Der Parkplan (Mystery-Thriller) + Hörbuch!

Mein Beitrag zu den "Parksommernächten" von Timetravler9

Exklusiv gelesen von @Taybor auf YouTube.

Noël schlenderte bedächtig über den Kiespfad. Jede vorschnelle Bewegung vermied er. Die Hitze waberte greifbar durch den Park während seiner heutigen Tour. Bewusst hatte er einen abgeschiedenen Weg gewählt, um ständigen Ausweichmanövern vor Radfahrern zu entgehen. Auf einer Parkbank vor majestätischen Hagebuttensträuchern mit leuchtendorangenen Früchten bemerkte er eine Frau in seinem Alter, die tief in ein abgenutztes Buch versunken war. Ihr brünettes Haar türmte sich zu einer voluminösen Dauerwelle auf, während sich Schulterpolster unter ihrer sommerlichen gelben Bluse abzeichneten. Ein ausgewaschener Jeansrock und strahlendgelbe Lack-Sandalen komplettierten das skurrile Bild. Sie wirkte wie aus der Zeit gefallen. Kopfschüttelnd schritt er an ihr vorbei.

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Ohne aufzusehen, vernahm Laura das Knirschen eines der seltenen Spaziergänger in diesem abgeschiedenen Teil des Parks, als dieser gemächlich an ihr vorbeizog. Die Hitze flimmerte über dem harten Kies des Weges vor ihr, der sich als schmaler Pfad durch das Grün schlängelte. Das Summen der Bienen hinter ihr im Hagebuttenstrauch und das durchdringende Zirpen einer einzelnen Grille wurden erneut zu den alleinigen Geräuschen. Sie liebte die Einsamkeit dieser speziellen Parkbank und blätterte raschelnd zur nächsten Seite ihres Romans „Der Sommer, der bleibt".

Aus dem Augenwinkel erblickte sie ein grünes Heftchen, das an der Kante ihrer Sitzfläche auf dem heißen Holz ruhte. Lag es bereits dort, als sie sich hingesetzt hatte? Sie war sich unsicher, wollte sich aber nicht von ihrer Lektüre ablenken lassen.

Drei Seiten weiter zog ihr Blick erneut nach rechts. Worum handelte es sich? Das gefaltete Papier war ungewöhnlich dick und beinahe quadratisch. Mit einem Seufzen legte sie ihren Roman beiseite und griff danach. In schlichten weißen Buchstaben prangte der unauffällige Titel „Parkplan" einsam in der Mitte. Sie hatte noch nie eines dieser Heftchen hier gesehen. Wozu auch? So ausladend war der Park nun wirklich nicht. Neugierig entfaltete sie es. Der Plan erschien fast handgezeichnet, wie die Karte eines Vergnügungsparks. Die Wege passten nur teilweise und der eine oder andere Kiosk fehlte. Außerdem existierte keinen Hinweis auf den Verlag oder Ähnliches.

Was jedoch ihre Aufmerksamkeit fesselte, waren vier Punkte auf der Karte, die jemand mit einem roten Kugelschreiber durch dicke Kreuze gekennzeichnet hatte. Nachdenklich versuchte sie, sich einen Reim darauf zu machen. Die Markierungen lagen am Rand des Ost-Spielplatzes, im Wäldchen südlich der Liegewiese, in der Nähe des Nordausgangs und – genau an ihrem Sitzplatz!

Fassungslos rätselte sie, was das bedeuten könnte. Eine Schatzsuche mit Kindern? Das wäre denkbar. Aber irgendetwas in ihrem Hinterkopf schlug Alarm, während sie die Platzierungen der Kreuze erneut eingehend unter die Lupe nahm. Diese Orte ... davon hatte sie in der Zeitung gelesen. Im Laufe der letzten Monate ereigneten sich im Park drei Gewaltverbrechen, bei denen junge Frauen ihr Leben ließen. Etwa an den gekennzeichneten Stellen, wenn sie ihre Erinnerung nicht trog. Mit Ausnahme des einen Punktes, auf dem sie in diesem Augenblick verweilte.

Ihr Herz übersprang einen Schlag und die Luft wurde schlagartig eiskalt. Ein schriller Schrei entwich ihrer Kehle. Panisch sprang sie auf und warf gehetzte Blicke um sich. War das ein makaberer Scherz? Doch es gab keine kichernde Jugendgruppe, die sich über sie amüsierte. Sie war und blieb das einzige menschliche Wesen in der näheren und weiteren Umgebung. Die Ruhe und Abgeschiedenheit, die sie zuvor noch genossen hatte, ließ sie nun erschaudern.

Voll Ärger über sich selbst und den taktlosen Kartenzeichner schleuderte sie das Papier in die Büsche, griff ihr Buch und verließ mit großen Schritten ihren einstigen Hort der Ruhe. Hier wollte sie auf keinen Fall länger verweilen. Als sie in einen belebteren Teil des Parks mit Joggern, Kinderwagen und verliebt turtelnden Paaren gelangte, wich die Anspannung. Dieses Mal war sie froh über die anonyme Gesellschaft der Parkbesucher. Tief durchatmend ließ sie sich neben einem Spielplatz mit Klettergerüst, kreischenden Kindern und tratschenden Mamas nieder. Nochmals warf sie einen Blick in die Runde, dann zog sie ihre Lektüre wieder hervor.

Sie hatte nur wenige Seiten gelesen, da fiel ihr erneut ein grünes Heftchen mit der Aufschrift „Parkplan" ins Auge, das dort ganz sicher vorhin noch nicht gelegen hatte. Was zum Teufel ...? Eine Gänsehaut zog sich trotz der Hitze von ihrem Steiß in den Nacken und sie warf einen gehetzten Blick in die Runde. Wer hatte das Heft hier hingelegt? Niemand war in Reichweite. Und hier gab es auch keine Büsche, um sich zu verstecken.

Sollte sie sich auf dieses Spiel einlassen? Nein! Entschlossen stand sie auf, strich ihren Rock glatt und setzte ihren Weg zügig fort. Ab nach Hause. Verfolgte sie jemand? War der Jogger nicht schon einmal an ihr vorbeigelaufen? In Filmen blieben die Leute bewusst stehen, um zu schauen, ob ein Passant ebenfalls anhielt. Sie probierte es und warf einen weiteren Blick in die Runde. Niemand beachtete sie oder verharrte.

Jedoch entdeckte sie ... ein grünes Heftchen, das einsam auf einem Blechtisch neben dem weißen Getränkekiosk lag. Nicht nur dort. Auf jeder Bank, Stuhl und Tisch die sie passierte, lag eines. Absurd. War das vielleicht Werbung oder eine Bürgeraktion? Hatte jemand die Pläne auf allen Parkbänken verteilt? Ja, so würde es sein. Das schien ihr die plausibelste Erklärung.

Am Ende siegte ihre Neugier. Sie nahm eines der Heftchen zur Hand und betrachtete die Karte. Es war exakt derselbe Druck mit exakt den gleichen Kreuzen. Von wegen handgemalt. Okay. Damit war die Sache klar: Eine dumme Werbeaktion und sie hatte sich für einen Narren halten lassen. Vermutlich waren die Orte der mysteriösen Morde aus den letzten Jahren nur Einbildung. Sie kam nicht umhin, über ihre eigene Torheit und irrationale Angst mitten auf dem Weg stehend lauthals zu lachen.

„Ähm ... ist bei dir alles in Ordnung?", erkundigte sich eine Stimme von rechts.

Überrascht blickte sie auf. Dort stand ein junger Mann direkt neben ihr, etwa in ihrem Alter, tiefbraune Augen, sympathischer Blick und echte Sorge, die sich auf seinem Antlitz widerspiegelte.

„Oh, ja", erwiderte sie, „tut mir leid. Dieser Flyer hier. Das scheint eine Art Gewinnspiel oder so zu sein."

Ein Lächeln huschte über seine Lippen, dass sie sofort für ihn einnahm. „Dann ist ja gut. Ich ... äh ... Ja, entschuldige. Du bist mir vorhin auf der abgelegenen Parkbank aufgefallen. Etwas später hörte ich einen Schrei. Da ... nun ja ... das klingt vermutlich ebenso seltsam. Da machte ich mir Sorgen und war überrascht, als du hier ..."

„... einfach so laut losgelacht hast?"

„Ja, so in etwa. Ich bin übrigens Noël."

Der Braunhaarige gefiel ihr auf Anhieb mit seiner fürsorglichen und aufmerksamen Art. „Laura. Hallo. Trotzdem danke, dass du nachgefragt hast."

Ein kühler Windstoß ließ sie in diesem Moment erschaudern. Sie war so paranoid und abgelenkt durch die Grünanlagen gestreift, dass sie nicht bemerkt hatte, wie düstere Gewitterwolken aufgezogen sind, deren Vorboten die drückende Hitze des Nachmittags ablösten. Die Wege im Park leerten sich bereits zusehends, in Erwartung, dass das finstere Himmelsdach in wenigen Minuten seine Schleusen öffnen würde.

Noël meinte mit zweifelndem Blick gen Himmel: „Ich denke, ich sollte auch langsam aufbrechen."

„Warte einen Moment", eine spontane Idee kam ihr in den Sinn. „An diesen Kreuzen auf der Karte sind bestimmt irgendwelche Hinweise für das Gewinnspiel versteckt. Wenn jetzt alle anderen flüchten, könnten wir das doch ausnutzen und versuchen, uns einen zu sichern."

„Wir?", fragte er verwundert.

„Äh ... ja, entschuldige. Wir müssen zur Bank zurück, auf der ich saß. Aber ganz allein dorthin ... das ist mir doch etwas unheimlich bei diesem Wetter. Falls wir was gewinnen, können wir das ja teilen. Versprochen." Ihr albernes Erschrecken und die Erinnerung an diese Morde in der Zeitung verschwieg sie besser. Ansonsten würde er sie noch für völlig verrückt halten.

„Ich weiß nicht ..."

„Bitte! Nur zu diesem einen Kreuz. Dort, wo du mich gesehen hast. Ja?" Sie setzte ihren, du-willst-mich-doch-nicht-wirklich-allein-durch-den-Park-ziehenlassen-Blick auf. Der hatte bisher bei jedem ihrer Freunde gewirkt.

„Hm ... in Ordnung. Aber nur zu dieser Bank. Und falls es anfängt zu donnern oder zu regnen, verschwinden wir. Einverstanden?"

„Danke!" Dabei hüpfte sie wie ein kleines Mädchen und machte sich sofort auf den Weg. Nicht, ohne sicherzustellen, dass Noël tatsächlich folgte. Während sie flink über den knirschenden Kies der sich einsam schlängelnden Wege liefen, schienen sie bald die einzigen Besucher zu sein. Inzwischen glich das Firmament einer stürmischen Bleiwüste. Im Westen malte die verdeckte Sonne schwefliges Gelb in die Wolken, während im Osten bereits regentriefende Wolkentürme von einem heftigen Schauer kündeten. Sie näherten sich ihrer Bank, als ein verzweigter Blitz quer über die finstere Wolkenfront zuckte. Das markerschütternde Krachen folgte keine zwei Sekunden später.

„Laura!", rief Noël hinter ihr. „Lass uns umkehren. Das Gewitter ist gleich hier. Wir könnten uns ja in einem Café oder so unterstellen und später zurückkommen."

Nein! Sie durften jetzt nicht umkehren. Warum, konnte sie selbst nicht sagen. Die Bank zog sie magisch an, als hinge sie an einem Gummiband, das sie zu diesem Punkt zurückzog. Sie und Noël. Er musste sie begleiten! Nicht so kurz vor ... was? Ihr ...

Der brünette Mann riss sie aus ihren Gedanken und hielt sie am Ärmel fest. „Stopp. Das ist mir zu riskant. Ich laufe zurück. Kommst du mit?"

„Nein! Ich ... Du darfst nicht gehen. Nicht jetzt! Nur kurz zur Bank. Bitte! Sie ist direkt dort vorne." In tiefer Verzweiflung, die aus ihrem Innersten aufstieg, die sie nicht zuordnen konnte, die sie verzehrte, klammerte sie sich an seinen Arm und zog ihn weiter. Widerstrebend und protestierend ließ er sich dennoch in Richtung der Bank bugsieren. Der Wind peitschte durch die Bäume und drängte die dürren Äste der Hagebuttensträucher zur Seite. Die schwarzen Wolken wälzten sich über den gesamten Himmel und dimmten das letzte Tageslicht zu einem düsteren Zwielicht herab, nur durchbrochen von dem hellen Flackern der Blitze.

„Da vorne ist sie! Lass mich nur kurz nachsehen", rief sie erleichtert über das Windrauschen und das inzwischen fortwährende Donnergrollen hinweg.

„Oh, verdammt", erwiderte er, „dann beeile dich."

„Bitte, komm mit mir. Ein paar Meter."

Sie zog ihn auch die letzten Schritte mit.

↼⇁

Noël war fassungslos und griff sich angstvoll ins Haar, während Blitze bedrohlich am Himmel zuckten. Obwohl es noch nicht regnete, war das purer Wahnsinn. Er wollte lediglich dem netten Mädel im 80er-Jahre-Outfit eine Hilfe sein, und jetzt fand er sich inmitten eines Gewittersturms nahe einer verlassenen Parkbank wieder. Alles wegen eines unsinnigen Gewinnspiels!

„Laura, was soll das?", schrie er gegen den Wind, als sie sich vor ihm auf der Bank niederließ, statt nach Hinweisen zu suchen, wie sie es angekündigt hatte.

Ein verträumtes Lächeln umspielte ihre Lippen, während Sturmböen ihre Lockenpracht wild um den Kopf wirbelten. Und dann zog sie auch noch ein Buch aus der Tasche, als ob sie sich in aller Ruhe der Lektüre widmen wollte! Die Seiten flatterten heftig im Wind und drohten zu reißen. Was für eine Irre!

„Laura!", schrie er erneut, diesmal verzweifelter.

Was konnte er tun? Die offensichtlich Wahnsinnige einfach hier sitzen lassen? Eventuell würde sie vom Blitz getroffen und er hätte nichts unternommen. Sie mit Gewalt von hier wegbringen? Nein, er kannte sie ja kaum. Vielleicht sollte er direkt ...

Aus der düsteren Finsternis des mächtigen Hagebuttenstrauchs hinter der Bank sprang ein Mann hervor. Bevor Noël begriff, was geschah, stürzte sich der Fremde auf Laura, zog ein Seil heraus und wickelte es um ihren Hals.

„NEIN!!!" Ohne zu zögern, jagte er nach vorne, um ihr zu helfen.

Der Strick schnitt bereits in ihre Kehle, sie konnte nicht mehr schreien. Hilflos ruderte sie mit den Armen, wie ein Käfer, der auf dem Rücken strampelt. Panisch quollen ihre Augen aus den Höhlen und flehten stumm um Hilfe.

Noël nahm Anlauf, katapultierte sich mit einem Schritt über die Sitzfläche vorwärts. Verzweifelt warf er sich mit einem Hechtsprung über die hölzerne Rückenlehne der Bank, um den Angreifer mit der Schulter niederzureißen. Sein Körper schoss vorbei und landete in den dornigen Fängen der Hagebuttensträucher. Mit hämmerndem Herzen wirbelte er herum, bereit, erneut anzugreifen oder sich zu verteidigen.

Doch die Parkbank war leer.

Weder Laura noch von ihrem Peiniger eine Spur. Gehetzt und weiterhin zwischen den Sträuchern stehend, sah er sich suchend um. Niemand war zu sehen. Wie war das möglich?

Erste, dicke Regentropfen klatschten auf sein Gesicht. Als er sich erneut umschaute, fiel ihm etwas Hellgrünes im Gebüsch direkt vor seinen Füßen auf. Der Schriftzug „Parkplan" war undeutlich auszumachen. Irritiert hob er es hoch, aber es war kaum mehr als ein verdrecktes, zusammengeklumptes Stück Pappe, das schon seit Ewigkeiten an dieser Stelle gelegen haben musste.

Während er weiterhin nicht fassen konnte, was er gerade erlebt hatte – eine Halluzination, Vision, Traum – was auch immer, öffnete der Himmel sprichwörtlich seine Schleusen. Wie unter der Dusche prasselten die Wassermassen in dicken Fäden herab.

Als er durchnässt, verwirrt und im heftigen Wind fröstelnd weggehen wollte, stach ein weiterer Farbklecks auf dem Boden aus dem Dämmerlicht hervor. Er war strahlendgelb. Das Wasser hatte einen daumennagelgroßen Fleck freigespült.

Oh, Mann. Der Regen, die Blitze, der Donner und der Rest der Welt blendeten sich aus. Sein Kopf war leer gefegt. Es gab in diesem Moment nur eine Frage, die er sich nicht stellen wollte.

Trotzdem ging er langsam in die Hocke und wischte mit zitternden Fingern den feuchten Schlamm vom glatten gelben Plastik zur Seite. Seine Fingerkuppen strichen über etwas Ledernes, das dazwischen hervorragte. Einen Frauenzeh, der in einer Lacksandale steckte. Atemlos und gelähmt beobachtete er, wie die Tropfen die Erde von dem toten Stück Haut herunterspülten.

Das Krachen des nächsten Donners holte ihn in die Realität zurück. Ein Schrei entrang sich seiner Kehle und er sprang auf wie ein Klappmesser. Das konnte nicht sein! Mit aufgerissenen Augen und hämmerndem Herzen stand er vor den Büschen, durch die Sturm und Regen peitschten. Doch Zeh und Sandale verschwanden nicht. Kopfschüttelnd konnte er nicht begreifen, was er entdeckt hatte. Sollte es tatsächlich ... Laura sein?

↼⇁

Tage später, nachdem er die Polizei informiert hatte, erfuhr er, dass Mitte der 80er-Jahre eine Mordserie im Park stattgefunden hatte. Die Leichen der vier Frauen waren nie gefunden worden. Bis heute. Dank seiner Hilfe konnte Laura Schmidt, die damals in der Nähe gewohnt hatte, identifiziert werden. Und nicht nur das. Die Spuren führten am Ende zur späten Ergreifung des Täters.

Trotz des Schocks und der unerklärlichen Begegnung mit ... was? Lauras Geist? ... spazierte er am nächsten Tag wie immer in den Park, um seinen Kopf freizubekommen.


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