Das blaugrün schimmernde Fensterglas


Wieder einmal fiel ihr Blick auf das Fensterglas hinter der Gruppe. Spiegelnd erkannte sie sich, ihre Gestalt, ihre Miene, ihre Haltung. Und wie jedes Mal, wenn sie sich an eben jenem Spiegelbild fest sah, überkam sie eines dieser plumpen Gefühle im Magen. Wie sollte sie auch so einer mögen? So wie sie dastand, sich verhielt, so wie sie aussah? Was sollte sie auch erwarten? Diese Gesellschaft mit ihren Standards. Schon lange hatte sie den Glauben an die Menschheit verloren. Doch seitdem sie immer mehr in diese hineinwuchs, desto verbitterter wurde sie, desto weniger wert fühlte sie sich.
Vielfalt, Vielseitigkeit, Verschiedenartigkeit. Schlagworte, die gepriesen wurden wie nie, und doch nur leere, graue Worte darstellten. Es war deprimierend, nur noch deprimierend. Diese Vergleiche mit anderen, mit schöneren, mit bildhübschen Frauen auf Instagram, TikTok oder sogar in der Schule und der Freizeit. Sie wollte es nicht, sie wollte das alles nicht. Doch es war wie eingemeißelt, wie eingebrannt in ihr Gehirn. Sie wusste nicht recht weshalb, doch würde auf diese Frage sicherlich irgendein Psychodoktor eine Antwort parat haben.
Es war nicht gesund, das wusste sie. Doch was sollte sie machen? Niemand, wirklich niemand schien sie so zu mögen, wie sie war. Jedenfalls keiner, der auch nur in Frage kam mehr als nur freundschaftliches Interesse zu hegen.
Weibliche Freunde hatte sie viele, viele gute. Offen und ehrlich standen sie sich auch genau in diesem Moment gegenüber, redeten und lachten über die Lehrer in den vorherigen Stunden. Doch dieses Mal beteiligte sie sich nicht. Nicht, dass sie ihre Freundinnen nicht wertschätzte und mehr als alles andere mochte, doch war das eben nicht das gleiche.
Kein Junge blickte sie an und lächelte, keiner war interessiert. Weshalb? Simpel. Sie hatte keine Sanduhrfigur, keinen wohlgeformten Po, keinen großen Busen, keine schmale Taille oder sportliche Statur. Nein, sie besaß einen dickeren Bauch als andere, hatte wahrscheinlich größere Oberschenkel als die meisten Jungen, hatte Hip Dips und sah aus wie eine Tür. Ihre Augen besaßen nicht diese Außergewöhnlichkeit wie die anderer und ihre Wimpern waren die kürzesten auf Erden. Noch dazu ihre viel zu unreine Haut, die sie versuchte mit Schminke abzudecken, was, betrachtete man den Wunsch der heutigen Generation, völlig fehl am Platz war, weil ja die Natürlichkeit zählte. Doch litt man an schwerer Akne galt man sofort als ungepflegte Person. Es war komplett widersprüchlich. Alles was man machte war falsch.

Wenn sie sich so in der Spiegelung des blaugrün schimmernden Fensterglases ansah, sah sie nur noch mehr dieser unperfekten, hässlichen Züge ihres Körpers, ihres Gesichts, ihres Wesens. Es war egal wie sehr man sich bemühte, wie gern man Sport trieb, wie sehr man versuchte in dieses perfekte Menschenbild zu passen. Es sah ja doch niemand.
Zähneknirschend unterdrückte sie ihr Magenknurren und überredete sich selbst, dass sie noch ein wenig länger ohne auskäme. In Anbetracht der Tatsache, dass nun gerade er vorbeilief, war das vielleicht gar nicht dumm. Fast erschrocken hatte sie sich, als er durch die Tür, hinaus auf den Hof, vorbei an ihrer Mädelsgruppe lief. Ängstlich drehte sie eilig ihren Kopf beiseite, als sein Blick ihren geschliffen hatte. Nun starrte sie vielleicht nicht mehr auf ihre Unvollkommenheit im Spiegelbild, doch hatte er sicher registriert, wie unschön ihr Anblick war.
Mal ganz abgesehen davon, hasste sie es. Sie hasste es, dass sie die Art von Mädchen war, das nach unten blickte, wenn sie jemand zu lang betrachtete und dass sie die Art von Mädchen war, dass sich abwandte, wenn man sie beim Starren erwischte. Sie hasste es, wohl bestimmt für ihr verknotetes Haar bekannt zu sein oder für ihr dummes Gelaber. Sie hasste es, keinem Jungen, den sie nicht schon Jahre kannte, ein Lächeln schenken zu können, weil sie glaubte das sofort jeder dachte, das hässliche Entlein wolle was von ihm. Sie ärgerte sich über ihre Visage, die sie auszeichnete, wenn sie genervt oder gelangweilt war. Oder wenn sie einfach neutral blickte. Jeder musste denken sie sei unfreundlich, arrogant und selbstsüchtig. Doch war genau das Gegenteil der Fall. Sie war unsicher vor Menschen zu sprechen, sie hatte Selbstzweifel wie keine zweite, hörte bei Welten zu sehr auf die Worte und Meinungen der anderen, machte sie regelrecht zum Gesetz.

Dabei wünschte sie jedem das Bestmögliche und war überzeugt, dass ein jeder Freundlichkeit und Respekt verdient hatte.
Gleichzeitig war sie aber auch das Mädchen, das über jeden seiner Witze lachen würde, witzig oder nicht. Das Adrenalinkicks benötigte, wie wenige ihrer Freunde. Sie war das Mädchen, dass Fußball liebte und doch nur als eine abgestempelt wurde, die es wegen der ach so heißen Fußballer schaute. Sie war am Befinden eines jeden interessiert und fragte aus ehrlicher Neugier wie der Tag desjenigen denn war, wenn sie jemanden ihrer Freunde sah. Sie war die Art von Mädchen, dass man Nachts um drei Uhr morgens mit einem Buch in der Hand im Bett liegen sah, weil sie jene Fantasiewelt spannender fand als ihre eigene.
Doch das Einzige was man registrierte, war das Mädchen, das nicht wusste wie man sich hübsch kleidete, wie man nach dem Trend ging. Sie war das Mädchen, das die falschen Schuhe zu einem Outfit trug, neue kaufte und sie doch wieder zu hässlich zum Tragen empfand. Sie war die Art von Mädchen, die sich lieber hinter Stapeln von Büchern oder Heftern versteckte, die lieber lernte, als das Leben zu genießen, weil dies ja nur den Perfekten erlaubt war. Sie versteckte sich hinter ihrem Wissen, hatte immer damit glänzen und auf sich aufmerksam machen wollen, hatte damit attraktiv wirken wollen. Doch niemanden interessierte es. Und sie hasste es, sie hasste es einfach nur noch. Sie lernte und schuftete, büffelte und strengte sich an. Denn wenn sie eines gelernt hatte, dann, dass nur den wohl perfekten Menschen etwas im Leben geschenkt wurde. Doch sie gehörte nicht dazu.
Wie sollte sie auch? Woher sollte all das jemals einer wissen? Wer sollte sie wirklich kennenlernen wollen, wenn sie für gar niemanden ansprechend wirkte?
Es war hoffnungslos.
Ebenso wie die Meinungen der Eltern, der Verwandten, Großeltern: „Du hast doch sicher einen Freund, nicht wahr?", „Wie läuft es bei dir in der Liebe?" oder „Bei dir sollte ich eine Begleitung einplanen, richtig?" Fragen, die sie immer wieder gleich beantwortete. Erst letztens hat sie ihren älteren Schwestern erklärt, woran es haperte, dass sich keiner für sie zu interessieren schien. Sie entsprach einfach nicht der Norm. Es war egal wie sehr sie versuchte irgendwo hineinzupassen, wie gut sie in der Schule war. Sie war einfach uninteressant, weniger Wert.

„Kommst du?", wurde sie von ihren Freundinnen aus dem verkrampften Bodengestarre gerissen. Suchend blickte sie auf. Er war nicht mehr da. Und schon wieder hatte sie es nicht geschafft ihn anzulächeln.
„Die Pause ist zu Ende. Alles gut?", sprach sie eines der Mädchen an. Lächelnd wandte sie ihren Kopf von ihrer Spiegelung ab. Ein unehrliches Lächeln zierte nun ihr Gesicht. „Ja, es ist alles in Ordnung. Ich bin in Gedanken nur schon Chemie durchgegangen.", log sie und folgte der Mädchengruppe, während sie hoffte in wenigstens jenem Test der Norm zu entsprechen.
Kaum hatte sie das Gebäude betreten, trennten sich ihre Wege, jeder suchte seinen Kurs. Und das blaugrün schimmernde Fensterglas ließ sie hinter sich, die Spiegelung ihrer Unvollkommenheit.

Wörter: 1190

By: Rfaehm

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