2. Im richtigen Moment



„Hey. Lass das!", sage ich zu Paul, meinem Kollegen, der mich leicht an der Schulter festhält, als ich schwanke. Er schüttelt den Kopf und legt einen Arm um mich.

„Du bist den ganzen Tag schon so blass." Besorgt sieht er mich an, dirigiert mich aus der kleinen Küche ins Büro und platziert mich auf meinem Stuhl. Ich lasse meinen brummenden Schädel aufstöhnend gegen die Lehne sinken. Diese Schmerzen sollen endlich aufhören!

„Trink!", fordert mich der dunkelhaarige Mann vor mir auf und streckt mir eine Wasserflasche entgegen. Wider Willens setze ich die Öffnung an meinem Mund an und nehme zögernd einige Schlücke.

Seine dunklen Augen halten mich gefangen, lassen mich nicht mehr los, ziehen mich regelrecht in ihren Bann. „Mehr trinken.", sagt er leise, nimmt meinen Kopf sanft in seine Hand und hält mir die Flasche an den Mund. Ich presse die Lippen zusammen. Mit Gewalt drückt er das Plastikteil an meinen Mund.

Ergeben seufzt er auf und stellt die Flasche auf meinen Schreibtisch, als meine Lippen nicht nachgeben.

Er geht grinsend heraus und kommt wenige Minuten später triumphierend lächelnd wieder. Seine Hände ergreifen meine Tasche, schmeißen die Flasche hinein und fahren meinen Computer herunter.

Verblüfft sehe ich ihn an, die Kopfschmerzen setzen für einen kurzen Moment aus.

Auffordernd hält er mir die eine Hand hin, die andere hält meine Tasche fest. Nicht sicher, was ich machen soll, bleibe ich sitzen und sehe ihn weiterhin stumm an.

„Ich war gerade bei Herrn Bauer. Er hat dich für heute beurlaubt und mir freigegeben, damit ich mich um dich kümmern kann, bis es dir wieder besser geht." Seine Augen verdunkeln sich etwas. Ich schlucke trocken und weiche ihm aus.

Ein leises Seufzen entfährt ihm. Warme Finger stupsen mein Kinn nach oben, sodass ich ihm wieder in die Augen blicken kann. „Ich möchte doch nur, dass es dir gut geht. Lass dir helfen!" Seine Stimme ist so warm, so weich. Sie verpasst mir eine Gänsehaut an den Armen.

Ich weiß nicht genau, was mein Körper macht, doch meine Hand ergreift seine und ich werde hochgezogen. „Na sieht du. War doch gar nicht so schwer."

Paul lächelt mich an und zieht mich schnurstracks aus dem Büro. Unterwegs begegnen wir seltsamerweise keinem und gelangen schnell zum Aufzug, der uns die paar Stockwerke nach unten bringt. Nachdem wir auch die Eingangshalle durchquert haben und durch die Tür, die in die Tiefgarage führt, gegangen sind, stehen wir vor seinem Auto. Ein schwarzer Audi.

Er hält mir wie ein Gentleman die Tür auf und drückt mich am Rücken leicht ins Auto.

Ich lasse mich auf den weichen Ledersitz fallen und schließe kurz die Augen. Derweil ist Paul um das Auto herumgelaufen und sitzt jetzt vor dem Lenkrad.

Er startet den Motor und schon geht es los. Ich lasse die Augen geschlossen. Die Schmerzen sind wieder da und ich will einfach nur in mein Bett.

Ich spüre, wie er leicht meine Hand streichelt und öffne kurz die Augen. Er sieht einen Moment zu mir. „Wir sind gleich da."

Komischerweise kommt mir die Umgebung nicht bekannt vor, sodass ich ihn verwundert anschaue. „Das ist aber nicht meine Straße."

„Ich weiß. Wir fahren ja auch zu mir. Dort kann ich dich bestmöglich versorgen." Paul lächelt mich an und fährt kurz darauf in eine Tiefgarage.

In mir fängt alles an zu kribbeln und mich durchfährt ein Schauder nach dem anderen. „W-wie jetzt? Du willst mich ernsthaft untersuchen? Bist du nebenberuflich Arzt oder was?" Ich komme gar nicht mehr mit.

Er lacht und parkt ein. „Nein, Arzt bin ich nicht. Aber mein Bruder. Und von dem habe ich mir viel abgeguckt. Deswegen verfüge ich über diverse medizinische Hilfsmittel. Außerdem mag ich solche Untersuchungsspielchen und ich interessiere mich auch sehr für den menschlichen Körper." Er guckt mich aus dunklen Augen an, was mir eine Gänsehaut beschert.

„Komm. Ich helfe dir." Wie aus dem Boden gewachsen steht er neben der Tür und hält mir seine Hand hin. Ich gucke ihn mit einem unsicheren Blick an.

„Keine Angst. Ich werde dir nicht wehtun." Er zwinkert mir leicht grinsend zu und zieht mich auf die Beine. Ich schwanke leicht und bin froh über seinen festen Arm an meiner Hüfte. Er schließt die Autotür und verriegelt das Fahrzeug.

Langsam gehen wir zum Hauseingang, Paul schließt die Tür auf und steuert auf den Fahrstuhl zu. „Ich denke, dass ist besser.", antwortet er und schiebt mich ins Innere.

Ich lehne mich erschöpft gegen die Wand und betrachte mein blasses Gesicht. Paul bemerkt es und sieht mich im Spiegel an. „Wir bekommen das schon wieder hin."

Seine Antwort hinterlässt ein großes Fragezeichen auf meinem Gesicht und wir schlurfen langsam zu seiner Wohnungstür.

„Hereinspaziert" Er deutet einladend ins Innere und schiebt mich daraufhin sanft in seine Wohnung.

Im inneren angekommen, schließt er die Tür und platziert mich auf einer kleinen Bank im Flur. Seine Hände befreien mich von meiner Jacke und meinen Schuhen. Dann zieht er mich wieder auf die Beine und führt mich in sein Schlafzimmer.

Dort sinke ich sofort auf die weiche Matratze und mache es mir halbwegs bequem. Paul zieht derweilen die Vorhänge zu und setzt sich an die Bettkante. Seine Finger umschließen mein Handgelenk. „Hm, dein Puls ist etwas schnell."

Sein besorgter Blick nagelt meine Augen fest. „Ich rufe jetzt meinen Bruder an." Ohne auf eine Antwort von mir zu warten, drückt er sich nach einigen Minuten sein Handy ans Ohr und streicht langsam mit seinen Fingerspitzen über meinen Arm. Ich bekomme sofort wieder eine Gänsehaut und schließe aus Scham die Augen.

Ich bekomme nur am Rand mit, was er mit seinem Bruder bespricht, denn ich drifte in einen leichten Schlaf. Begleitet durch das sanfte Streicheln seiner Finger auf meiner Haut.

Eine leichte Berührung an meiner Wange lässt mich meine Augen öffnen. Paul steht lächelnd vor mir. Hinter ihm ein Mann, der Ähnlichkeit nach sein Bruder. Auch er lächelt, doch in seinem Blick sehe ich deutliche Besorgnis. Ich räuspere mich kurz und setze mich auf.

„Hi. Ich bin Sofia. Und du?" Ich lächel ihn an, was er erwidert. „Tim. Freut mich, dich kennenzulernen."

Er kommt etwas näher und lässt seinen Blick über mich schweifen. „Paul hat angerufen und mir erzählt, dass du heute fast zusammengeklappt bist.", fängt er an zu reden und sieht mir dabei direkt in die Augen. Dieselben, wie die von Paul.

Ich wende den Blick ab. „Jaaaa, vielleicht, aber so schlimm war es jetzt nun auch wieder nicht."

„Das glaub ich dir nicht.", meldet sich Paul zu Wort und nimmt meine Hand, „wer weiß wo du umgekippt wärst und red dich jetzt bloß nicht raus. Jeder kann sehen, wie schlecht es dir geht und ich frage mich wirklich langsam, ob du dir helfen lassen willst oder nicht." Er schließt für einen Moment die Augen und lächelt mich gequält an. „Es tut mir leid, aber ich kann es absolut nicht verstehen." Seine Finger schlingen sich um meine und drücken meine Hand ganz fest.

Ich bin erstaunt, überwältigt, aber auch erschöpft. Meine Kopfschmerzen sind immer noch nicht besser geworden und mittlerweile meldet sich auch mein Rücken. Der Schmerz scheint mir im Gesicht geschrieben zu stehen, denn Tim mischt sich wieder ein.

„Ich denke es ist an der Zeit, dass ich dich untersuche. Wir müssen wissen, woher das kommt und was dafür verantwortlich ist." Er stellt eine Tasche, die mir vorher noch gar nicht aufgefallen ist, auf das Bett und holt ein Stethoskop hervor.

Ich beiße mir etwas auf die Lippe. „Keine Angst. Ich mache nichts, was nicht notwendig ist." Wieder dieses Lächeln, welches mich einerseits beruhigt, andererseits aber auch verrückt macht. „Ich würde vorschlagen, dass du, Paul, uns jetzt erstmal alleine lässt. Ist das in Ordnung für dich?"

Sein Blick wandert zu mir und ich nicke nur. „Super." Er kommt auf mich zu und macht seinem Bruder klar, dass er ihm jetzt das Feld überlassen muss. Dieser schnauft kurz, lächelt mir dann aber beruhigend zu und drückt noch ein letztes Mal meine Hand, bevor er aus dem Raum geht und die Tür hinter sich schließt.

Nun bin ich mit Tim alleine und die Aufregung steigt wieder. Er setzt sich neben mich und nimmt ganz vorsichtig mein Handgelenk in seine Hand. Mein Puls wird derweil immer schneller und ich hab Probleme damit, Luft zu bekommen.

Tim dreht mein Gesicht zu sich und schaut mir genau in die Augen. „Laaangsam atmen. Genau. Und noch einmal. Langsam einatmen. Und jetzt wieder aus. Sehr gut." Ich weiß nicht wie, aber seine Stimme und seine beruhigende Art haben es geschafft, dass meine Aufregung nicht mehr ganz so stark ist und ich tatsächlich wieder besser Luft bekomme.

„Dein Puls geht runter. Sehr schön, dass das so unkompliziert geklappt hat." Tim zwinkert mir kurz zu und greift nach dem Stethoskop, welches er vor kurzem schon in der Hand hatte.

„Dann schildere mir bitte kurz deine Probleme, bevor ich dich abhöre." Sein Blick durchleuchtet mich regelrecht.

Ich knete nervös meine Hände, mein Blick ist auf die Bettdecke gerichtet.
„Ja, also ich hab seit längerem Rückenschmerzen und auch des Öfteren Kopfschmerzen. Meine Augen brennen, aber ich kann es mir nicht erklären." Langsam hebe ich den Kopf und sehe genau in die Augen von Tim.

Dieser nickt verstehend. „Hast du Stress?" Seine Augen bohren sich in meine und ich bin regelrecht gefesselt von seinem Blick.

Kurz überlege ich. „Ja, ich denke schon. Eine Kollegin fällt für längere Zeit aus, die Arbeit bleibt also an mir hängen. Dazu kommt, dass eine andere bald in Elternzeit geht. Ihre Aufgaben muss auch jemand übernehmen."

„Das hört sich wirklich nicht gut an." Pauls Bruder guckt mich traurig an. „Bevor ich jetzt allerdings deine Gedanken komplett durcheinander bringe, möchte ich dich erst untersuchen."

Er nimmt das Stethoskop wieder in die Hand, welches er davor doch wieder weggelegt hatte und steckt die Oliven in die Ohren. „Lehn dich am besten ganz entspannt zurück." Seine Hand liegt plötzlich an meiner Schulter und dirigiert mich sanft nach hinten, sodass mein Rücken die Matratze berührt. Er schiebt das Kopfteil, welches zum Glück etwas angewärmt wurde, unter mein Oberteil und findet sofort die passende Stelle.

Ich atme ruhig und langsam, obwohl sich schon wieder eine leichte Aufregung in mir breit macht.

„Ganz ruhig", sagt er und hält meinen Blick fest, während sich das Stethoskop weiter bewegt. Er hört gründlich, seine Augen sind konzentriert auf meinen Oberkörper gerichtet.

Nach wenigen Minuten verschwindet das kühle Metall und er legt das Stethoskop wieder weg.

„Dein Herz hört sich soweit ganz okay an. Ich werde jetzt in deine Augen leuchten." Eine kleine Taschenlampe taucht vor meinem Gesicht auf und leuchtet in meine Augen. Ich kneife diese sofort zu.

Tim sagt nichts zu dieser Reaktion und nimmt es nur schweigend zur Kenntnis.

Nachdem er sich noch meinen Blutdruck, meinen Rücken und meinen Bauch angeguckt hat, sieht er mich mit einem traurigen Blick an.

„Sofia, es tut mir wirklich leid, dir das zu sagen, aber die Reaktionen deines Körpers deuten klar darauf hin, dass du dermaßen unter Stress stehst. Deine Beschreibung auf meine Fragen tun ihr Übriges." Seine Hand streicht kurz über meine, als er sieht, wie ich mit den Tränen kämpfe.

„Hey", sagt er sanft, „soll ich Paul holen?" Ich nicke nur und schniefe leise.

Paul kommt sofort mit einem besorgten Gesichtsausdruck auf mich zu und schließt mich fest in seine Arme. Meine Tränen beginnen zu laufen. Ich kann gar nicht mehr aufhören und flenne in sein Hemd. Er streicht mit langsamen Bewegungen über meinen Rücken und hält mich ganz fest an sich gedrückt.

Es dauert, bis ich mich endlich beruhigt habe und meine Tränendrüsen leer sind.

Pauls Kopf liegt an meinem und seine Hände streicheln mich immer noch sanft. Seine Wärme und sein langsamer Herzschlag beruhigen mich.

Ich traue mich nicht hochzusehen, habe Angst, was auf mich zu kommt. Ich will einfach alles vergessen, hier sitzen bleiben und nie wieder zur Arbeit müssen.

Paul hat jedoch eine andere Meinung und dreht mich leicht zu Tim, als könne er meine Gedanken lesen.

Tim bespricht ruhig mit mir das weitere Vorgehen, während Paul mich noch immer fest an sich gedrückt hält.

Als Tim schließlich weg und alles besprochen ist, deckt er mich liebevoll zu und flüstert:„Ich bin immer für dich da."


Fortsetzung  ➪  

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top