BfHuH - Kapitel 4

Heute.

»Wie hast du es angestellt?«, fragte Tom hastig, da ihn eine Panik gepackt hatte, als Arlo von dem Vorfall zu erzählen begann. Er wollte es vergessen, dabei war ihm bewusst, dass er sich der Sache früher oder später stellen musste.

»Ein paar Kabel durchgeschnitten.« Arlo zuckte mit den Schultern, als spräche er über das Mittagessen seiner Katze und hätte nicht mit der Tat das Leben seines Bruders ausgelöscht.

»Und das hier?« Tom deutete mit einer subtilen Geste auf den Besucherraum. »Hast du...?« Er traute sich kaum die Frage zu stellen, die sein Schicksal mehr denn je besiegelte. Den Grund, warum er überhaupt hier saß und nicht mit seiner geliebten Debby zusammen auf der Veranda, während sie die wohltuende Abendsonne genossen.

Arlo lächelte hämisch. »Es war nicht wirklich schwer. Immerhin teilen wir uns das Gesicht und niemand weiß, dass ich noch lebe. Noch nicht mal unsere liebe tote Mutter.«

Er legte seine Hand auf die Brust und blickte zur Decke, als sei er ein gläubiger Christ, dabei war es nur ein Spiel für ihn. »Eine wirkliche dumme Frage, Tom. Ich war doch die ganze Nacht bei dir. Eine kleine Droge und schon konnte ich alles mit dir anstellen. Du saßt quasi in der ersten Reihe bei dem kleinen Spektakel.«

»Ich war dabei, als du ihn getötet hast?« Toms Mageninhalt wollte sich nun endgültig verabschieden und er presste die Hand auf seinen Mund. Ein Wachmann blickte neugierig zu ihm, aber er winkte ab. Mit einem verzerrten Gesichtsausdruck schluckte er es wieder hinunter. Er wollte die Aufmerksamkeit nicht auf sich ziehen. Nicht jetzt. Nicht, wenn Arlo ihm erzählte, welche Rolle er dabei spielte.

»Ich habe ihn nicht getötet«, sagte Arlo trocken. »Das warst du!«

Tom konnte nicht mehr. Er wollte weinen, schreien, herausrennen, aber doch blieb er stumm sitzen und blickte mit schreckgeweiteten Augen zu seinem Bruder. Was war mit seinem Bruder geschehen? Hatte er das zu verschulden? Eine Durchsage ertönte, die mitteilte, dass die Besuchszeit in einer Viertelstunde endete.

»Hast du es gewusst?«, fragte Tom, als er langsam seine Sprache wiederfand. Seine Stimme war kratzig und rau und klang wie nach einem schweren Hustenanfall. »Dass er mein Sohn ist?«

Arlo nickte. »Ich wollte es dir zeigen, wie es ist, wenn es dein eigenes Fleisch und Blut ist. Genauso habe ich mich damals gefühlt.«

»Ein Scheiß hast du! Warum hast du ihn da hineingezogen?« Tom zitterte vor Wut.

»Siehst du es nicht? Kannst du es wirklich nicht erkennen?«

Tom senkte den Kopf. Tränenschleier hatten sich vor seinen Augen gebildet und die Welt um ihm herum zerbrach. Arlo räusperte sich und Tom wusste nun ganz genau, was jetzt kam.

»Erinnerst du dich noch an unseren kleinen Wanderausflug?« Natürlich tat er das. »Wir haben unsere Sandwiches gegessen, haben uns gesonnt und dann waren wir schwimmen im See. Aber ihr habt euch dann einen Spaß erlaubt und meine Kleidung versteckt. Ich habe es viel zu spät bemerkt, dabei wollte ich doch einfach nur den Tag mit euch verbringen.«

Arlo schwieg einen Moment, als schwelgte er tatsächlich in Erinnerungen. Als könnte er den würzigen Waldboden riechen und das kühle Wasser des Sees auf der Haut spüren.

»Ich bin euch hinterhergejagt, bis ich nicht mehr konnte. Die Sonne war nicht mehr so stark und ich zitterte am ganzen Leib. Ich war durchgefroren und ihr wart einfach fort. Aber dann seid ihr zurückgekommen und ich war so wütend, dass ich auf euch losgehen wollte. Doch du warst schneller. Du hast mich gewürgt und ich dachte, ich würde sterben.«

Arlo hatte seine Hände zu Fäusten geballt, sodass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Wie zum Schlag bereit lagen sie auf dem Tisch und Tom lief es eiskalt den Rücken herunter. Er wusste, wie das Schauermärchen weiterging. Er wusste es, dabei wollte er es am liebsten vergessen. Es vergraben. Es rückgängig machen. Aber das war nicht möglich.

»Aber dann sah ich meine Chance. Ein handgroßer Stein lag in meiner Hand. Ich wollte dich treffen, mich erlösen, jedoch konnte ich nicht. Du hast ihn mir weggenommen. Ich habe geschrien, als sich die Lungen wieder mit Luft füllten. Geschrien so laut ich konnte. Aber dich hat es aufgeregt. Dann hast du den Stein genommen und mich damit am Kopf getroffen.«

Arlo fuhr sich über die lange Narbe und Tom konnte nicht anders, als seinen Zeigefinger zu beobachten, wie er sanft über die unebene Stelle streichelte, die er seinem Bruder zugefügt hatte.

»Ich spüre bis heute noch den Schmerz und fühle, wie mir das warme Blut herunterläuft. Es war nicht nur der physische Schmerz. Nein, ich habe mich verraten gefühlt. Ich war enttäuscht, dass ihr euch meine Brüder nennen durftet. Dabei war ich doch einer von euch.«

Seine Augen waren glasig und Tom konnte hinter all der Maske aus Wut und Hass eine tiefe Verletzlichkeit sehen. Er fühlte sich ausgegrenzt und verlassen. Tom konnte es ihm nicht verübeln. Innerlich waren sie so verschieden, dabei glichen sie sich wie auf das Haar. Sie waren Brüder und Tom hatte diese Verbindung mit dieser abscheulichen Tat zerrissen.

»Es tut mir so leid«, stammelte er und spürte die warmen Tränen, die seine Wangen hinunterliefen.

»Das ist alles, was du mir zu sagen hast?« Die Verletzlichkeit war aus Arlos Blick gewichen und nur noch die Wut und Enttäuschung war geblieben. »Du bist mein Bruder.«

Ein schrilles Geräusch ertönte und die Wachen deuteten den Gefangenen an, dass sie sich nun verabschieden mussten.

»Weißt du, Tom? Ich habe unseren Bruder in den Himmel gebracht und für dich habe ich diesen Ort gewählt. Ich dachte, er passt besser zu dir. Willkommen in der Hölle, Bruderherz.«

Die Stöckelschuhe von Arlo hallten auf dem dunklen Betonboden wider und Tom wusste, dass er dieses Geräusch noch öfter hören würde, denn sein Bruder wollte ihn leiden sehen für das, was er ihm angetan hatte.



Zur selben Zeit.

»Schwelgst du wieder in Erinnerung, Dad?«

Alice Moore küsste ihren Vater zur Begrüßung auf die Wange und betrachtete die vielen Stapel alter Zeitungen, die das Leben des ehemaligen Detectives perfekt zusammenfassten, bevor er einen Schlaganfall erlitt und frühzeitig in Pension gehen musste. Fein säuberlich standen die Stapel in mehreren Reihen auf dem Gartentisch. Ein jeweils handgroßer Stein thronte ganz oben wie die Kirsche auf einem Eisbecher. Er nickte zufrieden und streichelte die Zeitung auf seinem Schoß, als wäre es eine Katze.

»Was liest du gerade?«, fragte sie und ließ sich auf einen der Gartenstühle nieder und ließ ihren Blick in den Garten schweifen. Gelbe und orange Hortensien bewegten sich sanft im Wind und ließen es zusammen mit dem kleinen Gartenteich, der plätschernde Geräusche von sich gab, idyllisch wirken. Ihr Vater konnte sich nicht beklagen. Für später konnte sie sich auch so einen ruhigen Ort wie Winifred vorstellen.

»Griffith-Fall. Es war einer, den ich nie gelöst habe.«

»Um was ging es?«, fragte Alice neugierig.

»Um einen vermissten Jungen. Die Brüder hatten zusammen einen kleinen Wanderausflug unternommen. Dabei ist ein Kind verschwunden. Die Mutter hat sich das nicht verziehen. Sie hat ihre anderen beiden Jungs zur Adoption freigegeben. Wenige Jahre danach ist sie verstorben. Es war herzzerreißend, dabei haben wir alles Mögliche unternommen. Aber der Junge war wie vom Erdboden verschluckt.«

Sie konnte sich kaum vorstellen, was die Mutter durchmachen musste. Vor einigen Jahren war sie selbst Mutter geworden und die endlose Liebe zu ihrer kleinen Lisa konnte Berge versetzen.

»Kann ich?« Sie ließ sich die Zeitung reichen.

Bevor sie den Artikel lesen konnte, hatte das kleine Bild ihre gesamte Aufmerksamkeit bekommen. Drei Jungen, die sich bis auf das Haar glichen, strahlten neben einer Frau in die Kamera. Sie wirkten so unschuldig und jung und Alice zog es das Herz zusammen.

»Weißt du noch, wie sie hießen?«, fragte sie, nachdem sie den Artikel überflogen hatten. »Ihre Namen wurden nicht genannt.«

»Natürlich, ich erinnere mich an alle Namen meiner Fälle. Der verschwundene Junge hieß Arlo. Und die Brüder, ich weiß nicht, ob sie ihre Namen behalten haben, aber bei einer späten Adoption werden sie selten geändert, hießen Connor und Tom.«

Ihre Augen weiteten sich. Wie groß konnte der Zufall sein? Sie hatte das Gefühl, als läge vor ihr ein bedeutendes Puzzlestück. Ein Puzzlestück, welches ihren letzten Fall völlig in Frage stellte. Was war damals passiert?

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