4.) I'm a Dreamer

                                                                                                   Vorwort

Das ist mein Beitrag zur Challenge der CommunityLounge "New year - new you".
Ich habe Prompt 4 gewählt: Baue mindestens fünf der folgenden Wörter in deinen Beitrag  ein und markiere sie fett.
Straße, Brücke, Stille, Vergessen, Zeichen,Schleier, Verlangen, Liebe, Nebel, Flüstern, Fehler, Umweg, Geheimnis, Spiegel, Koffer

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                                                            23. Februar 2025

Heute ist der Tag der vorgezogenen Neuwahlen - und ich habe Angst. Die Umfragezahlen der letzten Wochen haben diese Angst geschürt. Eine rechtsradikale Partei hat wahnsinnige Ergebnisse zu erwarten, wieder einmal. Zwei oder drei Generationen, die nur Aufschwung und Frieden kannten, haben möglicherweise genügt, das nationale Vergessen von unglaublichen Verbrechen an der Menschlichkeit zu ermöglichen.

Wir sind auf den Straßen unserer Stadt unterwegs gewesen, bei jeder Demonstration gegen rechts dabei. Wir haben versucht, mit den Menschen, die grölend Banner mit den primitivsten menschenfeindlichen Sprüchen über ihren Köpfen trugen, zu sprechen, haben versucht, eine Art von Brücke zu den und in die Gehirne der Verblendeten zu schlagen. Wir haben jede Talkrunde im Fernsehen verfolgt, in der diese ewig gestrigen Holzköpfe ihre Dummheiten verbreiten konnten, haben fassungslos verlogene Argumentationen gehört und doch gewusst, dass es viel zu viele geben würde, die jedes dieser Narrative bejubeln werden.

Der Tag schleppt sich dahin, der Zeiger bewegt sich auf achtzehn Uhr zu, die ersten Hochrechnungen werden bald auf dem Bildschirm erscheinen. Unser Wohnzimmer hat sich mit Freunden gefüllt – Freunden aus acht Nationen. Wir halten uns an den Händen, die Kirchturmuhr unseres kleinen Dorfes schlägt sechs Mal. Tiefes, ängstliches Schweigen legt sich über uns.

Das Blut in unseren Ohren rauscht so laut, dass wir den Sprecher kaum verstehen, doch unsere Augen müssen die Bilder wahrnehmen, wenn auch wie durch dichten Nebel. Die Balken bei den demokratischen Parteien wachsen, doch zu langsam, zu wenig – wir erstarren, halten kollektiv den Atem an.

Fassungslos beobachten wir, was sich in der Grafik aufbaut. Die Zahlen steigen und steigen bei den Rechtsradikalen, hören nicht auf, durchbrechen die 50 Prozent, enden erst bei 53,8 Prozent.

Ein Schrei durchbricht die fassungslose Stille. „Nein!", brüllt Hakim.

Der Syrer kam vor Jahren als unbegleiteter Jugendlicher über das Mittelmeer, dann über das griechische Auffanglager nach Deutschland. Wir lernten ihn durch den AKIG kennen, den „Arbeitskreis für die Integration Geflüchteter", in dem mein Mann und ich aktive Mitglieder sind. Also, früher hieß er AKIF, da durfte man noch „Flüchtlinge" sagen, nach dem Fortschreiten des Genderns benannten sie ihn um. Doch bald wird er einen neuen Namen bekommen: AKIM, für M wie Menschen.

Hakim war ein Vorzeigeschüler, lernte innerhalb kurzer Zeit perfekt Deutsch, wurde der Bedeutung seines Namens – „der Weise" – mehr als gerecht. An der Uni lernte er Leora – „das Licht" – kennen, eine jüdische Austauschstudentin. Das Liebespaar hatte in den letzten Monaten immer mehr unter Anfeindungen, auch aus den eigenen Familien, zu leiden, doch nichts konnte die Beiden auseinanderbringen.

Duc – „von hoher Moral" –, und Thoung – „zärtliche Liebe" -, ein privilegiertes Ehepaar vietnamesischer Abstammung, dessen Eltern ein sehr gut gehendes Restaurant betreiben, umfangen Hakim liebevoll. Auch sie selbst haben den zunehmenden Fremdenhass in letzter Zeit zu spüren bekommen.

Auf dem Bildschirm erscheinen die Vertreter der verschiedenen Parteien zur „Elefantenrunde", wir schalten ab. Am Ergebnis wird sich nichts mehr ändern, diese Hoffnung müssen wir begraben - und all die verlogenen Reden der Wahlsieger brauchen wir nicht auch noch. Ebenso wenig wie die betretenen Gesichter der Verlierer, die hilflosen Erklärungen, warum sie es nicht geschafft haben, das Ergebnis zu verhindern.

Wir brauchen Trost, den wir uns nur gegenseitig geben können.
Wir, die Menschen, die in verschiedenen Ländern, auf verschiedenen Kontinenten geboren worden sind.

Afia – „die an einem Freitag geborene" - aus Ghana, die auf der Flucht ihre gesamte Familie verloren hat, und der sich Duc und Thoung liebevoll und unterstützend angenommen haben. Afia, die immer noch unter den schweren Verlusten litt, der aber zwei Menschen, aus Vietnam stammend, eine neue Perspektive für ihr Leben aufzeigen konnten.

Eliana – „die Sonne" – und ihre Schwester Raiza – „die Rose" – aus Venezuela, die ein skrupelloser Millionär als Haushaltssklavinnen gehalten hatte, und die Hakim durch einen seltsamen Zufall hatte retten können. Er, der unsportlichste Mann ever, hatte an einem Maimorgen beschlossen, mit dem Joggen anzufangen. Schweratmend war er an einem umzäunten Anwesen vorbeigelaufen, hatte angehalten, um nach Luft zu schnappen. Er entdeckte eine junge Frau, die am imposanten Eisentor rüttelte und laut: „Help us!" rief. Ein Hüne tauchte plötzlich auf, der Uniform nach ein Securitymann. Er packte das Mädchen an den Haaren, schleifte es zu einer riesigen Villa zurück. Hakim rief sofort bei der Polizei an, meldete den Vorfall. Für sein Eingreifen hatte er sogar die Bayerische Rettungsmedaille erhalten.

Aliona – „die Strahlende" – mit ihrem Sohn Andreju – „der Mannhafte" – aus der Ukraine, die seit Monaten um das Leben ihres Mannes und Vaters bangten. Andrus – „der Tapfere" – war in den Krieg gegen einen übermächtigen Gegner gezogen, dem Menschenleben nicht das Geringste bedeuteten. Auch ukrainische Flüchtlinge will die Partei schnellstmöglich zurückschicken, mitten in ein Kriegsgebiet, mitten im Winter.

Unser Sorgenkind Ramin – „das Genie" – war in Afghanistan im Widerstand gegen die Taliban gewesen, hatte als Ortskraft die deutschen Soldaten unterstützt. Als unsere Leute sehr schnell abgezogen waren, hatte er keinen Platz in einem der Flugzeuge bekommen, die die Unterstützer ausflogen. Monatelang hatte er sich verstecken müssen, bis ihn eine NGO retten konnte.
Schwer traumatisiert war er in unsere Stadt gekommen, hatte eine Psychotherapie begonnen, sein Vertrauen in die Menschen war aber schwer gebrochen.

Nun steht er fassungslos mitten im Raum, Tränen laufen ihm über das schmerzverzerrte Gesicht. Sein Blick schweift über jeden Einzelnen von uns, als warte er auf eine Erklärung, auf irgendetwas aus dem Mund von uns „Deutschen", das ihn verstehen ließ.
Verstehen, warum es so weit gekommen ist.
Verstehen, was das für ihn bedeutet.

Doch wir kennen die Antwort auch nicht. Wortlos dreht er sich um und geht in Richtung Haustür. Ich laufe ihm nach, rufe verzweifelt seinen Namen.

*

Ich schrecke hoch, weil mich jemand schüttelt. „Sia! Wach auf! Du träumst nur!", höre ich die besorgte Stimme meines Mannes. Langsam kämpft sich mein Verstand an die Oberfläche, und ich finde mich in einer tröstlichen Umarmung wieder. Zärtliche Hände streichen mir verschwitzen Haarsträhnen aus meinem Gesicht. Schwer atmend versuche ich, in die Realität zurückzufinden. „Heute ist Wahltag!", krächze ich heiser.
„Ja! Und wir können noch hoffen, nicht wahr?" Seine Stimme geht in ein beruhigendes Flüstern über.

Aufseufzend schließe ich wieder meine Augen. Mein Albtraum wird kein Zeichen gewesen sein, darf kein Zeichen gewesen sein.

Ab Viertel vor sechs Uhr sitzen wir im Kreis unserer Freunde aus acht Nationen in unserem Wohnzimmer. Wir haben versucht, von den Gerichten aus den verschiedenen Ländern, die die Gäste mitgebracht haben, zu essen. Doch wir haben keinen Bissen hinuntergebracht. Der Zeiger der Uhr bewegt sich quälend langsam, dann endlich schlägt die Kirchturmuhr sechs Mal.

Der Moderator lächelt, als er die erste Hochrechnung ankündigt.
Ein gutes Zeichen?
Für wen?

Dann fahren die verschiedenfarbigen Balken hoch. Die demokratischen Parteien haben alle mit einem kräftigen Plus abgeschlossen, unsere Herzen rasen, unsere Gehirne überschlagen schnell die Zahlen.
Viel bleibt da nicht für die Rechten. Deren Ergebnis lässt uns ungläubig staunen – aber nicht, wie in meinem Traum fassungslos starren, sondern jubelnd aufnehmen.
9, 4 Prozent – ein Totalabsturz nach den letzten Prognosen.

Sogar in den Regionen, die nach vierunddreißig Jahren noch immer „neue Bundesländer" genannt werden, den Gebieten unseres gemeinsamen Landes, das ein Teil unseres gemeinsamen Europas bleiben kann, haben die Braunen kräftig verloren. Das war nach den letzten Landtagswahlen kaum zu erhoffen gewesen.

Wir füllen glücklich unsere Teller am improvisierten Büffet, wischen uns Freudentränen aus den Augen, lassen uns auf dem Boden nieder, verfolgen fröhlich mampfend die Elefantenrunde auf dem Bildschirm.
Wir genießen das betretene Gesicht der Kanzlerkandidatin der Rechten, die mittlerweile wohl erkannt hat, dass sie in den letzten Tagen vor der Wahl viel zu viel Blödsinn verbreitet hat.

Wir genießen die strahlenden Gesichter der Vertreter der demokratischen Parteien, die es geschafft haben, sich gegen den braunen Mob durchzusetzen.

Ein neues Jahr, eine neue Wahl, eine neue Hoffnung.

Ich hoffe, dass ich aus diesem Traum nicht aufwachen werde.


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