ..." Die Zweifel in Jochens Stimme waren deutlich.
„Ich fahre nochmals zu Rotnase. Draußen standen ein paar Nachbarn. Schick mir die Adressen der Zeugen, deren Namen die Kollegen aufgenommen haben. Vielleicht hat einer von denen etwas gesehen."
„Willst du nicht bis nach den Feiertagen warten?"
„Nein. Zumindest der zweite Mord war mit Sicherheit nicht von langer Hand vorbereitet. Außerdem haben die in drei Tagen garantiert alle Details vergessen."
❆ ❅ ❆
Heiligabend die Nachbarn von Rotnase abklappern – das war super-clever. Entweder es war keiner zu Hause, sie störte bei der Bescherung, beim Raclette oder sonstigen Dingen, die normale Familien und Paare zu dieser feierlichen Stunde unternahmen. Beliebt machte sie sich bei niemanden, wenn sie vor der Tür stand und ihre dummen Fragen stellte.
Eine Glocke schrillte. Sie klingelte bei einem weiteren Nachbarn, dessen Adresse die Kollegen ihr übermittelt hatten. Dumpfe Schritte näherten sich der Tür. Ein Riegel ratterte.
„Ja, bitte?" Eine Schwarzhaarige in den Fünfzigern öffnete. Kleidung und geschminktem Gesicht nach zu urteilen, plante sie, heute Abend auszugehen, oder kam zurück.
„Frau ..." Sie schaute auf ihr Smartphone. „Margarethe Huber? Hauptkommissar Janette Müller. Ich untersuche den Tod von Herrn Rotnase. Dem Eigentümer des Catering-Service nebenan."
„Oh. Ja, schlimme Sache. Bitte. Kommen Sie doch herein."
Das war eine erstaunlich freundliche Begrüßung. Die Zeugin schritt auf dünnen Socken voraus. Sie folgte ihr über die knarzenden Bohlen des Altbaus. Altrosa gestrichene Wände, Trockenblumen auf der Anrichte, Paare farbiger Damenschuhe und kein Anzeichen weiterer Bewohner. Sie lebte eindeutig allein.
Im winzigen Wohnzimmer mit Teetisch und vier bequemen Plüschsesseln erwartete sie eine Überraschung. Ein Mann, sicherlich zehn Jahre jünger als die Frau, im grauen Anzug mit auffälligen längeren blonden Haaren erhob sich und schaute sie fragend an.
„Guten Abend. Wir haben Besuch?"
„Rudi, das ist Hauptkommissarin Müller von der Polizei. Wegen des schrecklichen Unglücks von Herrn Rotnase."
„Ah. Nun, dann nehmen Sie gerne Platz. Im Sitzen redet es sich bequemer."
Vor ihr stand ein gruseliger Porzellanteller mit fett dekorierten Plätzchen. Immerhin keine Weihnachtsmusik.
„Bitte. Bedienen Sie sich. Kann ich Ihnen einen Tee oder Kaffee bringen?", fragte die Gastgeberin.
„Gerne Tee, aber keinen schwarzen", antwortete sie. Damit verschwand die Zeugin in der Küche. Wasser floss. Geschirr klapperte. Der Anzugträger beobachtete sie schweigend.
Um die Stille zu überbrücken, fragte sie: „Wollen Sie heute noch ausgehen?"
„Ha, ha. Nein, ganz sicher nicht. Wir kommen gerade von unseren Eltern. Familientradition. Bin froh, wenn ich gleich raus bin." Ehe sie nach dem Grund fragen konnte, kam die Frau mit einem zierlichen Teegedeck zurück.
Sie saßen sich mit dampfenden Tassen gegenüber. Unangenehme Stille sickerte in den Raum und verbreitete sich wie ein zäher Ölfilm. Die beiden standen sich offensichtlich nicht besonders nahe.
„Also dann ... Entschuldigen Sie bitte nochmals die Störung am Feiertag. Sie sind Herr ...?"
„Engel. Rudi Engel."
Beinahe hätte sie ihre Untertasse losgelassen. Ein paar Spritzer des brühendheißen Getränks schwappten über ihre Hand.
„Autsch! Ah. Mist." Zügig stellte sie das Porzellan auf dem Tisch ab.
Der Name. Der Schneeengel im Mehl.
„Heute Morgen", nahm sie den Gesprächsfaden auf, nachdem sie sich wieder gefasst hatte, und wandte sich an Frau Huber, für die sie eigentlich hier war, „da standen Sie am Park. Kannten Sie Herrn Rotnase?"
Jetzt fiel es ihr wieder ein. Die dampfende Tasse. Das war die Frau bei den Kindern. Warum zum Teufel sollte sich eine Nachbarin – ohne Kinder – mit einem wärmenden Getränk nach draußen stellen und die Polizei beobachten? Okay. Dafür gab es tausend gute Gründe. Ungewöhnlich war das allemal.
„Nur flüchtig. Ihm gehörte ja der Betrieb. Da läuft man sich öfters über den Weg." Die Schwarzhaarige nippte am heißen Tee. „Aber Rudi hier, der hatte häufig mit ihm zu tun."
Dessen Tasse polterte auf den Boden, als er aufsprang. Brauner Tee ergoss sich auf beigen Teppich. „Margarethe! Was soll das?!"
Die Frau ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und ignorierte den sich ausbreitenden Fleck. „Sehen sie, die beiden waren Erzfeinde. Also – im rein geschäftlichen Sinne natürlich. Wer weiß, vielleicht bekommt jetzt sogar Rudi den Auftrag für das Spendencafé des Stadtrates ...? Er kann ja gut mit unserem Herrn Oberbürgermeister."
Verblüfft schaute sie von einem zum anderen und erhob sich ebenfalls. Was wurde hier gespielt? Der Name des Mannes war ein eindeutiger Hinweis und passte zur letzten Geste des einen Toten. Dazu die blonden Haare. Und dann lieferte die Frau ihren Bruder eiskalt ans Messer?
Dieser schritt knurrend auf seine ältere Schwester zu und packte ihren Arm. „Margarethe! Bist du von allen guten Geistern verlassen? Wieso erzählst du diesen Unsinn? Was willst du mir da anhängen?"
„Es reicht!" Die Kommissarin trat entschieden dazwischen. „Sie beide begleiten mich auf das Revier. Dort klären wir das."
❆ ❅ ❆
Andreas biss genüsslich in ein überdimensioniertes Plätzchen. Krümel, Silberkügelchen und Goldstaub prasselten auf seinen Teller und die Tischplatte daneben. Ihr drehte es den Magen um. Wie würgte ihr Freund das ekelige Zeug runter? Zur Frühstückszeit. „I-hin der Weihnachts-bäcke-rei", erklang erneut aus dem Radio und machte es nicht besser.
„Du meinst also", fasste er ihre Erzählung der gestrigen Ereignisse zusammen, „die beiden waren Geschwister? Gemeinsame Eigentümer eines weiteren Catering-Services, der jetzt diesen Auftrag erhalten könnte?"
„Na ja, Rudi Engel wird ins Gefängnis wandern, falls die DNA-Untersuchung bestätigt, dass die gefundenen Haare seine sind. Sein Motiv ist eindeutig und er hat kein Alibi. Seine Schwester wird den Betrieb allein weiterführen und die lukrativen Aufträge der Toten übernehmen."
„Du vermutest, dass das von Anfang an ihr Plan war?"
„Ja. Nein." Ihre Schultern zuckten hilflos. „Irgendwie passt das nicht. Deswegen bringt man doch keine zwei Menschen brutal um und lenkt bewusst den Verdacht auf den eigenen Bruder. Egal ob man ihn mag oder nicht. Das stinkt zum Himmel, selbst wenn die Indizien eindeutig sind."
„Und dann noch die schöne Gans." Er stöhnte auf. „Liegt einsam und verlassen im Kühlraum. Könntest du nicht deine Kollegen um einen persönlichen Gefallen bitten ...? Weißt du, wenn nachher meine Eltern ..."
„Andreas!!" Damit knallte sie ihre Kaffeetasse auf den Tisch, griff sich ihre Jacke und stürmte, die Haustür hinter sich zu knallend, aus der Wohnung.
❆ ❅ ❆
Scheiß Beziehungskisten, schoss ihr durch den Kopf, während sie mit Wut im Bauch den verschneiten Gehsteig entlangstakste. Als wenn sie nichts Besseres zu tun hätte, als die scheiß Gans ihres scheiß Freundes zu besorgen und sich dabei am besten noch strafbar zu machen.
Abrupt bliebt sie stehen. Beziehungskiste. Das war es!
Bei Morden ging es fast immer um tiefe persönliche Bindungen. Wut. Hass. Enttäuschte Liebe. Selbstverteidigung. Panikreaktionen. Eskalierende Streitigkeiten. Tötungen aufgrund geschäftlicher Interessen gehörten nicht zu den Top-10 Motiven. Welches könnte Margarethe Huber umtreiben?
Der erste Mord war geplant. Sie hat ihn eiskalt durchgezogen und als Beweis ein Haar ihres Bruders hinterlassen. Profitiert hat aber nicht sie, sondern Pflanzerl. Der zweite war etwas Spontanes. Es musste eine Beziehung zwischen ihr und ihm geben.
Sie sprang in ihr Auto und raste erneut zum winzigen Feinkostgeschäft.
❆ ❅ ❆
Vor Ort durchtrennte sie das Polizeisiegel an der Tür und schaute sich gründlich um. Nach einem Streit sah es nicht aus. Keine zerbrochenen oder umgeworfenen Dinge. Nochmals schritt sie die dick bepackten Regale ab. Nudeln, Reis, Milch, Zucker, Eier, ... wo war das Pizza- und Pastamehl? Bei all den italienischen Grundnahrungsmitteln fehlte ausgerechnet das Mehl?
Und warum lag Rotnase überhaupt in Mehlstaub? Der Mann war Caterer, kein Bäcker. Sie würde wetten, dass die Spurensicherung Mehlspuren und eventuell die leeren Packungen bei ihm gefunden hatte.
Hat Pflanzerl mit Margarethe Huber gemeinsame Sache gemacht? Oder hat sie allein gehandelt? Wollte sie ihm einen Gefallen tun? Hatte sie eine Beziehung mit ihm? Denkbar wär's.
Kam es zum Streit, als sie ihm eröffnet hat, dass sie seinen lästigen Wettbewerber erledigt und dabei eine Spur zu ihrem Bruder gelegt hat? Vermutlich war das Pflanzerl nicht recht und er drohte, die Polizei zu informieren. Ist die Huber daraufhin in Panik verfallen? Hat sie sich um ihre Liebe betrogen gefühlt?
Erneut schritt sie zum Fundort der Leiche im Kühlraum. Mit einem Feuerlöscher jemanden von hinten zu erschlagen, wäre für eine Frau kein Problem. Und den Kamm mit Haaren ihres Bruders hatte sie möglicherweise noch dabeigehabt. Dass sie diesen nicht ausstehen konnte und eiskalt agierte, hatte sie gestern deutlich demonstriert. Damit wäre sie fein raus.
Drei auf einen Streich – und eine lachende Vierte: Margarethe Huber.
Ließ sich das beweisen? Eher nicht. Selbst wenn die Kollegen Indizien wie Zeugen, oder Fingerabdrücke fanden, die gegen sie sprachen. Falls die Frau ausgefuchst genug war, würde die erdrückende Beweislast ihren Bruder ins Gefängnis bringen – nicht sie.
Und sie selbst hatte nur eine wilde Theorie in der Hand. Das führte zu nichts.
❆ ❅ ❆
Nochmals atmete sie tief durch, klemmte sich die schwere Gans aus dem Kühlraum unter den Arm und begab sich auf den Weg zum Auto.
„I-hin der Weihnachts-bäcke-rei" summte sie, während sie ihren Wagen gemächlich durch das verschneite München lenkte.
Damit würde dieses verfluchte Weihnachtsfest wenigstens eine Beziehung lebend überstehen – und vielleicht, nur ganz vielleicht, würde sie eines dieser dickbespachtelten Plätzchen probieren.
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