eSoL - Kapitel 2
Anna zog scharf die Luft ein. Spielten ihr die Augen einen Streich? Sie hatte doch gesehen, wie Lotte in eine der vielen Fahrkabinen gestiegen war und ein Mitarbeiter die lange Metallstange vor ihrer Tochter heruntergezogen hatte. Und wie sich dann die Fliegende Raupe in Bewegung gesetzt hatte. Das konnte sie sich doch unmöglich eingebildet haben! Sie hatte sogar den Fahrtwind gespürt und das laute Surren der Maschinen gehört. Nein, es war wirklich passiert. Vielleicht hatten sie das Karussell wieder geschlossen? Aber wieso? Sie fuhr sich durch ihr offenes Haar und lief durch die vielen Fahrkabinen wie ein aufgescheuchtes Huhn. Wo zum Teufel war Lotte? Sie ist doch nicht einfach weggelaufen? Das würde sie nicht tun, oder doch?
»Lotte?«, rief sie mit bebender Stimme. »Lotte, komm schon.«
Was, wenn Lotte ihr nur einen Streich spielte? Auch wenn ihre Tochter nicht dazu tendierte wegzulaufen, so war sie doch manchmal zu Späßen aufgelegt. Aber würde sie es tatsächlich darauf anlegen, heute ihre Mutter zu verärgern, obwohl sie ihr den größten Traum ermöglicht hatte? Anna fluchte leise. Vielleicht war ihre Tochter noch wütend, weil sie ihr vor Kurzem mehrere Computerspiele einkassiert hatte, da ihre letzten Noten in Deutsch und Englisch mehr als miserabel waren. Aber was sollte sie denn tun? Als Mutter musste sie nun mal konsequent sein und nach zwei Wochen hatte sie sie wiederbekommen.
»Ich dachte, wir wollten noch zu dem Hüpfenden Lui und Rocket Race?«, rief sie und war froh, dass sie sich die merkwürdigen Bezeichnungen der Fahrgeschäfte gemerkt hatte, die Lotte auf den Freizeitparkplan mit einem Stift fett eingekreist hatte.
Noch immer kam keine Zehnjährige mit braunen Locken auf sie zu. Der lauwarme Wind blies ihr angenehm in das Gesicht und ließ die Blätter der umstehenden Bäume rascheln. Wenn sich nicht gerade ein unangenehmes Gefühl in ihrer Magengrube ausbreiten würde, wäre es ein schöner Frühlingstag. Weder zu warm noch zu kalt.
Nachdem Anna das gesamte Fahrgeschäft abgesucht und in jede Fahrkabine dreimal hereingeschaut hatte, lief sie mit mulmigem Gefühl die Metalltreppe zum Wegrand herunter. Lotte konnte unmöglich noch dort sein. Ansonsten hätte sie sie doch sehen müssen? Aber wo steckte sie bloß? Wenn doch nur der Mitarbeiter dageblieben wäre, der die Aufsicht hatte. Vielleicht lief er hier noch irgendwo in der Nähe herum. Konnte sie sich überhaupt erinnern, wie er aussah? Sie schätzte ihn etwas älter als sich selbst ein. Vielleicht Mitte Dreißig? Sein Gesicht war so unscheinbar gewesen, dass Anna sich kaum an irgendwelche Details erinnerte, noch welche Haarfarbe er hatte. Es hatte sie auch in diesem Moment nicht interessiert, da sie kaum auf Männer achtete. Zu sehr schmerzte sie noch der Verlust von Raphael und wie enttäuscht und wütend sie sich gefühlt hatte, als er sie alleine gelassen hatte. Sie schüttelte den Kopf und verdrängte die letzte Erinnerung an Raphael. Sie musste Lotte finden. Aber wo sollte sie anfangen?
Das Gelände des Parks war riesig und auch wenn sich der Freizeitparkplan in ihrem kleinen Lederrucksack befand, so konnte er ihr maximal zeigen, wo Lotte sein könnte, wenn sie den Park nicht verlassen hatte. Vielleicht war Lotte schon vorgegangen? Ihre Tochter konnte etwas eigensinnig sein und beharrte darauf, dass sie bereits zehn Jahre alt war und sehr wohl eigenständig von A nach B kam. Mit angespannter Miene entschied sich Anna zunächst in Richtung des Rocket Race zu gehen, welches der Fliegenden Raupe am nächsten war. Laut Plan musste sie nur dem steinigen Weg eine Weile folgen und hinter einer Brücke, die über einen künstlich angelegten Fluss führte, scharf nach rechts abbiegen.
Schon vom Weitem sah sie die gigantische Rakete, die über die vielen Fahrgeschäfte hervorlugte. Mit jedem Schritt, dem sie sich Rocket Race näherte, spannten sich ihre Muskeln an. Sie hoffte, dass Lotte bereits am Eingang auf sie wartete und sie ihr lächelnd die Frage zuwerfen würde, wo sie denn geblieben wäre. Eine typische Frage, die ihre Tochter immer dann stellte, wenn sie schon vorausgerannt war und Anna gemütlich zu ihrem Ziel gelangte.
Sie befand sich auf der Zielgeraden und erblickte nun die Achterbahn in aller Pracht. Nur wenige Kinder standen in der Schlange und wurden liebevoll von ihren Eltern beäugt, die sich abseits am Wegrand befanden. Anna biss sich auf die Lippe. Lotte konnte sie nicht entdecken. Ihr Herz machte einen Satz und sie japste nach Luft. Wo war ihre Tochter nur? Zielstrebig ging sie auf eine junge Mutter zu, die gerade eine Flasche aus ihrer Tasche holte.
»Entschuldigen Sie«, sagte Anna und bemühte sich um ein charmantes Lächeln.
Die Frau drehte sich zu ihr um und blickte sie neugierig an. Eine dicke Hornbrille saß auf ihrer Nase und leichte Grübchen bildeten sich auf ihren Wangen, die ihr merkwürdig vertraut vorkamen. Auch, wenn Anna es zunächst irritierte, verwarf sie den Gedanken sofort und brachte ihr Anliegen vor.
»Haben Sie vielleicht ein kleines Mädchen gesehen? Ich suche meine Tochter. Sie hat braune Locken, ist circa 1,30 Meter groß.« Sie zeigte mit einer Hand in die Luft, um die Größe zu symbolisieren. »Und trägt eine Jeansjacke mit einer rosafarbenen Jeans.«
Die Frau nickte traurig und ging nun einen Schritt auf sie. »Ich dachte, wir hätten es endlich geschafft«, entgegnete sie und Enttäuschung schwang in ihrer Stimme mit.
»Was geschafft?«, fragte Anna entgeistert und verstand überhaupt nicht, wovon die Fremde sprach. Sie redete so, als würden sie sich kennen und das war absolut unmöglich. Noch nie hatte sie die Frau irgendwo gesehen. »Wovon reden Sie?«
Doch die Frau schüttelte den Kopf und wandte sich von ihr ab.
»Entschuldigung, ich habe Ihnen eine Frage gestellt.« Annas Stimme klang flehend, dennoch erhielt sie keine Antwort. Ihr Herz flatterte in ihrer Brust, als sie die Frau sanft an der Schulter streifte. »Wovon reden Sie? Haben sie meine Tochter gesehen? Bitte!«
»Fassen Sie mich nicht an!«, keifte die Fremde. In ihren Augen war urplötzlich eine Schwärze zu sehen, die Anna zurückweichen ließ. Mit schreckgeweiteten Augen starrte sie die junge Mutter an. Diese wiederum drehte sich zurück zur Achterbahn und beachtete Anna nicht weiter.
Mit ungutem Gefühl kehrte Anna ihr den Rücken zu und schlug den Weg zum Hüpfenden Lui ein. Dann zum nächsten Fahrgeschäft, dachte Anna und blickte noch einmal argwöhnisch über die Schulter. Während sie dem Knirschen unter ihren Füßen lauschte, konnte sie noch immer nicht das eigenartige Verhalten der Fremden vergessen. Nachdenklich schüttelte sie den Kopf. Sie passierte eine lange Brücke und fand sich vor einem Karussell wieder. Ein stechender Schmerz durchzog ihre Brust, als sie Lotte erneut nirgendwo entdecken konnte. Wo war ihre Tochter? Spielte sie ihr tatsächlich nur einen kindischen Streich? Oder schlimmer noch, wurde sie entführt?
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