Der Geschmack von Salz (ein Janette Müller Krimi)

Diese Kurzgeschichte hatte für ich den exzellent organisieren und sehr spannenden "Ocean Award" von _MaliaFox_ und JuneOLeary geschrieben. Dieses Mal leider ohne Treppchenplatzierung.

★★★

Eine kräftige Brise peitschte durch die Dünen und drängte die struppigen Gräser dazu, ihre Hälse untertänig zu beugen. Lilafarbene Wolkenfetzen hetzten über das endlose Watt auf das Ufer zu. Der flache Horizont hatte vor wenigen Augenblicken den letzten wärmenden Sonnenstrahl verschluckt. Der Wind saugte hauchfeine Tropfen salziger Lake aus den traurigen Pfützen, die sich mit der kommenden Flut zu einem schwarzen Ozean verbänden – und spritzte sie Janette voll in die Fresse.

Warum mussten sie auch ausgerechnet in St. Peter-Ording Urlaub machen? Lieber würde sie jetzt bei einem Ramazotti und sanft plätschernder Brandung ihre nackten Zehen im kitzelnden Quarzsand der Adria vergraben. Leider hatten die zukünftigen Schwiegereltern ihnen großzügigerweise ihre sündhaft teure Ferienwohnung hier im Ort zur Hauptsaison überlassen. Ein Angebot, das sie nicht ausschlagen konnten, ohne dass Andreas Gefahr lief, enterbt zu werden. Mit ihrem mageren Hauptkommissarinnen-Gehalt und Nicht-Akademiker-Eltern konnte sie da leider nicht mitstinken. Sobald sie nach ihrer abendlichen Joggingrunde mit windzerzausten Haaren zurückkäme, bräuchte sie einen heißen Tee. Dabei war es Ende Juni – nicht Anfang November. Verdammt.

In diesem Moment durchbrach ein lang gezogener Schrei das beständige Heulen und ließ sie innehalten.

Suchend schaute sie sich in der aufziehenden Dämmerung um, während sie über die ausgeblichenen Planken des Strandstegs joggte. Links die flachen Dünen, rechts der ausladende Strand und dahinter das Watt. In rund 200 Schritten Entfernung zeichnete sich eine der markanten Pfahlbauten ab. Ein breites Gebäude schwebte in ca. sieben Metern Höhe auf gekreuzten Balken. Zum Sprockholz ★★. Der großzügig ausgeleuchtete Schriftzug mit weißen Lettern auf schwarzlackiertem Grund war problemlos auf diese Distanz lesbar. Sie erinnerte sich, auf der Touristen-Webseite darüber gelesen zu haben. Einer von nur zehn deutschen Sterneköchen hatte dort das Restaurant übernommen. Die zwei Sterne waren eindeutig. Vermutlich, um die weniger betuchten Touristen zu warnen, dass man dort auch zum Nachmittagskaffee leicht eine dreistellige Summe auf der Rechnung vorfände.

Der Wind wehte vom Meer her. Ansonsten hätte sie den Schrei keinesfalls hören können. Mit dumpfen Aufschlägen ihrer Füße lief sie in Richtung des Pfahlbaus. An der Unterseite des Gebäudes erwachten Neonröhren flackernd zum Leben. Die Silhouetten von vier Personen drängten sich zwischen kreuz und quer verlaufenden Holzbalken, als sie die letzten Meter vor den Pfählen langsam auslief.

„... Bernd? Nein! Das darf nicht sein", erklang das Klagen eines Mannes, der sich neben eine dunkle, am Boden liegende Gestalt hockte. „Verflucht noch mal ..."

Die beiden anderen, eine Servicekraft mit langen braunen Haaren und ein kräftiger Koch mit breitem Oberkörper, der jeweiligen Kleidung nach zu urteilen, standen wie erstarrt daneben.

„Guten Abend, Janette Müller, Kriminalpolizei ...", kündigte sie sich außer Atem an und konnte sich gerade noch zurückhalten, „München" hinzuzufügen, wie es ihr üblicher Spruch wäre.

Damit drängelte sie sich an den beiden vorbei und ging mit schmatzenden Schritten in Richtung des Dritten. Ebenfalls ein Koch, wie es schien. Zu ihrer Erleichterung hockte er nicht vor einer Leiche. Zumindest keiner menschlichen. Mit seinen langgliedrigen Fingern streichelte er das kurzhaarige schwarze Fell eines regungslosen Hundes. Eine Bulldogge, die tot im Sand lag. Vor ihr ein großer Fressnapf im dem ein letzter Würfel dunklen Frischfleisches lag.

Um die Aufmerksamkeit des Mannes zu bekommen, wiederholte sie ihren Spruch. Nach einer Weile erhob er sich und überragte sie locker um Haupteslänge, wobei sie mit 1,68 m eher durchschnittlich groß war.

„Entschuldigen Sie", meinte er gefasst, „Vincent van der Welt, aber Sie kennen mich ja sicherlich. Das ist mein Hund Bernd, den jemand ... vergiftet hat."

Bei dem Namen klingelte etwas. Er war der Zweisternekoch und neue Restaurantbesitzer, der auf der Webseite des Tourismusbüros erwähnt wurde.

„Vergiftet?", hakte sie nach, „Warum sind Sie da so sicher?"

„Also bitte! Ich hätte ihm nie Wagyu zu fressen gegeben! 300 Euro das Kilo. Mindestens." Dabei schaute er sie an, als wäre das die dümmste Frage der Welt.

„Ähm ... Wagyu?" Okay, offensichtlich gab es noch dümmere, seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen.

„Holstein-Wagyu? Das lokale Kobe-Rind? Haben Sie denn nicht auf die Karte geschaut?"

„Nein, ehrlicherweise bin ich nicht dazu gekommen." Ihr wurde die ganze Sache langsam zu blöde und erschüttert wirkte der Sternekoch nicht. „Falls Sie möchten, rufe ich meine Kollegen. Aktuell bin ich nicht im Dienst."

Sein Gesicht hellte sich auf. „Vielen Dank, bitte machen Sie das. Jemand hat Bernd vergiftet und ich habe viele Neider hier im Ort."

Kurz telefonierte sie mit der hiesigen Dienststelle. Da es sich bei dem Koch um eine lokale Berühmtheit handelte, versprachen sie, trotz nachtschlafender Zeit zum Restaurant zu kommen.

„Die Kollegen sind bereits auf dem Weg. Zu Hause wartet mein Verlobter. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden ...?"

„Vielen Dank für Ihre Hilfe." Er wirkte erleichtert. „Falls Sie möchten, schauen Sie gerne beide Morgen zum Abendessen vorbei. Sie sind natürlich eingeladen."

Brav bedankte und verabschiedete sie sich. Zurück im schwiegerelterlichen Ferienhaus brachte sie ihren besorgten Verlobten auf den neusten Stand – und brauchte dringend einen heißen Tee.

↼⇁

Am nächsten Abend gegen 19 Uhr saß Janette mit Andreas im Pfahlbau-Restaurant „Zum Sprockholz". Die untergehende Sonne warf lange Schatten über die glatten Sandwellen des Wattenmeeres einige Meter unter ihnen. In der Ferne zwinkerte ihr eine leuchtende Boje in gemächlichen Abständen zu. Die steife Brise störte sie trotz kurzem Rock und der Bluse ihrer Abendgarderobe nicht, da sie brav draußen vor der Scheibe vorbeizog.

Auch Andreas war versöhnt. Ein Essen beim Zweisternekoch Vincent van der Welt mit freiem Blick auf die Nordsee – das war das Highlight des Urlaubs schlechthin. Für ihn. Mit den mickrigen Portiönchen unaussprechlichem Gedöns, dessen Optik selten das zeigte, was auf der Karte stand, konnte sie nichts anfangen. Beim Essen würden sie wohl immer gewisse Kompromisse eingehen müssen. Das erinnerte sie an eine gewisse Weihnachtsgans für die Schwiegereltern sowie dichtbespachtelten Plätzchen*, die Andreas so liebte. Brrrr.

Trotz der gesalzenen Preise war das Restaurant bis zum letzten Platz besetzt. Auf Hochglanz poliertes Silberbesteck, silberne Fischernetze, glänzende Muscheln und goldener Sand als Tischdekoration sowie das gedämpfte Murmeln der Gäste verstärkten den edlen Eindruck. Auf der Karte fand sie dann auch das besagte Kobe-Rind als einen von neun Gängen: Nordsee-Makrele mit gezupfter Holstein-Wagyu Kalbshaxe an Wachtel-Mayonnaise auf Dänen-Gurkenrelish. Sicherlich entsprechend komprimiert, damit es mit nur einem Happs im Mund verschwinden konnte. Theoretisch.

„Schatz, ich geh mich mal kurz frischmachen." Im Vorbeigehen hauchte sie Andreas einen Kuss auf die Wange und machte sich auf zur Toilette. Auf dem Weg kam sie an einer halbangelehnten Küchentür vorbei. Ob man dort die Dänen zu Gurkenrelish verarbeitete? Mit Bedacht schob sie die Tür auf und riskierte einen Blick in das stahlglänzende Allerheiligste.

Gerade lief eine schlanke Bedienung im schwarzen Rock vorbei und bückte sich, um etwas außerhalb ihres Blickfeldes aufzuheben. Eine langgliedrige Hand packte sie zwischen deren Pobacken und ließ sie einen quiekenden Schrei ausstoßen.

„Na, Melli, scheint ja alles entspannt zu sein. Hat es dir dein Freund heute ordentlich besorgt?"

Janette blieb die Spucke weg. Das war eindeutig die Stimme – und Hand – von van der Welt. Als die Bedienung sich umdrehte, war es ebenfalls ein bekanntes Gesicht: Melanie Unfeld. Sie stand gestern gemeinsam mit dem kräftigen Souschef, Henri Pierrot, und dem Sternekoch beim toten Hund.

„Hey! Ich hasse das! Beinahe hätte ich die Sauciere fallenlassen!", beschwerte sich die Frau eher halbherzig.

Bei dem Kerl wäre sie selbst definitiv deutlicher geworden.

Von der anderen Seite des Türblatts mischte sich jetzt eine zweite weibliche Stimme im scharfen Tonfall ein: „Vincent! Was soll das? Wir sind deine Angestellten und keine Leibeigenen!"

„Bleib locker Auri. Du brauchst auch mal einen Freund, der dich ordentlich durchvögelt. Bei Bedarf bin ich gerne behilflich. Nimm dir ein Beispiel an Melli hier. "

„Ich heiße Aurora! Und wenn du noch einmal so einen Scheißspruch ablässt, erzähle ich der Bild, was hier für Arbeitsbedingungen herrschen und dass Deutschlands bekanntester Sternekoch sich an seinen Angestellten vergreift."

Van der Welt schoss das Blut ins Gesicht: „Aurora! Red' keinen Quatsch. Noch ein Wort und ich schmeiß dich hochkant raus!"

„Viel Spaß dabei, dann habe ich wenigstens eine ordentliche Story. Aber vielleicht ist ja auch das Fleisch, das Bernd gestern gefuttert hat, versehentlich hier in einem der Töpfe gelandet?"

„Du wagst es ...?!" Der Mann stürzte vorwärts.

In dem Moment, wo Janette die Tür aufstoßen und eingreifen wollte, trat bereits eine weitere Person dazwischen.

„Jetzt beruhigt euch alle wieder." Es war der Souschef, der mit gelassener Stimme und seinem massigen Körper die Streithähne trennte. „Wir haben hier alle eine Menge Stress und Essen, das auf unsere Gäste wartet. Außerdem war das sicher nur ein Scherz – oder Aurora?"

Für einige Sekunden waren nur das Klappern der Töpfe, Brodeln und Zischen zu hören, niemand in der Küche sprach ein Wort.

„Ja, Henri", lenkte die andere ein und Janette merkte, wie sie ihren angehaltenen Atem entweichen ließ. „Nur ein Witz. Aber das nächste Mal ist es das nicht mehr."

Kurz darauf gingen die vier ihrer Wege. Sollte sie van der Welt zur Rede stellen? In Sterneküchen herrschte ein rauer Umgang, davon hatte sie gehört. Vermutlich wusste Mann oder Frau vorher, worauf man sich einließ.

Zurück bei Andreas behielt sie die Szene in der Küche für sich, um die Stimmung für den Abend nicht zu verderben. Das gezupfte Holstein-Wagyu ließ sie jedoch unangetastet auf dem Teller liegen.

↼⇁

Ein schrilles Piepen riss Janette aus dem Schlaf. Zeit aufzustehen? Schlaftrunken brachte sie ihre Gedanken in eine brauchbare Reihenfolge. Sie war im Urlaub und nicht im Dienst. Der nervige Ton blieb. Ein dienstlicher Anruf – auf dem Handy. Mit einem Satz war sie an der Kommode und nahm das Gespräch entgegen.

„Was?!", rief sie durch das Schlafzimmer und ließ damit Andreas hochschrecken. „Ja. ... Ja. ... Hm ... Der Name? ... Aha. Wie war der Tathergang? ... Oh ... Okay, Danke, dass ihr mich auf dem Laufenden haltet."

„Was ist passiert?", wollte ihr Verlobter wissen.

„Ein Anruf von den Kollegen. Man hat Aurora Weinkirchen, eine Servicekraft im Sprockholz, tot aufgefunden. Sie ist vom Böhler Leuchtturm, nahe dem Restaurant gefallen. Vermutlich gestern Nacht. Die Tür des Gebäudes war aufgebrochen und ein Schnelltest hat Betäubungsmittel in ihrem Blut gezeigt. Keine Spuren oder Zeichen von Fremdeinwirkung."

„Oh ... okay. War sie bei dem toten Hund auch dabei?"

„Nein, das war eine andere Bedienung."

„Dann betrifft es dich ja nicht. Zum Glück ist das nicht dein Fall und wir haben Urlaub."

Sollte sie ihm vom Vorfall im Restaurant erzählen? Besser nicht.

„Du hast recht, Schatz. Lass uns den Tag genießen." Damit sprang sie erneut zu ihm ins Bett. Gedanklich war sie jedoch bei der Frage, wie die Tat sich wohl zugetragen hatte – und wie sich Beweise für einen Mord finden ließen.

↼⇁

Bibbernd stand sie am Abend auf dem Strandparkplatz nahe dem Sprockholz im pfeifenden Wind. Andreas hatte sie gesagt, dass sie nochmals eine Stunde Joggen gehen wollte. Die hiesige Staatsanwaltschaft hat den Tod von Melanie Unwelt sofort als Selbstmord zu Akten gelegt. Ihre Aussage wurde dabei komplett ignoriert. Volltrottel! Denen ging es darum, einen Skandal zur Hauptsaison zu vermeiden. Aber sie war überzeugt, dass es sich um Mord handelte. Und der Einzige mit einem glasklaren Motiv, Gelegenheit und passendem Charakter war Vincent van der Welt.

Nach wenigen Minuten kam endlich die Person, auf die sie gewartet hatte: Melanie Unfeld, die der Sternekochekel sexistisch angegangen war. Zum Glück war sie allein unterwegs und steuerte auf die flachen Dünen zu.

„Frau Unfeld?", sprach sie die Bedienung an und lief ihr einige Schritte hinterher.

Diese blieb stehen und drehte sich irritiert um. „Ah ... sind Sie nicht ..."

„Hauptkommissarin Müller, wir haben uns vorgestern bei dem Vorfall mit dem Hund kennengelernt. Ich bin wegen des Todes von Aurora Schmidt hier und hoffe, dass Sie mir helfen können."

Während Janette der Frau ihren Verdacht und ihren Plan erläuterte – sie wollte sich alleine im Restaurant umschauen und nach Beweisen suchen – wechselte das Minenspiel der Servicekraft zwischen Irritation, Wut, Trauer, Besorgnis und Hoffnung. Einige Minuten später hatte sie sie überzeugt. Die Bedienung war als Letzte gegangen, sodass sich dort niemand mehr aufhalten würde.

Gemeinsam erstiegen sie die Treppen des Pfahlbaus.

„Glauben Sie wirklich, dass Herr van der Welt dazu fähig ist?", fragte die Frau. „Er ist aufbrausend und vergreift sich gerne mal im Ton – aber welcher Chefkoch macht das nicht?"

Janette biss sich auf die Zunge, da sie ihre heimliche Beobachtung des Streits nicht verraten wollte. „Zunächst ist es nur ein Verdacht. Natürlich kann es auch jemand anderes gewesen sein."

Leere Holztische mit tiefen Kratzern auf den Oberflächen, hochgestellte Stühle und das einsame Pfeifen des Windes begrüßten sie im verwaisten Gastraum. Der nüchterne Anblick ließ die heimelig-edle Illusion des Vorabends zerplatzen wie Schaumkronen auf der Brandung. Obwohl sie allein waren, bewegten sie sich leise und flüsterten. Janette steuerte zügig auf die Küche zu. In den klinisch blank polierten und akkurat sortierten Schränken etwas zu finden, was dort nicht hingehörte, konnte sie jedoch vergessen. Als Nächstes ließ sie sich das Büro von van der Welt zeigen. Auch hier wurde penibel Ordnung gehalten. Der Mann war scheinbar ein Perfektionist und Ordnungsfanatiker. Eventuell ...

Knallend krachte ihr ein Schlag auf den Hinterkopf. Kurzer, blendender Schmerz entriss ihr das Bewusstsein in schwarze Ohnmacht, noch bevor sie unkontrolliert auf den harten Dielen aufschlug.

↼⇁

Kühles Wasser klatschte in Janettes Gesicht. Hustend und spuckend kam sie zu Bewusstsein. Der Geschmack von Salz, verrottetem Fisch und knirschendem Sand füllte ihren Mund. Ihr ganzer Körper zitterte im heulenden Wind und platschenden, eiskalten Wellen, während sich beißende Kopfschmerzen in ihren Hinterkopf krallten.

Was zum Teufel war passiert? Wo war sie?

Mit Mühe öffnete sie ihre Augen, rieb das brennende Salz heraus und schaute sich mit verklebten Lidern um. Um sie herum breiteten sich endlose schwarze Wellen aus. Über ihr gehässig blinzelnde Sterne und die altbekannten Wolkenfetzen, die Gevatter Wind mit seiner Peitsche vor sich hertrieb.

Scheiße, verfluchte! Der Begriff des Fracksausens bekam für sie in diesem Augenblick eine ganz konkrete Bedeutung, als ihre Gedärme kurz davor waren die eiskalten Würmer, die sie schlagartig erfüllten, unkontrolliert zu entlassen. Sie lag hier weit draußen im Wattenmeer. Das auflaufende Wasser stand bereits fußhoch. Auf jeder Tourismus-Webseite an der Nordseeküste wurde exakt vor dieser Situation eindringlich gewarnt. Nur, dass es mitten in der Nacht war. Und sie nicht wusste, wo sie sich befand. Die mikroskopisch kleinen Lichter der Uferpromenade erschienen unerreichbar weit entfernt. Spätestens der nächste, bei diesen Lichtverhältnissen unsichtbare Priel, würde ihrer Wanderung ein Ende setzen. Priele waren unberechenbar tiefe Flüsse im Watt, daran erinnerte sie sich noch.

Mist. Und jetzt? Mühsam erhob sie sich und schaute sich um. Die einzig sinnvolle Richtung war das Ufer. Aber wer auch immer sie hier abgelegt hatte, ging davon aus, dass sie es dorthin nicht schaffen konnte. Strunzdumme Joggerin aus Oberbayern ist nachts ins Watt gelaufen. Sie konnte sich die Schlagzeilen vorstellen.

Dort! Das blinzelnde Auge! Da war es! In einiger Entfernung blinkte in regelmäßigen Abständen die Boje, die sie vom Restaurant aus beobachtet hatte. Priele oder nicht – das war die einzig sinnvolle Chance.

↼⇁

Am nächsten Morgen wurde sie von einem Kutter im wahrsten Sinne des Wortes an der Boje herausgefischt. Die letzten 500 Meter hatte sie schwimmend zurückgelegt und es nur aufgrund der moderaten Wassertemperaturen und der seichten Strömung geschafft. Dafür war sie umso entschlossener den Mörder zu entlarven. Scheißkerl. Und fuck it! Ihre Karriere war ihr in diesem Augenblick herzlich egal.

Trotz des massiven Protests von Andreas stapfte sie, sobald sie sich wieder auf den Beinen halten konnte, erneut zum Sprockholz, um die Sache endgültig zu klären. Zumindest eine Person – Melanie Unwelt – musste sehr genau wissen, wer versucht hatte, sie zu töten. Die Schlampe würde ihr blaues Wunder erleben.

Krachend stieß sie kurz darauf die Tür zum Gastraum auf. Servicemitarbeiter, die gerade die Tische für den Mittagsansturm herrichteten, starrten sie erschrocken an. Wie Rehkitze, die vor Autoscheinwerfern erschraken und jeden Moment den Aufprall erwarteten.

„Van der Welt. Wo ist er?", sprach sie, wie der Terminator auf der Suche nach Sarah Connor.

„Meine Liebe!" Der Sternekoch kam mit ausgebreiteten Armen aus seinem Küchenloch hervorgestürmt. „Was kann ich für Sie tun?"

„Verarschen Sie mich nicht", antwortete sie, „ich habe gesehen, wie Sie ihre Angestellten begrapschen und niedermachen. Aber damit können sich die Presse und Gerichte beschäftigen. Wo ist Melanie Unwelt?"

„Melanie?", jetzt trat auch der Souschef Henri Pierrot aus der Küche und bekam große Augen. „Die hat sich krankgemeldet."

„Verarschen kann ich mich selber", knurrte sie. „Aurora Weinkirchen ist tot. Mich hat man versucht, im Watt zu versenken. Glauben sie mir, van der Welt, den Mord werde ich Ihnen nachweisen – und wenn es das Letzte ist, was ich tue." Damit wendete sie, um wieder zu gehen. „Ach ja, ich habe gleich noch ein Interview mit einem Bildreporter und bin überzeugt, dass der Laden hier morgen dichtgemacht wird. Sie können sich alle schon mal neue Jobs suchen."

„Was?! Wieso?" Der Ausruf kam nicht von van der Welt, sondern von seinem Souschef.

„Wieso?! Eine tote Bedienung, vermutlich Selbstmord wegen Burn-out; sexuelle Belästigung durch den Küchenchef; ein mit Holstein-Wagyu Rind vergifteter Hund; und nicht zuletzt der Mordversuch an einer Hauptkommissarin – HIER IM RESTAURANT!" Die letzten Worte brüllte sie. „Was zum Teufel erwarten sie denn?! Ihr feiner Herr Chef ist durch. So viel ist doch wohl klar oder nicht?"

„Nein!", es war Henri, der antwortete und nicht van der Welt. „Nein. So ist es nicht. Ich. Ich war es."

„Sie?" Janette kapierte nicht, was das Theater sollte.

„Ja. Aurora hat den Hund vergiftet und gedroht, mit der Presse zu sprechen. Das konnte ich nicht zulassen. Vincent ist ein Genie. Er ... er muss weitermachen und hat mit alldem nichts zu tun! Ich war das." Der kräftige Mann fiel vor ihr auf die Knie. „Bitte. Glauben Sie mir. Verhaften Sie mich. Nicht ihn. Und vor allem – keine Presse!"

Sie war perplex. Jedoch passte es ins Bild. Van der Welt war ein sexistischer Arsch, dessen Machenschaften an die Öffentlichkeit gehörten, aber viel zu penibel, um so fahrlässig zu handeln. Melanie Unwelt hätte sie nie allein so weit hinausschleppen können und hatte im Grunde kein Motiv. Am Ende bliebt nur der Souschef.

Verflucht. Warum hatte sie das nicht vorhergesehen? Ehrlicherweise wäre es ihr lieber gewesen, van der Welt hopszunehmen. Aber das musste dann wohl die Presse erledigen ...

* siehe Janette Müllers erster Fall: „Dichtbespachtelte Plätzchen"

★★★

Wahl des Titels

Der Titel sollte eine Assoziation mit dem Meer wecken. Der Geschmack von Salz auf den Lippen, wenn der Wind die feinen Tröpfchen verteilt, gehört für mich klassischerweise dazu. Salzwasser im Gesicht von Janette leitet dabei zunächst die Geschichte ein und später nochmals den dramaturgischen Höhepunkt. Nicht zuletzt handelt es sich um eine Vorausdeutung, dass es um Geschmack geht, in diesem Fall in einem Sternerestaurant.

Trivia

Das premium Kobe-Rind der Rasse „Holstein-Wagyu" existiert tatsächlich. Ob man dessen gezupfte Keule in Sternerestaurants serviert, kann ich jedoch nicht mit Sicherheit sagen. Den Namen und Inhalt für das Gericht habe ich grob an einem existierenden „Surf-and-Turf" Sternekoch-Rezept orientiert. Das Dänen-Gurkenrelish ist natürlich Blödsinn.

Eine der Grundideen für die Geschichte basiert (neben den vorgegebenen Begriffen: windzerzaust, Gurkenrelish, Leuchtturm, Fracksausen, Sprockholz) auf einer ebenso aktuellen wie bedenklichen #metoo Reportage, die "Der Spiegel" Anfang Mai 2023 gebracht hat.

(Referenz: https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/sternekoch-christian-juergens-soll-mitarbeiter-belaestigt-bedraengt-und-drangsaliert-haben-a-19f05aaa-b8c2-4baa-9e63-96aafa8bd996)

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