Ein Wiedersehen macht traurig

Schon seit Tagen stehe ich unter Strom. Doch heute ist es endlich so weit. Ganz hibbelig vor Vorfreude sitze ich auf dem Beifahrersitz von Kates Auto. Kate ist meine Tante mütterlicherseits. Von der Seite kann ich erkennen, dass sie etwas angespannt ist. Klar, sie hat ja den Bruder meines Vater und seine Frau schon jahrelang nicht mehr gesehen. Und ganz unter uns gesagt hat sie mit den beiden noch nie ein wirklich gutes Verhältnis gehabt. Natürlich habe ich meinen Onkel und meine Tante vermisst. Am meisten freue ich mich jedoch meine Cousine Ann-Kathrin wieder zu sehen. Sie hat mit ihren Eltern ein ganzes Jahr in Afrika verbracht. Dort haben die drei in einem kleinen Dorf bei Ureinwohnern gewohnt, ganz ohne Empfang und Internet. Deshalb wissen sie noch gar nichts von den Geschehnissen, die sich während ihrer Abwesenheit zugetragen haben. Allein bei dem Gedanken daran es ihnen sagen zu müssen wird mir schlecht. Die Erinnerung an das Vergangene treibt mir schon wieder Tränen in die Augen. Nach einem kurzen Schniefen schüttele ich entschlossen den Kopf. Nein, ich will nicht schon wieder weinen. Nicht jetzt! Jetzt möchte ich mich nur darauf konzentrieren Ann-Kathrin nach so langer Zeit endlich wieder zu sehen. „Willst du denn gar nicht aussteigen, Brie?", reißt mich meine Tante plötzlich aus meinen Gedanken. Ich habe gar nicht bemerkt, dass wir angekommen sind. Als ich endlich die Türe öffne steht Kate schon längst neben dem Auto und wartet auf mich. Hastig springe ich vom Sitz und eile mit meiner Tante zum Terminal C des Flughafens. Jede Sekunde kann meine Cousine mit ihren Eltern dort ankommen.

Endlich sehe ich sie. „Ann-Kathrin!", rufe ich ihr schon von Weitem entgegen. Ihre blonde Lockenmähne wirbelt sofort herum. Als sie mich erblickt, lässt sie augenblicklich ihr Gepäck fallen. Natürlich kippt ihr pinker Trolley zur Seite und knallt zu Boden. Schneller als ich sie jemals habe laufen sehen sprintet sie auf mich zu. Auch ich renne ihr entgegen. Sobald wir aufeinandertreffen zieht meine Cousine mich in eine herzliche Umarmung, die gefühlt mehrere Stunden andauert. „Ich habe dich so vermisst!", flüstere ich ihr ins Ohr. Als wir uns endlich voneinander lösen, merke ich, dass ihre Eltern mittlerweile neben uns stehen. Ihr Vater hat sogar ihren Koffer aufgehoben und neben uns abgestellt. Schnell begrüße ich meinen Onkel und meine Tante mit einem kurzen Kuss auf beide Wangen. Dann nehme ich mir einen Augenblick Zeit, um die drei genauer zu betrachten. Alle haben braun gebrannte Haut. Sie sehen erholt aus. Richtig frisch und munter. Die dreiköpfige Familie trotzt nur so vor neuer Lebensenergie. Ich lächele sie an, während ich traurig meinen Gedanken nachhänge. Ich bin im Moment das komplette Gegenteil von ihnen. Ich fühle mich müde und ausgelaugt, als hätte man mich all meiner Lebensenergie beraubt.

Trotzdem versuche ich mir nichts anmerken zu lassen. Sichtlich gut gelaunt frage ich meine Familienangehörigen nach ihren heutigen Plänen. Da die drei Neuankömmlinge den Tag nur zum Auspacken nutzen wollen, schlägt meine Tante Kate ein gemeinsames Essen vor. Natürlich entgeht mir nicht, dass dies die ersten Worte sind, die sie während des ganzen Gespräches fallengelassen hat. Auch dem Bruder meines Vaters und seiner Frau dürfte diese Tatsache mehr als bewusst sein. Denn mein Onkel ergreift nun das Wort. Mit fester, aber versöhnender Stimme spricht er: „Kate, es ist schön dich zu sehen. Ich weiß, wir hatten nicht immer das beste Verhältnis zueinander. Aber was hältst du davon, wenn wir unsere Differenzen beiseitelegen und von vorne beginnen würden." Auch seine Frau blickt meine Tante aufmunternd an. Dieser steigen nun vor Rührung Freudentränen in die Augen. Meiner Meinung nach hat sie ihr Leben lang auf nichts anderes als auf diese Worte gewartet.

Frisch versöhnt machen wir uns also auf den Weg zu „Mucho Bello", unserem gemeinsamen Lieblingsrestaurant. Kaum sitzen wir am Tisch, beginnt auch schon eine angenehme Unterhaltung. Die meiste Zeit erzählen die drei Reisenden von ihren Erlebnissen und Eindrücken aus Afrika. Kate und ich hören ganz gespannt zu. Die heitere Stimmung bleibt während des Essens aufrechterhalten. Als der Kellner die Teller abräumen kommt, bestellen wir Dessert. Beim Warten erhebt mein Onkel abermals seine Stimme: „Wie geht es meinem Bruder denn so? Ich weiß, dein Vater ist ein viel beschäftigter Mann. Jedoch, dass er nach einem Jahr nicht einmal die Zeit findet seinen eigenen Bruder vom Flughafen abzuholen, hätte ich nicht gedacht!" Am Ende wirkt er ein wenig enttäuscht.

Mir stockt der Atem. Röchelnd ringe ich nach Luft. Ich habe fast das Gefühl zu ersticken. Vorsichtig sieht mich meine Tante Kate von der Seite an. Nun bemerken die drei, dass etwas nicht stimmt. Bedrückt und doch neugierig sehen sie uns an. Meine Cousine sieht mir tief in die Augen. Als sie bemerkt, dass sich Tränen in ihnen sammeln, springt sie so heftig auf, dass ihr Sessel beinahe umgekippt wäre. Schnellen Schrittes kommt sie zu mir herüber und nimmt mich wieder in den Arm. Während sie mich ganz fest drückt, flüstert sie mir beruhigend zu, dass ich ihnen endlich erzählen soll, was passiert ist. Natürlich hat sie mich als einzige von Anfang an durchschaut. Sie hat sofort bemerkt, dass mich etwas bedrückt. Jedoch hat sie mich auf keinen Fall zu einem Gespräch drängen wollen. „Ich muss es ihnen jetzt sagen!", denke ich bei mir. Einmal atme ich noch tief durch und beginne dann zu erzählen.

„Mum und Dad... Sie sind vor drei Wochen bei einem tragischen Autounfall ums Leben gekommen. Fahrerflucht!", schluchze ich mit gebrochener Stimme, „Die Ermittlungen zu dem Fall sind noch nicht abgeschlossen. Deshalb ist die Beerdigung noch ausstehend." Zum Ende hin versagt meine Stimme ganz. Ann-Kathrin drückt sich nun mit ihrem gesamten Gewicht gegen meinen zierlichen Körper. Ihre Mutter blickt mich bestürzt an. Mein Onkel entkommt ein Schniefen, bevor er lautlos zu weinen beginnt. Vorbei ist die unbeschwerte Zeit, die wir in diesem Restaurant verbracht haben. Trauer und Schmerz legt sich wie eine dunkle Gewitterwolke über unseren Tisch.

Nach einer Weile löst sich meine Cousine von mir. Auch sie hat nun vom Weinen rot geschwollene Augen. Die Tränen meines Onkels sind schon vor einiger Zeit versiegt. Seine Frau starrt immer noch wie geschockt vor sich hin. Endlich kann sie sich aus ihrer Schockstarre befreien und wendet sich nun an mich. „Kind, ich weiß gar nicht was ich sagen soll. Das tut mir so schrecklich leid. Ich weiß weder gibt es Worte für solch eine Tragödie, noch möchte ich dich unnötig quälen. Aber was tun wir denn nun? Wo bist du denn bis jetzt untergekommen?", flüstert sie immer noch bedrückt.

„Natürlich habe ich Brie bei mir aufgenommen und dafür gesorgt, dass sie die nötige Hilfe bekommt, die sie braucht!", erklärt meine Tante Kate. „Jeden Freitagabend gehe ich zu einer Selbsthilfegruppe!", ergänze ich fast tonlos, „Ich würde mich freuen, wenn du, Ann-Kathrin, mich demnächst einmal dorthin begleiten würdest." Stumm nickt sie mir zu und lächelt mich traurig an. Natürlich wird sie mich unterstützen. Schon von klein auf ist sie immer für mich da gewesen. Dankbar lächele ich ihr ebenfalls entgegen. Wir haben uns immer schon, auch ohne Worte, gut verstanden.

Schlagartig verstummen alle Gespräche. Die weitere Unterhaltung bei Tisch beschränkt sich nun auf ein paar Höflichkeitsfloskeln, während wir lustlos in unseren Desserts herumstochern. Stumm und wie in Zeitlupe verzehren wir unsere Nachspeise. Niemand sagt auch nur mehr ein Wort. Endlich haben wir alle aufgegessen. Mein Onkel begleicht die Rechnung, sein Blick starr geradeaus gerichtet. Seine harten Gesichtszüge spiegeln seine tiefsten Emotionen wider. Er wirkt als bezahle er eine Henkersmahlzeit. Zuletzt nimmt mein Onkel wie in Trance den Beleg entgegen. Dann verlassen wir fast schleichend das Lokal. Nach diesem Essen hat es seine magische Bedeutung wohl auf ewig verloren.

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