Noteanien

Diese Kurzgeschichte habe ich für die erste Runde des Schreibwettbewerbs „As Cool As Ice" von bierfreunde zu dem Thema „Jede Seite des Notebooks war geschwärzt, außer eine!" geschrieben. Viel Spaß beim Lesen!

Immer wieder blätterte ich durch das Notizbuch, das vor mir lag. Ich wurde daraus einfach nicht schlau. Alle Blätter waren geschwärzt. Anscheinend wollte der ursprüngliche Besitzer sicherstellen, dass seine Geheimnisse auch wirklich geheim blieben. Das ergab alles keinen Sinn! Warum sollte mir mein verstorbener Großvater ein Notebook vererben, das laut ihm von großer Bedeutung sei, wenn ich es nicht einmal lesen konnte? Frustriert schlug ich es erneut zu. Genauso gut konnte ich versuchen Wasser mit einem Sieb zu schöpfen. Da ich wusste, wann man am besten aufgeben sollte, zog ich die Schublade meines Schreibtisches auf und verstaute das Notizbuch darin. Frustriert warf ich mich auf mein Bett. Ich stellte die Musik meiner Kopfhörer auf maximale Lautstärke. So konnte ich am besten Nachdenken. Ich merkte, wie ich mich langsam entspannte. Bald darauf schlief ich ein.

Feuer knisterte wohlig warm im Kamin. Ich saß in einem riesigen Ohrensessel, der zu der urigen Einrichtung des Wohnzimmers meines Großvaters gehörte. Seufzend starrte ich in die Flammen. Plötzlich spürte ich einen leichten Druck auf meiner rechten Schulter. Als ich mich umdrehte starrte ich geradewegs in das freundliche Gesicht meines Großvaters. Eine Hand hatte er auf meine Schulter gelegt, in der anderen Hand hielt er ein Buch mit violettem Einband. Bei genauerem Hinschauen erkannte ich es. Es war das Notizbuch, das er mir vermacht hatte. Lächelnd sprach er: „Du hast es also erhalten." Langsam nickte ich. „Aber was soll ich damit!" Die Worte rutschten mir einfach so heraus. Entschuldigend sah ich meinen Großvater an. Dieser winkte jedoch schmunzelnd ab. Langsam kam er um mich herum und setzte sich mir gegenüber. „Du bist wohl wieder einmal zu ungeduldig!" lachte er, „Nimm dir Zeit. Blättere das Buch langsam von vorne nach hinten durch. Dann wirst du sie finden." „Was werde ich finden?", wollte ich noch von ihm wissen. Doch schon war er mitsamt der Einrichtung wieder verschwunden.

Verwirrt schlug ich meine Augen auf. Gerade erklangen die ersten Akkorde meines Lieblingssongs. Trotzdem riss ich mir die Kopfhörer herunter und warf sie auf mein Bett. „Hättest du nicht etwas deutlicher sein können?", fragte ich meinen Großvater im Stillen. Na ganz toll! Jetzt redete ich auch schon mit Toten. Miesmutig sprang ich aus dem Bett. Ich beschloss meinem Traum zu folgen und mein Glück doch noch einmal zu versuchen. Also setzte ich mich einmal mehr an meinen Schreibtisch und holte das Notizbuch meines Großvaters erneut heraus. Seite für Seite arbeitete ich mich vorwärts. Geschwärzt. Geschwärzt. Geschwärzt. Mittlerweile war ich bei der Mitte angekommen. Gelangweilt blätterte ich weiter. Jede einzelne Seite streifte ich lustlos mit meinen Fingern entlang. Wie lange sollte das noch so weiter gehen? Auf einmal hielt ich inne. Endlich sah ich sie. Jede einzelne Seite des Notebooks war geschwärzt, außer eine. Warum war mir diese Seite nicht schon früher aufgefallen? Mein Großvater hatte einmal mehr Recht behalten. Meine Ungeduld hatte mir wieder einmal im Weg gestanden.

Schnell schlug ich die einzige nicht geschwärzte Seite auf. Enttäuscht schüttelte ich den Kopf. Was sollte denn das? Die Seite war beinahe leer. Ein paar merkwürdige Zeichen waren mit Tinte, gut auf der gesamten Seite verteilt, aufs Papier gekritzelt. Die Hieroglyphen sagten mir rein gar nichts. Wut stieg in mir auf. Jetzt hatte ich diese doofe Seite endlich gefunden und kam trotzdem nicht weiter. Wie in Range schnappte ich mir das Buch und schleuderte es in die nächste Ecke. Plötzlich durchzuckte mich ein stechender Schmerz. Stöhnend hielt ich mir meinen dröhnenden Kopf. Auf einmal sprach eine vertraute Stimme zu mir. Es fühlte sich an als käme sie direkt aus meinem Inneren. "Erinnere dich an die Geschichten, die ich dir als Kind immer erzählt habe!", ermahnte mich mein Großvater.

Heillos überfordert von der Stimme, die ich vernahm, ließ ich mich kraftlos zu Boden sinken. Ratlos schüttelte ich den Kopf. Was war gerade geschehen? Hatte soeben tatsächlich mein Großvater in Gedanken zu mir gesprochen. Könnte dies wirklich möglich sein? Ich weiß nicht wie viel Zeit verging. Aber es fühlte sich an, wie eine halbe Ewigkeit, die ich wie ein Häufchen Elend zusammengekauert auf dem Fußboden verbrachte.

Nach einiger Zeit konnte ich mich dazu durchringen aufzustehen. Wie paralysiert ging ich zu dem Notizbuch hinüber und hob es auf. Kaum erblickte ich erneut die Zeichnungen auf dieser Seite, fiel mir alles wieder ein. Ohne meinen Blick von dem Gekritzel abzuwenden, setzte ich mich zum dritten Mal an diesem Tag an meinen Schreibtisch. Schon war ich in Gedanken versunken. "Das Zeichen bedeutet Geduld und dieses hier steht für bedingungslose Liebe!", dachte ich bei mir. Ein weiteres war ein Symbol, das mir mein Großvater früher einmal beschrieben hatte. Es steht für ein fremdes Land, von dem er mir immer wieder Geschichten erzählt hatte, als ich noch ganz klein war.

Reih um zeigte ich auf alle Hieroglyphen, deren Bedeutung ich auf einmal kannte. Als ich endlich alle Zeichen übersetzt hatte, traute ich meinen Augen kaum. Denn plötzlich wich die Schwärze aus allen Seiten. Verdutzt rieb ich mir die Augen. Träumte ich schon wieder? Flüchtig blätterte ich durch das Buch. Jede einzelne Seite war zur Gänze weiß geworden und zeigten nun verschiedene Bilder. Allesamt erinnerten sie mich an die Geschichten meines Großvaters. Ich konnte es nicht fassen. Was hatte das zu bedeuten? Ein merkwürdig vertrautes Gefühl beschlich mich beim Betrachten der Fotos. "Nimm es an!", hallte es in meinem Kopf wider. Es fühlte sich an, als würde mein Großvater mich leiten. Ich vertraute ihm, also ließ ich mich darauf ein.

Tausend Eindrücke gleichzeitig prasselten auf mich ein. Ich fühlte mich wie benommen. Somit wunderte ich mich gar nicht darüber, als das Notebook plötzlich zu schweben schien. Langsam begann es höher und immer höher zu steigen. Leichte Gänsehaut machte sich auf meinen Armen breit, als ich einen leichten Luftzug spürte. Vor meinen Augen begannen sich die Seiten auf einmal wie von selbst umzublättern. Genau in der Mitte des Notizbuches stoppte die Bewegung und das Buch sank langsam zurück in meine Hände. Kaum berührte ich den violetten Einband erneut verschwand auch meine Benommenheit wieder. Verwirrt über das Geschehene schüttelte ich leicht den Kopf.

Meine Verwirrung nahm zu, als ich meinen Blick senkte. Über die gesamte Doppelseite erstreckte sich ein schwarz-grauer Tornado. Unwillkürlich legte ich meinen Zeigefinger darauf und fuhr die Spur nach. Plötzlich rauschte es in meinen Ohren und ich spürte einen starken Sog. Angespannt schloss ich die Augen und wartete darauf, was als nächstes geschehen würde. Als ich die Augen wieder öffnete, war mein Zimmer verschwunden. Eine mir unbekannte und doch so vertraut wirkende Landschaft erstreckte sich vor mir. Das Notebook immer noch fest in meinen Händen haltend sah mich um. Alles hier erinnerte mich an die Bilder aus dem Notizbuch und an die Geschichten meines Großvaters von einer anderen Welt, die mich als Kind so fasziniert hatten. Als ich die Präsenz einer weiteren Person spürte, wusste ich, noch bevor ich sie sah, wer es war. Mein Großvater stand breit grinsend vor mir. "Willkommen in Noteanien!", begrüßte er mich.

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