Freunde

Wie jeden Morgen stehe ich ruhig da und betrachte mein Spiegelbild. Ein paar hellgrauer Augen glotzt mich an aus dem schmalen, blassen, von mausbraunen schulterlangen Haaren umrahmten Gesicht. Hübsch, aber unscheinbar - so, wie die unbeliebten Nebenfiguren in diesen ganzen Highschoolfilmen auch immer aussehen. Graue Maus.
Ich seufze. Klatsche mir mit den Händen ein paar Mal auf die Wangen, um die blöden Gedanken zu verscheuchen und gleichzeitig etwas Farbe hineinzubringen. Dann atme ich nochmal tief durch und verlasse das Haus.

An der Bushaltestelle stehen schon Leo und Leonie. Sie sind so sehr miteinander beschäftigt, dass sie mich nicht mal bemerken. Aber eigentlich tut das eh nie jemand. Leo und Leonie gehen in meine Parallelklasse, sind seit knapp anderthalb Jahren zusammen und wegen ihrer absurd ähnlichen Namen fast schon ein Running Gag unter den Schülern unserer Stufe.

Der Bus kommt. Wir steigen ein. Wie jeden Morgen setze ich mich neben Sabrina. Sie ist die einzige aus ihrem Freundeskreis, die in unserer Gegend wohnt, deshalb ist neben ihr immer ein Platz frei. Ich weiß nicht, wie sie wirklich heißt, aber ich finde dass sie mit ihren rotblonden Locken und ihrer Stupsnase aussieht wie eine Sabrina. Sie trägt das im Winter bunte Hoodies und im Sommer mit Vorliebe gebatikte T-Shirts, hört Ariana Grande und hat jeden Monat eine neue Handyhülle und zu ihr passend lackierte Fingernägel.

Auf den Sitzen hinter uns beschwert sich jemand lautstark bei seinem Sitznachbarn: "Stell dir vor, ich darf nur bis 22 Uhr auf die Party! Meine Mutter ist so ein Kontrollfreak geworden, seit mein älterer Bruder sitzen geblieben ist!"
"Versuch doch zu verhandeln und ihr zu beweisen, dass du weißt was gut für dich ist!", beteilige ich mich in Gedanken an der Konversation. Im gleichen Moment sagt der Sitznachbar: "Glaubst du, du kannst sie noch umstimmen?"
"Nee!", erwidert Person Nummer Eins seufzend, "Keine Diskussionen, hat sie gesagt, und wenn ich mich beschwere darf ich gar nicht hin." "Shit", kommt es von Person Nummer Zwei. Mehr nicht. Also ich persönlich hätte an seiner Stelle angeboten, aus Solidarität auch nur bis 22 Uhr zu bleiben.

Dann hält der Bus auch schon vor meiner Schule. Eine Welle von Menschen schwemmt mich nach draußen. Sabrina bleibt sitzen, sie fährt noch weiter.

Den Blick starr auf den Boden gerichtet, laufe ich durch die Schulflure. Von allen Seiten tönt Stimmengewirr. Zwei Unterstufler rennen an mir vorbei, anscheinend hat einer dem anderen den Rucksack geklaut.
Dann betrete ich das Klassenzimmer. Es ist relativ ruhig, noch sind nicht viele da. In der ersten Reihe fragen sich die Streberzwillinge Jules und Luisa gegenseitig Lateinvokabeln ab (Jules lernt Latein, Luisa Französisch, aber sie lernen noch freiwillig die Fremdsprache des jeweils anderen mit. Es ist mir ein Rätsel wieso man sowas macht!) und in der letzten Reihe machen ein paar Leute Armdrücken.

Zehn Sekunden vor dem Gong stürmt meine Sitznachbarin Ellie herein und lässt sich, dramatisch die Arme in die Luft werfend, auf ihren Stuhl fallen. Wir leiern unser allmorgendliches Hallo-Hi-Wie geht's?-Gut, und dir?-Auch gut.-Cool herunter, dann kommt die Lehrerin ins Klassenzimmer und der Unterricht beginnt.

Die Lehrerin hört auf den hochtrabenden Namen Irma-Isolde Pingelstein, trägt zu viel Lippenstift, erscheint jeden Tag im selben geblühmten Kleid und trippelt während des Unterrichts ständig auf ihren winzigen Füßen vor der Tafel auf und ab, eine Wolke aus altem Parfüm hinter sich herwehend. Ich mag sie nicht.

Irgendwann erlöst mich der Pausengong. Die ganze Klasse springt auf und stürmt aus der Tür. Frau Pingelstein zwitschert uns ein "Auf Wiedersehen, liebe Kinder!" hinterher, aber das beachtet niemand.
Ich quetsche mich zwischen ein paar zu groß geratenen und dazu noch mitten auf dem Gang rumstehenden Oberstuflern durch und schlendere in Richtung Cafeteria. Hier verbringen die Coolen ihre Pause.

Als ich hereinkomme, haben sie sich schon am größten Tisch breitgemacht.
Daniel, mit Markenklamotten und eingebildeten Blick, sippt an einer E-Zigarette.
Maxi, mit einer fetten Silberkette um den Hals, und seine Freundin, die eine Klasse unter uns ist. Ich weiß ihren Namen nicht, aber sie sieht eins zu eins aus wie Karen Smith aus Mean Girls.
Leo, der sich auf seinem Stuhl fläzt wie in einem Designersessel und auf seinem Handy rumscrollt.
Jeremy, dessen Mutter aus Jamaika kommt und der beneidenswert volle Lippen hat und eine Stimme, von der ich schon so einige Mädchen (und auch Jungs) schwärmen hören habe.
Greta, schön wie immer, im Spagettiträgertop, die langen Beine übereinandergeschlagen, unterhält sich mit ihrer besten Freundin Sarah und wirft sich im Minutentakt ihre langen Haare über die Schulter.
Zwei athletisch aussehende Jungs aus der Parallelklasse, deren Namen ich nicht weiß und die ich deshalb, mangels besserer Alternativen, Greg und Rupert nenne.
Und Luca, in den seit einiger Zeit irgendwie alle verknallt sind. Keine Ahnung wieso, den Größten Teil des Tages starrt er einfach nur Löcher in die Luft, und falls er den Mund doch mal aufkriegt, hört man, was für ein schreckliches Ding der Stimmbruch doch ist. Aber egal. Man muss mit den Trends gehen. Deswegen bin ich natürlich auch in Luca verknallt!

Sie essen Tortilla-Chips, deswegen hole ich mir am Automaten auch welche und setze mich mit der Tüte an den Nebentisch.
Die Clique blödelt herum und lästert über Lehrer. Ich höre jedes Wort mit. Ich gucke über Leos Schulter auf seinem Handy die TikToks mit, ich beteilige mich gedanklich an Gretas und Sarahs Diskussion, ob Jazzdance oder Eiskunstlaufen cooler ist, ich lache über Maxis Witze, ich gucke Luca an (er hat fürchterliche Akne).
Sie bemerken mich nicht mal. So wie immer.

Ich habe mit diesen Leuten in meinem ganzen Leben wahrscheinlich noch nie ein Wort gewechselt, und doch sind sie meine besten Freunde. Ich kenne ihre Hobbys, die Namen ihrer Haustiere, weiß, was ihnen im Kopf rumgeht.
Ich weiß noch, wie Sabrina im Bus am Telefon jemandem erzählte, sie hätte sich von ihrer Freundin getrennt. Sie war in Tränen aufgelöst und ich habe ihr ein Taschentuch gegeben. Wollte zumindest irgendwie helfen.
Ich habe jedes Detail des Dramas mitbekommen, als sich Jeremys Eltern scheiden ließen.
Und war life dabei, als Sarah und Greta sich damals in der Achten auf Todfeinde zerstritten und dann wieder vertragen haben.

Manchmal komme ich mir vor wie eine Stalkerin, aber das ist selten.
Mit Freunden, die von deiner Existenz wissen, zerstreitest du dich früher oder später einfach nur. Und dann bist du sauer, weil sie dich ignorieren.

Aber mich ignoriert alles und jeder und deswegen bin ich einfach daran gewöhnt.

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