Camaeleon

Ich sehe in mein Spiegelbild und merke, dass irgendetwas nicht stimmt. Es ist die Kette, beschließe ich. Das Rot des Schmuckes passt nicht zu meiner grünen Haut. Egal. Ich trage sie trotzdem. Meine Augen sehen seltsam aus, voneinander abgespreizt, als säßen sie an zwei verschiedenen Seiten des Gesichtes.

Ich gehe ins Esszimmer, wo meine Mutter einen Kaffee trinkt und Zeitung liest, während sie über die Zeilen nur den Kopf schütteln kann. Ich bin eine brave Tochter, aber trotzdem vermeide ich es mit meiner Mutter zu reden. Sie versteht mich nicht. Sie mag nicht, wie ich mich anziehe. Aber ich habe keine Wahl, meine Freundinnen wollen es so.

Ich will nur schnell mein Frühstück holen und wieder in meinem Zimmer verschwinden, doch als sie aufsieht, zieht sie scharf die Luft ein. Ich weiß, was sie sagen wird. Wie siehst du denn wieder aus? Zieh dir etwas Richtiges an, nicht diese Fetzen von Stoff! Tatsächlich aber sagt sie gar nichts, ich habe sie sprachlos gemacht. Das ist bisher noch nie vorgekommen.

Ich fühle mich auch anders. Vielleicht bin ich krank? Sollte ich Zuhause bleiben? Nein, entscheide ich, was würden andere da denken?

Ich verlasse das Haus unter den entsetzten Blicken meiner Mutter. Dabei trage ich auch nichts Anderes als sonst auch.

Eine alte Frau geht langsam die Straße entlang, sie zittert und ihr fällt die Einkaufstüte aus der Hand. Ich will fragen, ob ich helfen kann, dann sehe ich aber zwei Mädchen, die mir entgegen laufen und lasse es. Ich wäre nur ein Schleimer.

Als meine Freundinnen näher kommen, mustern sie mich entgeistert. Ich hätte die Kette nicht anziehen sollen. Am Liebsten wäre ich jetzt unsichtbar. Oder grau, wie der regnerische Tag.

„Du bist so... farblos", bringt eines der Mädchen hervor und ich würde ihr gerne sagen, dass mir einfach kalt ist, aber der Bus kommt und meine Freundinnen belegen zwei Plätze, abseits von meinem.

Ich sage Freundinnen und doch ist das nur Wunschdenken, eine kleine Hoffnung für jemanden wichtig zu sein. Aber an irgendetwas muss ich glauben, sonst würde ich zerbrechen. Ich versuche ihnen zu gefallen, aber es hilft nichts. Es ist, als würde ich rennen und rennen, aber ich bewege mich doch nicht fort, weil ich keinen Boden unter den Füßen habe, der mit Halt gibt.

Wenn ich durch die Straßen gehe, versuche ich nicht wahrgenommen zu werden, weil ich Angst habe, jemanden zu enttäuschen. Meine Mutter sagt, ich soll mich anpassen, dann würden sie mich akzeptieren.

Erst als ich aussteige und an einem Schaufenster vorbei gehe, merke ich, dass nicht die Kette das Problem ist. Mein Äußeres passt nicht. Ich bin seltsam geformt, ich habe einen langen Schwanz, der sich nach hinten mehrere Male einkringelt. Ich bin nicht mehr grün oder grau, jetzt bin ich rot, wie die Werbetafel hinter mir. Ich habe eine lange Zunge und verspüre das Bedürfnis nach Insekten.

Jetzt verstehe ich. Ich habe falsch gedacht. Ich habe geglaubt, dass ich mich anpassen müsste, um bemerkt zu werden, aber wie soll man etwas sehen, wenn es nicht aus der Masse heraussticht?

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Wenn manche von euch verwirrt sind, kann ich das völlig verstehen. Unsere Aufgabe war es, eine Geschichte über eine Person zu schreiben, die zum Tier mutiert und dabei habe ich (wie auch einige andere) mich dafür entschieden, es eher abstrakter zu machen. Deshalb sieht sie sich selbst im Spiegel und merkt erst nicht, dass sie sich verändert hat und deshalb sind auch die Reaktionen ihrer Mitmenschen nicht ganz so realistisch. Aber wie gesagt, ich habe abstrakt geschrieben, das bedeutet, dass es mir dabei vor allem um die Botschaft ging. Ich hoffe, ich hab euch jetzt nicht zu sehr verwirrt und ihr hattet trotzdem Spaß am Lesen :D

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