3. Ein geheimnisvoller Fremder

𝖃𝖃𝖃 - 𝔅𝔢𝔯𝔤𝔢 𝔡𝔢𝔰 𝔉𝔢𝔲𝔢𝔯𝔯𝔢𝔦𝔠𝔥𝔰

Schon seit einer Stunde schallte Floras Name durch die Berge am Rand des Feuerreichs. Das Rufen wurde zunehmend lauter und klang verzweifelter, aber unerbittlich vernahm man immer wieder Mizras Stimme, während er überall nach seiner Tochter suchte.

Die Dyns hatten mit ihrer Vermutung richtig gelegen, dass das Mädchen dem Trupp hatte folgen wollen. Überall, wo ihr Bruder Zoran war, da wollte sie auch sein, aber mittlerweile war sie sich nicht mehr sicher, ob sie überhaupt den richtigen Weg eingeschlagen hatte.

Sie hörte kein Rufen und wenn sie dachte etwas gehört zu haben, lauschte sie angestrengt, konnte aber nichts mehr vernehmen. Wahrscheinlich hatte sie sich geirrt und in Wahrheit hatte nur ein Vogel gekreischt.

Der Weg wurde immer weicher und ging von steinigen Felsen in einen erdigen Waldweg über, der sich immer weiter schlängelte, dorthin wo die Nadelbäume die Sicht auf den weiteren Verlauf verbargen und Flora immer hoffte die Truppe um die nächste Kurve kommen zu sehen. Aber es kam niemand, es war still, bis auf das Zwitschern der Vögel, die ihren Abendgesang anstimmten.

Flora setzte sich erschöpft und frustriert auf einen Stein am Rand des Weges, die untergehende Sonne erreichte das Mädchen mit ihren Strahlen nicht mal mehr. Langsam kam sie tatsächlich zu dem Schluss, dass sie die anderen verfehlt haben musste. Ihr Vater würde niemals so lange wegbleiben und sie alleine im Dorf zurücklassen, er wusste, dass sie das hasste und er hatte sich nicht mal verabschiedet.

Sauer nahm sie einen kleinen Stein vom Boden auf und warf ihn weit weg in das Gebüsch. Eigentlich wollte sie erstmal weiter hier sitzen bleiben und sich ausruhen, aber sie hörte plötzlich etwas, das sie aufhorchen ließ. Kam da jemand den Pfad entlang auf sie zu?

Flora hatte keine Angst, stand auf und wartete ab wer da kommen würde. Vielleicht war es doch der Trupp und sie hatte ihn nicht verfehlt! Es könnte etwas vorgefallen sein, was ihn langsamer hatte vorankommen lassen oder sie hatten etwas entdeckt!

Aber es war niemand den sie vom Äußerlichen her kannte. Dass sich einer vom Trupp abgespalten und alleine in einer anderen Gestalt unterwegs war, schien ihr zweifelhaft, auch wenn ihr kurz der Gedanke gekommen war.

Der Junge hatte sie jetzt auch bemerkt und blieb abrupt stehen, die Kapuze seines schwarzen Mantels bedeckte sein Gesicht fast ganz und er hatte die behandschuhten Hände um den Gurt einer Tasche geklammert, die über seine Schulter hing.

»Wer bist du?«, fragte Flora direkt und mit ein wenig Misstrauen in der Stimme. Der Junge war keiner ihrer Leute aus dem Dorf und ein Soldat war er ganz sicher auch nicht, aber er trug ein dünnes Lederarmband am Handgelenk, was darauf hindeutete, dass er aus dem Erdreich stammte. Was machte jemand vom Erdreich in den Bergen des Feuerreichs, wo sich sonst keine Menschenseele hinauf wagte und wo sie immer alleine und in Ruhe und Frieden lebten?

Der Junge sah sie leicht erschrocken an, als wüsste er nicht was er sagen sollte und es hätte ihm die Sprache verschlagen hier ein junges Mädchen ganz allein im Wald zu sehen. Zugegeben, das war auch etwas komisch, aber immerhin wohnte sie hier in der Nähe, er bestimmt nicht und sie hatte ihn vorher noch nie gesehen.

»Ich... ich wollte meinen Onkel besuchen, aber er...«. Der Junge beendete seinen Satz nicht und zeigte stattdessen hinter sich, in die Richtung in der das Ordenshaus hatte stehen müssen. Traurig blickte er Flora an und sie bekam sogleich Mitleid mit ihm. Sein Onkel war bestimmt einer der Soldaten gewesen. Von oben hatte sie die Verwüstung gesehen und ihr war klar gewesen, dass niemand hatte überleben können.

»Das tut mir leid«, seufzte sie. »Mein Vater und mein Bruder sind heute Morgen losgezogen und wollten nachschauen, ob es noch Überlebende gibt.« Sofort horchte der Junge auf, an seiner erwartungsvollen Haltung sah sie, dass sie etwas gesagt hatte, was ihn sehr interessierte.

»Du weißt mehr darüber? War es ein Mutant? Das muss es doch gewesen sein, oder? Ich meine, was könnte sonst...?« Wieder hielt er inne und schaute Flora entschuldigend an. »Tut mir leid, ich bin schon lange gereist und ich kann immer noch nicht fassen, dass er wahrscheinlich tot ist. Aber was machst du hier ganz alleine?«

»Oh, ich äh... weißt du, das ist eine lange Geschichte, genaugenommen müsste ich im Dorf sein, aber... naja, ich habe die anderen verfehlt, denn ich habe mich davongeschlichen und bin ihnen gefolgt.«, gab sie schließlich widerwillig zu. Sie wollte nicht, dass sie wie ein störrisches kleines Kind angesehen wurde, auch nicht von einem Fremden und sie gab das nur ungern preis.

»Den anderen gefolgt sagst du? Und du wohnst hier irgendwo in den Bergen?« Der Fremde trat einige Schritte näher, um seine Tasche auf den Stein abzustellen. Sie war nicht sehr schwer, wie sie an seinen leichten Bewegungen feststellen konnte, aber auf die Dauer musste der lange Lederriemen doch zu sehr an der Schulter ziehen.

»Ja, in die Richtung irgendwo. Auf der anderen Seite des Hangs. Es wird wohl Zeit, dass ich wieder zurückkehre, wenn der Trupp tatsächlich schon an mir vorbeigekommen ist, dann macht sich mein Vater bestimmt Sorgen.« Sie runzelte nachdenklich die Stirn und fühlte sich plötzlich schuldig, dass sie sich davongeschlichen hatte und alleine in den Bergen unterwegs war. Auch wenn sie jetzt natürlich nicht mehr alleine war.

Sie betrachtete den fremden Jungen, der in seiner Tasche etwas zu suchen schien. Die Kapuze hatte er immer noch nicht abgenommen, aber einzelne wirre, weiße Haarsträhnen kamen darunter zum Vorschein. Als er merkte, dass sie ihn ansah, lächelte er ihr leicht zu und blickte sie mit unterschiedlich farbigen Augen an. Das eine war eisblau und das andere schien fast schon weiß, darunter zog sich eine Narbe über seine sonst sonnengebräunten Haut.

Flora fragte sich, ob er mit dem silbrigen Auge überhaupt sehen konnte, aber sie konnte die Frage nicht stellen, weil ihr ein betörender Geruch in die Nase stieg, wodurch alles andere vergessen war. Der Junge hatte Brote aus seiner Tasche geholt, packte sie aus und reichte ihr eine dicke Scheibe, die mit Honig beschmiert war.

Jetzt erst merkte sie, wie hungrig sie eigentlich war und nahm dankbar das Brot an, ohne eine Spur von Misstrauen. Der Junge bat ihr etwas zu essen von seinen eigenen Vorräten an, nachdem er sie gerade zufällig getroffen hatte, wie konnte er da etwas Böses im Sinn haben?

Tatsächlich war das Treffen für Anduin ein großer, aber sehr glücklicher Zufall gewesen. Seitdem der Trupp das Ordenshaus verlassen hatte, war er ihnen gefolgt, jedoch in der Gestalt eines Raben hoch über ihren Köpfen. Als sie im Wald verschwunden waren, hatte er sie irgendwann verloren und beschlossen als Mensch dem Weg zu folgen, um mögliche Spuren zu entdecken. Er war sich gerade nicht mehr sicher gewesen, ob sie überhaupt hier gelaufen waren, als das Mädchen plötzlich da saß und ihm dann auch noch erzählte, dass zwei der Mitglieder der Gruppe ihr Vater und ihr Bruder gewesen waren. Sie konnte ihn ganz einfach zu ihnen führen.

Während das Mädchen aß, als hätte sie seit Tagen nichts mehr bekommen, stellte er sich vor. »Ich bin Anduin.« Obwohl er bei dem Zweck seiner Reise gelogen hatte, benutzte er jetzt doch seinen Namen, den er auch allen anderen Menschen und Wesen nannte. »Ich bin Flora«, sagte sie mit vollem Mund und wischte sich den Honig mit dem Ärmel ihres lange nicht mehr weißen Hemdes fort.

Anduin wusste ganz genau, dass sie wie die anderen eine Dyn war und hier irgendwo in den Bergen lebte, aber diese Information behielt er für sich, weil sie sonst wahrscheinlich Verdacht schöpfen würde. Das wahre Ziel seiner Reise war ein gefährlicher Brief, dessen Inhalt er nur gelesen hatte, weil der Empfänger tot war und er dem Absender nicht vertraute. Eigentlich verletzte er damit die Pflicht seines Botschafter-Daseins, aber wenn niemand wusste, dass er ihn gelesen hatte, dann konnte auch niemand ihn zur Rechenschaft ziehen.

»Sag mal Flora...«. Sie blickte ihn erwartungsvoll an, jetzt lag keine Feindseligkeit, sondern nur noch Freundlichkeit in ihren eisblauen Augen. »Wäre es in Ordnung für dich, wenn ich dich auf deinen Rückweg begleite? Wenn sie tatsächlich jemanden beim Ordenshaus gefunden haben, der noch lebte, dann würde ich gerne wissen, ob... mein Onkel vielleicht noch...«. »Klar«, unterbrach sie ihn sofort und sprang schon auf die Füße. Das Brot hatte ihr anscheinend Kraft geschenkt, denn von Müdigkeit war nichts mehr zu sehen.

Flora hüpfte von Stein zu Stein vor ihm her, während er ruhiger mit der Tasche hinterher trottete. Er hätte sich gerne verwandelt und wäre ihr fliegend gefolgt, aber seine Tarnung als ganz gewöhnlicher Mensch, gab er nie einfach so auf. Obwohl Flora so klein und dünn aussah, war sie doch unglaublich zäh und er hatte ihre Kraft ganz sicher unterschätzt.

Als es dunkel wurde wiesen ihm ihre wehenden rotbraunen Haare den Weg und er konnte nur dank ihrer Trittsicherheit einige schwierige Stellen am Hang passieren. Nachdem sie mindestens zwei Stunden gelaufen waren, hörten sie von weit her vereinzeltes Rufen. »Das ist mein Vater«, sagte Flora besorgt und legte noch einen Zahn zu, sodass sie schon fast rannte. Anduin konnte nur schwer folgen und verfluchte den Fakt, dass er sich nicht einfach verwandeln konnte.

Irgendwo vor ihm fing auch Flora an zu schreien und es wurde sofort erwidert. Nach dem letzten Anstieg hatten sie den Hang erreicht und Anduin blieb oben kurz stehen, um zu verschnaufen, Flora rannte schon hinunter und einem Mann genau in die Arme. Auch in der Dunkelheit erkannte man ganz gut, dass die beiden sich umarmten und Flora hochgehoben wurde.

Der Mann, sehr wahrscheinlich Floras Vater, wollte sich schon abwenden in die Richtung einzelner Lichtpunkte in einiger Entfernung, aber sie hielt ihn auf, zog ihn am Ärmel und deutete hinauf zum Hang, wo Anduin stand und auf das Ganze hinabblickte. Sie redeten kurz, wobei Flora immer wieder tatkräftig nickte und schließlich winkte der Mann ihn zu sich.

Anduin setzte sich sofort in Bewegung und schlitterte halb den Hang hinab zu ihnen. Floras Vater entpuppte sich als kräftiger Mann mit breiten Schultern, ebenso rotbraunen Haare wie Flora, zusätzlich jedoch auch noch einen Bart, und warmen grünen Augen, aus welchen immer noch Tränen über seine Wangen liefen.

Väterlich legte er dem Jungen die Hand auf seine Schulter. »Ich danke dir, dass du Flora gefunden und wieder zurück nach Hause begleitet hast.« Anduin wollte schon etwas verlegen erwidern, dass es wirklich kein Thema war und sie eher ihn sicher hier hin geführt hatte, aber Flora umarmte ihn plötzlich stürmisch und er konnte vor Rührung keinen Ton hinaus bringen.

»Komm doch mit zu uns und iss mit uns, ich bin sicher du hast Hunger und ein Bett haben wir bestimmt auch noch frei.« Anduin nahm das Angebot dankbar an, nicht nur wegen der Verlockungen von einer Mahlzeit und einem warmen Schlafplatz, sondern auch weil sein Ziel sich in diesem Dorf befand.

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Die Stimmung war prächtig, als Flora, Anduin und Mizra, wie er sich vorgestellt hatte, in das Dorf gelaufen kamen. Anscheinend hatte sich wahrlich jeder um das Mädchen gesorgt und von dem einen wurde sie ausgeschimpft, von dem anderen in eine herzliche Umarmung gezogen.

Das Dorf war eine seltsame Mischung aus Steinbauten, die halb im Berg verschwanden und wohinter ganz sicher eine Höhle verborgen lag, selbst erbauten Hütten aus Holz, großen Gemüsebeeten und eine Kuppel, wo Rinder und einige Schafe grasten. Wäscheleinen spannten von der einen zur anderen Behausung und die Einwohner hatten sich alle um eine Feuerstelle auf einem offenen Platz versammelt, wo sie sie begrüßten.

Nachdem sich die Aufregung um Flora gelegt hatte, und sie sicher und behütet auf dem Schoß ihres Vaters eingeschlafen war, fingen die Dyns an ihn zu mustern, als würden sie jetzt erst bemerken, dass ein Fremder sich unter ihnen befand, der da gerade eine Schüssel von ihrem Essen bekommen hatte.

»Darf ich vorstellen? Das ist Anduin, er hat meine Tochter gefunden, zu essen gegeben und sicher nach Hause begleitet. Ohne ihn wäre sie vielleicht immer noch da draußen und müsste ganz alleine zurückfinden.«

Anduin räusperte sich etwas verlegen, weil er jetzt so sehr im Mittelpunkt stand. »Eigentlich hat sie mich zu euch begleitet. Ich habe nämlich gesehen, wie ihr den Soldaten aus den Trümmern des Ordenshaus gerettet habt.« Jetzt, da Flora schlief und sie ihn alle so freundlich aufgenommen hatten, beschloss er offen zu sein und seine wirkliche Absicht nicht mehr zu verbergen, zumal sie nichts Verbotenes oder gar Schlimmes war.

Er stellte die halb leer gegessene Schüssel kurz zur Seite und öffnete seine Tasche, um einen Brief hinaus zu ziehen. Die Dyns warteten ruhig ab und bestürmten ihn nicht direkt mit Fragen, wofür er sehr dankbar war.

»Ich bin Botschafter und sollte diesen Brief den Leutnant des Ordenshauses übergeben, aber leider...«. Er schwieg, weil er wusste, dass alle die Problematik verstanden haben mussten.

»Der einzige Überlebende ist bei Sylvana«, informierte ihn jemand und zeigte auf ein Steinhaus in der Nähe. »Der Leutnant ist er allerdings nicht. Ist wohl seit kurzem erst Soldat, ein Neuling, der sich noch rechtzeitig im Keller verstecken konnte.«

Anduin nickte zweifelnd. Weil er den Brief gelesen hatte und den Auftrag des Absenders kannte, den der ihn persönlich eingeschärft hatte, wusste er, dass es um ein Buch ging, was der Soldat dabei gehabt hatte und was jetzt wohl in Sylvanas Hütte sein würde.

»Ich werde ihm den Brief dann morgen geben«, nannte er seinen Entschluss und einstimmiges Nicken kam von den Dyns.

»Ich hoffe, dass er Morgen überhaupt noch erleben darf«, murmelte Mizra leise, aber Anduin hatte die Worte trotzdem gehört.

Er wusste, dass der Soldat schwach war und schwer verletzt, aber auch wenn er es nicht schaffen würde, dann würden die Dyns ihm das Buch bestimmt überlassen, wenn er von seinem Auftrag erzählte.

Aber das kam alles morgen, jetzt musste er seinen erschöpften Gliedmaßen Ruhe gönnen, denn es war ein langer Tag gewesen.

Das dritte Kapitel von "Das Nebelinstitut".
Anduin - FoxCrafts
Flora - LaraLouise
Mizra - LaraLouise

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