Minzfrosts Schmerz
Nacht. Ein krallenförmiger Mond glomm schwach am Himmel, umringt von tausenden Sternen des Silbervlies, das sich in einem geisterhaften Schleier über das Moor spannte. Die heidebewachsenen Hügel waren schwach erleuchtet, hoben sich kaum ab gegen den düsteren Wald, der sich das Zuhause des SchattenClans nannte. Eine leichte, aber kalte Brise brachte das Gras dazu, sich hin- und herzuwiegen, wie die Wellen im Fluss, seicht und einschläfernd, rauschend in Minzfrosts Ohren.
Die schwarze Kätzin blieb geduckt, hatte sie doch die Absicht, nicht entdeckt zu werden, keinen Laut zu machen, als sie sich gewandt durch die Heide bahnte, bedacht auf jeden Schritt, jeden Blick, jeden Atemzug. Einem Schatten gleich schlüpfte die WindClan-Kätzin unter das schützende Dach der Heideblüten, sich wohl bewusst, dass dies der einsamste Ort war, den sie finden konnte.
Sie hielt es nicht mehr aus, im Lager zu sein, oder viel mehr, von ihren Clankameraden umgeben zu sein, wie sie alle fröhlich waren und offenherzig in die Zukunft blickten, so unbekümmert, so naiv.
Minzfrost war auch so gewesen, nicht allzu lange war es her, da war die Welt heil gewesen und schön, ohne Schmerz. Die Kätzin grub ihre spitzen Krallen in den moosüberwucherten Boden und knurrte tief und kehlig. Es war alles ihre Schuld! Sie war Zweite Anführerin, sie musste stark sein, sie musste ihrem Clan zeigen, dass sie stark war, dass sie keine Angst vor dem Morgen hatte...dass man sich auf sie verlassen konnte. Die Wut auf sich selbst loderte flammengleich in der schwarzen Kätzin auf, so übermächtig, dass sie herumwirbelte und die Krallen in einen morschen Baumstamm grub, der auf der Erde lag. Mit aller Kraft riss sie an der bröckeligen Rinde und an dem Holz, das darunter lag, doch so sehr sie auch zerrte, nichts rührte sich.
Jäh schlugen ihre Pfoten wieder auf dem Boden auf, gefolgt von ihrem Körper, der drohte, aufzugeben. Ihre Zukunft hätte strahlend sein sollen, doch das war sie nun nicht mehr. Alles war dunkel und kal, seit sie versagt hatte, seit sie gegangen waren und sie zurückgelassen hatten, mit dem Gefühl von Leere in ihrer Brust, wo Freude hätte sein sollen.
Minzfrost bemerkte nicht, wie sich die Umgebung veränderte. Es wurde kühler, die Landschaft heller, die Heideblüten reflektierten ein gespenstisches, weißes Licht. Minzfrosts Rückenfell sträubte sich. Jemand war hier.
"Steh auf, Minzfrost", miaute eine weibliche Stimme in die Stille hinein. Die Worte waren nicht aufmunternd, noch ein Befehl, sie waren einfach da.
Der Körper der schwarzen Kätzin formte sich zu einem Buckel, als sie sich zu der Stimme umdrehte, bereit, anzugreifen, den Eindringling in die Flucht zu schlagen, der es wagte, ihren Namen zu kennen, doch im selben Moment hielt sie inne, als sie sich Auge in Auge mit einer durchscheinenden Silhouette wiederfand, kaum mehr als ein Hauch von Sternenlicht in dieser frostigen Nacht.
"Wer bist du?", fauchte Minzfrost, bemüht, den zittrigen Ton in ihrer Stimme zu verschlucken.
"Eine Freundin", antwortete die Sternenkätzin, deren blasser, gelber Blick interessiert auf ihr lag. Ihr silbriger Pelz floss beinahe durchsichtig über ihren agilen, muskulösen Körper, die langen Beine, den eleganten Schweif, der hinter ihr pendelte. Ihre Erscheinung ließ vage Streifen in ihrem Fell vermuten und ihre Augen beherrbergten das Wissen vieler Blattwechsel.
"Ich kenne dich nicht", gab Minzfrost zurück und unterdrückte die Verwunderung in ihrem Inneren. Dies hier war eine SternenClan-Katze. Höchstpersönlich. Doch so blass wie sie war, hielt Minzfrost sie für einen Streich ihres übermüdeten Verstandes.
"Das überrascht mich nicht. Jedoch würden einige vor mir auf die Knie fallen, noch bevor sie wüssten wer ich bin."
"Ich falle vor niemandem auf die Knie."
Wie konnte diese Fremde es nur wagen, ihr solch eine demütige Geste aufzuzwingen? Sie war Zweite Anführerin, sie würde sich niemandem außer ihrem Anführer beugen!
"Mein Name ist Windstern, junge Kriegerin. Ich habe einst den WindClan ins Leben gerufen und ihm mein Bestes gegeben, so wie du es heute tust."
"Ich bin keine Kriegerin! Ich bin die Stellvertreterin des WindClans!", knurrte Minzfrost zornig. Sie brauchte keine SternenClan-Katze, der sie Respekt zollen sollte, sie war hierher gekommen, um allein zu sein. Doch obwohl es sich die schwarze Kätzin niemals eingestehen würde, kroch ihr ein Funken Ehrfurcht in den bernsteinfarbenen Blick.
Windsterns Augen funkelten süffisant.
"Stellverteter sind auch nur Krieger mit mehr Aufgaben, einer größeren Bürde, die es zu schleppen gibt und der Hoffnung, vielleicht einmal das Amt des Anführer übernehmen zu dürfen", spottete die Sternenkatze, was in Minzfrost nur noch mehr die Rage aufsteigen ließ.
"Bist du gekommen, um mich zu beleidigen? Wenn das dein einziger Grund ist, mich zu stören, dann verschwinde besser wieder in deinen Sternenhimmel!", grollte die WindClan-Kätzin ungehalten.
Doch nun zeigten sich auch in Windsterns Gesicht Zeichen von Wut ab, ihre Pupillen schmolzen zu einem schmalen Splatz in ihren Augen zusammen, die gelb waren, wie die Sonne.
"Ich darf wohl um mehr Respekt bitten! Ich wurde geschickt, um dir zu helfen", zischte die getigerte Kätzin scharf und peitschte mit dem Schweif.
"Ich brauche keine Hilfe, vielen Dank auch."
"Doch, die brauchst du. Kein Clan profitiert von jemandem, der gebrochen ist."
"Gebrochen?!", fauchte Minzfrost empört. "Ich bin stark, wie eh und je!" Sie machte einige Schritte auf Windstern zu, vielleicht um ihre körperliche Kraft zu zeigen, vielleicht auch in dem lächerlichen Versuch, die Clangründerin einzuschüchtern. Die Sternenkätzin wich jedoch nicht eine Schnurrhaarbreite zurück.
"Lass mich ausreden, du Sturkopf. Dein Körper mag vor Kraft strotzen und doch wird er am Ende von deinem Verstand vernichtet werden. Gesundheit geht nicht nur davon aus, dass man unverletzt ist, Minzfrost. Wenn du so weiter machst, wie jetzt, wirst du niemals damit fertig, dass S-"
"Sprich ihre Namen nicht aus!", unterbrach Minzfrost die Anführerin und funkelte sie böse an. Nein, sie brauche keine Hilfe. Von niemandem.
"Gut, wie du wünschst. Ich werde bei deiner Verleumdung mitspielen. Doch lass mich dir etwas erzählen. Ich war einst an deiner Stelle", setzte die getigerte Kätzin an, Minzfrost fiel ihr jedoch erneut ins Wort.
"Du warst Zweite Anführerin?"
"Still! Ich spreche nicht von irgendeinem Rang. Auch ich verlor einst zwei Junge. Ich verlor mein Licht. Aschenjunges und Sonnenflaum. Sie wurden mir weggenommen und fanen ihre Plätze in den Sternen, aber sie hinterließen zwei leere Stellen an meinem Bauch, wo niemand trank-"
"Das hat nichts mit mir zu tun", brachte Minzfrost hervor, nun nicht mehr fähig, das Zittern in ihren Worten zu verstecken.
"Redest du dir das ein? Oder glaubst du es bereits. Sie sind dein eigen Fleisch und Blut, Minzfrost. So sehr du es auch versuchst, du wirst es niemals schaffen, sie zu vergessen."
"Waren. Sie waren mein Fleisch und Blut. Aber sie sind für immer fort und ich muss weitermachen. Das hätten sie doch bestimmt gewollt, oder nicht?"
Minzfrosts Pfoten bebten. Sie wollte nicht an die beiden denken, so sehr hatte sie doch daran gearbeitet, sie aus ihrem Gedächtnis zu verdrängen, bis ihre zarten Gesichter mit den geschlossenen Augen, nur noch verschwommene, bleiche Figuren geworden waren. Eines schwarz, eines braun. Eines wie sie, eines wie Holzflügel.
"Dein Posten und deine Aufgaben im Clan werden dir nie darüber hinweghelfen, weißt du das? Und im Moment stößt du den einzigen zurück, der deinen wahren Schmerz versteht."
Minzfrost wusste, wen Windstern meinte. Holzflügel war darüber hinweggekommen. Er hatte geweint, geschluchzt, geklagt. Aber sie hatte das nicht. Sie war stark geblieben. Und doch vermisste sie es, wie der braune Kater sich nachts an ihre Flanke schmiegte, in stillem Verständnis.
"Ich musste für den Clan stark sein. Gerade du müsstest das doch verstehen."
"Ich verstehe es, das tue ich wirklich. Der Clan steht an oberster Stelle. Aber viele von uns vergessen, was es bedeutet, in einem Clan zu sein. Ich habe den WindClan gegründet und es mit eigenen Augen beobachtet. Jede Katze nimmt als Junges und als Ältester die Gaben des Clans an, als Schüler und Krieger gibt er sie. Das war meine Ansicht, aber das ist falsch. Die, die am meisten nehmen, vergessen zu geben. Und die, die am meisten geben, vergessen, dass sie nehmen dürfen. So wie du."
"Ich brauche keine Hilfe!", beharrte Minzfrost, doch mittlerweile war es beinahe unmöglich, die Tränen hinter ihren Lidern zu verstecken.
"Du hast damals Kaninchenpfote geholfen, als er an sich gezweifelt hat. Warum?", fragte Windstern unvermittelt und blickte Minzfrost aus unergründlichen Augen an.
"Er hat Hilfe beim Kämpfen gebraucht! Ansonsten wäre er nie über sich hinausgewachsen", gab die schwarze Kätzin zurück, sie verstand, was Windstern ihr erklären wollte, aber sie wollte es nicht akzeptieren.
"Minzfrost, das ganze Leben ist ein Kampf. Und manchmal brauchen wir bei diesem Kampf die Unterstützung anderer. Wieso ist die Hilfe, die du Kaninchenpfote gegeben hast, anders? Auch wenn du es dir noch so sehr einredest, Sandjunges und Riedjunges gehören für immer zu dir! Und wenn du nicht so blind und stur wärst, würdest du erkennen, dass du die Hilfe nicht nur brauchst, sondern auch verdienst. Ein Clan bedeutet, für einander da zu sein, wenn die Zeiten hart werden."
Minzfrost antwortete nicht mehr. Ihre Flanken bebten in dem verzweifelten Versuch, das Schluchzen aufzuhalten, dass sich in ihrer Kehle anbahnte. Sandjunges. Riedjunges.
Sie gab sich die Schuld. Wie könnte es die Schuld von jemanden anderem sein als ihr selbst? Sie war nicht stark genug gewesen. Sie war auch jetzt nicht stark genug.
"Minzfrost? Minzfrost, bist du hier?"
Die schwarze Kätzin riss die Augen auf und sah gerade noch, wie die Dunkelheit der Nacht Windsterns Sternenlicht verschlang. Nur noch ganz leise hallten ihre letzten Worte noch einmal in Minzfrosts Kopf.
Ein Clan bedeutet, für einander da zu sein, wenn die Zeiten hart werden.
"Minzfrost!"
Da war sie wieder, die Stimme, die nach ihr gerufen hatte und obwohl sie sich bemühte, ihre Tränen zu verstecken, war es bereits zu spät. Aus den Heidesträuchern stolperte ein etwas pummeliger, brauner Kater, der, außer Atem, eine Ranke von seinem Hinterbein angelte.
"Minzfrost, da bist du ja. Ich habe dich in deinem Nest nicht gefunden und da hab ich mir Sorgen um dich gemach-", er hielt inne und musterte ihr Gesicht, das nasse Spuren an ihren Wangen zeigte- "Ist alles in Ordnung?"
Die schwarze Kätzin sah ihm entgegen. Seine Augen, seine schönen, grünen, liebevollen Augen waren von Besorgnis erfüllt. Besorgnis wegen ihr. Es war das erste Mal, dass Minzfrost ihre Jungen wieder wahrhaft in Erinnerung rufen konnte. Durch sein Gesicht, seine Liebe, sein Vertrauen. Und sie bemerkte, dass sie nicht schwach war, wenn sie weinte.
"Nein, Holzflügel. Es ist nicht alles in Ordnung."
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