2.) Laurins Schatz

Diese Geschichte habe ich für den Wichtel-Adventskalender der CommunityLounge geschrieben. Das war mein erster Ausflug ins Genre der Fantasy.

Mein Schreibauftrag lautete:

• 3 Fantasywesen • auf Schatzsuche • zufällige Begegnung im Gebirge • Jeder will Schatz für sich allein

optional : Überraschung, was der Schatz ist oder • Überraschung, wer der/die Gewinner ist/sind

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Ingridia

„Niemals werde ich diesen Kretin heiraten!", brüllte Ingridia ihren Vater, den Elfenkönig des Regenbogenlandes an. Sie stampfte mit dem Fuß auf, ihre langen blonden Locken flogen, ihre blauen Augen blitzten.

Haraldrian seufzte. Er hatte es geahnt. Ein wenig war er auch selbst schuld, dass sein hübsches Töchterlein so aufsässig war. Schließlich hatte er sie dazu erzogen, ihren Kopf hochzutragen, ihren eigenen Willen immer kundzutun.

Aber dieses Mal musste sie nachgeben. Sein Reich drohte, bankrott zu gehen. In früheren Zeiten hatten die Menschen immer Gaben für die Elfe und Elfen abgelegt. Mal ein paar Lebensmittel, mal ein Schmuckstück, manche sogar ein Goldstück.
Aber seitdem die Menschen nicht mehr an sein Reich glaubten, sondern nur noch an eine Sache, die sie „Netz" nannten, waren die Spenden immer weniger geworden, in letzter Zeit nahezu vollkommen versiegt.

Seine Untertanen hatten alle den Gürtel enger schnallen müssen, das wunderschöne Elfenlachen unter dem Regenbogen war seit einiger Zeit verstummt. Die letzte Hoffnung des Königs lag auf einer Vermählung seiner Tochter mit dem Sohn von Hermanntius, dem König des Sternschnuppenlandes.

Der hatte das Unheil vorausgesehen, hatte besser gewirtschaftet als er selbst. Außerdem war sein Reich das der ewigen Nacht, die Dunkelheit und die Sternschnuppen ließen die Menschen noch eher an Elfen glauben.

„Der ist hässlich!", schrie Ingridia weiter. „Er hat eine Nase wie ein Fliegenpilz, Beine wie zwei krumme Äste, einen Bauch wie ein Kürbis."

„Wenn du ins Sternschnuppenland ziehst, ist es ja immer dunkel, und du musste ihn nicht ansehen!", versuchte Halandrian sie weiter zu überreden.

Die Prinzessin spannte ihre zierlichen Elfenflügel und schwirrte davon. In ihrer Kammer landete sie unsanft auf dem breiten Bett, dessen Decke etwas zerschlissen war. Ihre Wut hatte eine weichere Landung verhindert.

Noch eine Weile schimpfte sie vor sich hin, dann fiel ihr Blick auf das Sagenbuch, das schon seit Elfengenerationen von der Mutter an die Tochter weitergegeben wurde. Sie musste sich dringend ablenken, damit sie das Bild von Wolfgangus aus ihrem Kopf brachte.

Ein wenig schämte sie sich ihrer schlimmen Worte und Gedanken. Ihre Mutter hätte ordentlich mit ihr geschimpft! „Ingridia!", hätte sie gesagt. „Jeder Elf und jede Elfe ist schön! Vielleicht nicht äußerlich, aber du musst auch ins Innere sehen."

Aber ihre Mutter war ja schon seit Jahren nicht mehr bei ihnen. Die böse Hexe Marianne hatte sie verhext in eine Ziege, hatte sie zu sich genommen.

Ingridia blätterte mit feuchten Augen in dem Buch. Sie hatte es schon viele Male gelesen, als die Mutter noch bei ihnen gewesen war. Seitdem sie weg war, kein einziges Mal.

Nach einiger Zeit war sie bei ihrer Lieblingsgeschichte angekommen, die von Laurin, dem Zwergenkönig handelte, der im Rosengarten in Südtirol zusammen mit seinen fleißigen Untertanen einen riesigen Schatz hortete.
Ein Plan formte sich hinter ihrer Stirn, Gedanken ratterten durch ihre Gehirnwindungen, ihr kleines Elfenherz schlug aufgeregt.

Marianne stapfte wütend durch den Wald auf ihre Hütte zu. Verdammte Annemarie! Die hatte sie doch reingelegt, wahrscheinlich die Karten verhext, und sie war dumm genug gewesen, darauf reinzufallen.
Mit einer Hexe Poker zu spielen! Wie dumm konnte man denn sein. Aber sie hatte der Freundin vertraut, mit der sie schon zusammen die Hexengrundschule besucht hatte.

Jetzt hatte sie den Salat. Die Oberhexe hatte das Spiel beobachtet und beschlossen, dass alles mit rechten Dingen zugegangen war. Dass sie, Marianne, ihre Spielschulden bezahlen musste.

Zehn Unzen Gold und fünfzehn Diamanten!
Bis sie ihre Schulden beglichen hatte, war es ihr nur gestattet, einen Hexenspruch pro Tag aussprechen, und der durfte sich nicht auf Gold oder Diamanten beziehen. Die waren doch alle total verblödet, hatten sich gegen sie verschworen.

Gut, sie war nicht sehr beliebt im Hexenzirkel, sie war immer sehr aufbrausend, sehr überheblich. Das musste sie sich schon eingestehen. Aber schließlich war sie eine böse Hexe!

Keine weichgespülte, liebe!
Keine von denen, die immer mehr das Boshafte verloren, die sogar auf so unsinnige Ideen kamen, dass man den Menschen helfen sollte.
So ein Quatsch!

Mittlerweile hatte sie ihre windschiefe Hütte mitten im Wald erreicht. Sie hätte sich schon längst ein schönes Häuschen hexen können, aber das passte nicht zu ihr. So wie es war, war es gut.

Die Ziege kam ihr entgegen, hatte wahrscheinlich Hunger. Marianne grinste boshaft, ihre Stimmung hob sich wieder ein bisschen. Ariadna, die schöne Elfenkönigin, war ihr lange Zeit ein Dorn im Auge gewesen. Sie selbst hatte ein Auge auf den Elfenkönig geworfen gehabt, damals, als sie noch jünger gewesen war.

Sie beide wären ein unschlagbares Team gewesen. Aber nein! Halandrian musste sich in die zarte Ariadna verlieben.
Es hatte Jahre gedauert, bis sie den richtigen Spruch gefunden hatte, um die Elfe in eine Ziege zu verhexen. Seitdem musste sie bei ihr leben.

„Dummes Ziegenvieh!", schrie Marianne das Haustier an. „Wenn du zu etwas taugen würdest, könntest du mir sagen, wie ich an so viel Gold und Edelsteine kommen soll!" Speicheltröpfchen sprühten aus ihrem Mund. „Und wenn du das könntest, würde ich dich wieder zurückhexen in dein komisches Elfenreich!"

Die Ziege sah sie eine Weile an, als würde sie sie verstehen, dann drehte sie sich um, lief durch die wacklige Türe ins Innere der Hütte.
Marianne hörte sie rumoren, nach einer Weile kam sie zurück, hatte ein Buch im Maul, das sie vor der Hexe auf den Boden fallen ließ.

„Soll ich dir was vorlesen?", ätzte die Hexe und fing an zu lachen. Die Ziege ließ sie seltsamerweise nicht aus den Augen, starrte sie unbeirrt an.
Marianne griff nach dem ziemlich zerfledderten Ding, hob es auf, sah auf die Seite, die aufgeschlagen war.

„König Laurins Schatz" stand da als Überschrift. Sie las, wurde immer aufgeregter, kraulte sogar die Ziege hinter ihren Ohren.

Als Marianne fertiggelesen hatte, wusste sie, was sie tun musste.

Fritz-Wilhelm saß auf der Terrasse seines Schlosses. Es lag genau zwischen dem Sternschnuppen- und dem Regenbogenland. Doch niemand konnte es sehen, er hatte eine riesengroße Tarnkappe darüber gezaubert.

Heute war er traurig, noch trauriger als sonst. Gestern hatte es einen Riesenkrach im Zauberzirkel gegeben. Fritz-Wilhelm hatte sich beschwert, dass seine Kollegen ihre Kunst immer mehr dafür missbrauchten, Dummheiten anzustellen, Bosheiten auszuhecken und auch wirklich Schlimmes zu machen.

Letzte Woche hatten sie zum Beispiel einen Reifen am Motorrad eines jungen Mannes platzen lassen, der dadurch schwer gestürzt war. Während die anderen lachend auf dem Hang gestanden waren und sich abgeklatscht hatten, hatte er einen Zauberspruch losgeschickt, der den Krankenwagen blitzschnell bei dem Verunglückten auftauchen ließ. So konnte der junge Mann überleben.

Immer öfter musste er die Folgen der Missetaten der anderen reparieren, aber er konnte ja nicht überall gleichzeitig sein. Deshalb war es gestern zum Streit gekommen, als er den anderen ins Gewissen geredet hatte. Doch sie waren uneinsichtig gewesen, waren schon so verroht, dass sie die Schicksale der Menschen vollkommen kalt ließen. Alles, was sie wollten, war, ihren Spaß zu haben.

Schließlich hatte der Zauberobermeister Fritz-Wilhelm aus der Gruppe geworfen. Einerseits war er froh, dass er die anderen nicht mehr sehen musste, andererseits hatte er Bedenken, dass sie immer ungehemmter werden würden.

Wenn er genug Geld hätte, könnte er eine eigene Zauberschule gründen, könnte gute Zauberer ausbilden, die den bösen die Stirne bieten würden. Doch das war eine der Fähigkeiten, die den Zauberern verboten waren: mit ihrem Können für eigenen Reichtum zu sorgen. Zu mächtig wäre sonst einer von ihnen geworden, denn Geld regierte die Welt.

Während er so vor sich hin grübelte, kam Rocardia, seine zahme Elster angeflogen und setzte sich auf den Tisch vor ihm. Ihre schwarzen Äuglein blitzten ihn an, in ihrem Schnabel glitzerte etwas. Als er genauer hinsah, erkannte er einen großen Diamanten. Er griff danach, bereitwillig ließ der Vogel los und schlug aufgeregt mit den Flügeln. Immer wieder flatterte er hoch in eine bestimmte Richtung, kam zurück, flog wieder los. „Laurin! Laurin!", krächzte die Elster dabei. Zumindest glaubte Fritz-Wilhelm, das zu verstehen.

Und plötzlich wurde ihm klar, was Rocardia ihm sagen wollte.

Laurin (Die Geschichte des Zwergenkönigs Laurin könnt ihr im Netz nachlesen, bspw. auf Wikipedia)

Laurin saß in dem riesigen Saal, der in den Felsen gehauen worden war. Die Decke und die Wände waren mit Gold verkleidet, die unzähligen Diamanten, die eingearbeitet waren, spiegelten das Licht der Kerzen wider, die den Raum erhellten. An vielen Tischen saßen seine Untertanen, Zwerge und Zwerginnen, ihre Kinder liefen lachend umher.

Der König war etwas schwermütig. Er machte sich Sorgen um seine fleißigen Zwerge. Sie schürften zwar Tag für Tag Gold aus dem Gestein, brachen Edelsteine heraus, doch um essen und trinken zu können, musste immer wieder eine Abordnung ins Tal. Dort holten sie aus den Häusern der Menschen Speisen und Getränke, ließen aber immer ein Goldstück zur Bezahlung zurück.

Früher, bevor Laurin mit den Menschen gebrochen hatte, war das Leben einfacher gewesen. Die Leute waren auf den Berg gestiegen, hatten in seinem wunderbaren Rosengarten schöne Stunden verbracht, hatten Brot und Käse, Fleisch und Wein gebracht, waren dafür fürstlich entlohnt worden.

Heute hortete er zwar unvorstellbare Schätze, doch was sollte er im Grunde mit diesen Bergen an Gold anfangen?
Wenn seine Zwerge ihm nach ihren Beutezügen manchmal von schweren Schicksalen berichteten, von denen sie beim Lauschen erfahren hatte, schickte er sie seit einiger Zeit noch einmal hinunter mit zusätzlichem Gold oder auch mal einem Edelstein.

Aber es war zu wenig, was er tun konnte. Vor dem großen Verrat war er der König der Zwerge und der Wohltäter der Menschen im Tal gewesen. Doch dann hatte sich sein Herz verhärtet, wurde erst langsam wieder weich.

Ingridia

Mitten in der Nacht schlich Ingridia sich aus dem Haus. Da es im Regenbogenland nie richtig dunkel wurde, musste sie aufpassen, dass niemand sie entdeckte. Zu Essen oder Trinken brauchte sie nichts mitzunehmen, sie fand mit Sicherheit unterwegs ein paar Blüten, an deren Nektar sie sich laben konnte. Ein wenig ängstlich sah sie den gewaltigen Felsstock vor sich aufragen.

Da oben musste Laurins Reich sein. Hoffentlich reichte ihre Kraft, um den großen Höhenunterschied zu bewältigen.

Sie hätte ein wenig mehr trainieren sollen, aber in letzter Zeit war es so traurig in ihrer Heimat zugegangen, da hatte sie keine rechte Lust gehabt, an der Flügel-Trainings-Gruppe teilzunehmen.

Sie flog, solange sie konnte, dann machte sie eine kurze Rast, naschte von den Alpenrosen, die zum Glück noch blühten. Frisch gestärkt schwebte sie weiter. Sie wusste, dass sie sich langsam der Grenze des Reiches ihres Vater näherte, weil es langsam immer dunkler wurde. Der Regenbogen verblasste immer mehr, hin und wieder tauchte eine Sternschnuppe auf.

Genau auf der Grenze zwischen den beiden Ländern stand das Schloss des Zauberers Fritz-Wilhelm, wie sie sich erinnerte. Als Kind hatte sie den netten älteren Herrn oft besucht, zusammen mit ihrer Mutter. Sein Heim war zwar für Menschen nicht sichtbar, aber vor den Blicken der Elfen, Zauberern und Hexen schützte die Tarnkappe nicht.

Kurz überlegte Ingridia, ob sie Fritz-Wilhelm um Hilfe bitten sollte. Aber die Elfenbotschafter hatten ihr in letzter Zeit von vielen schlimmen Dingen berichtet, die die Zauberer so anstellten.

Als sie vorsichtig am Schloss vorbeiflog und versuchte, so wenige flirrende Geräusche wie möglich zu machen, öffnete sich gerade das große Eingangstor.

Fritz-Wilhelm

Fritz-Wilhelm überlegte nicht lange, als er Rocardia verstanden hatte. Er packte etwa Brot und Wasser in seinen Rucksack, hauptsächlich für seine gefiederte Freundin und nahm seinen Wanderstab fest in die Hand. Als er die Eingangstüre öffnete, glaubt er ein leises Surren in der Luft zu hören.

„Das hatte sich fast wie eine Elfe angehört!", sagte er leise zu Rocardia. Die schlug aufgeregt mit den Flügeln, als wollte sie ihm zustimmen.
Er dachte an die kleine Ingridia, die ihn früher so oft besucht hatte. Doch seit Jahren hatte er niemanden mehr aus dem Elfenland zu Gesicht bekommen.

Hinter seinem Schloss begann der Aufstieg. Zuerst war es noch ein ziemlich bequemer Pfad, der sich aber schnell im Dickicht der Alpenrosen und Latschenkiefern verlor. Rocardia hatte es sich auf seiner Schulter gemütlich gemacht, ihr Gewicht bedeutete noch mehr Anstrengung. Aber sie war schon hochbetagt, flog nur noch, wenn es unbedingt sein musste.

Außerdem musste sie ja heute schon oben in Laurins Reich gewesen sein, wo sonst sollte der Diamant herstammen, den sie ihm gebracht hatte.
Fritz-Wilhelm hatte kein schlechtes Gewissen, dass er vorhatte, den Zwergenkönig zu bestehlen. Dessen Schatz sollte unermesslich sein.

Kurz vor der Baumgrenze, noch im dichten Kiefernwald, entdeckte er Mariannes Hütte. Er war hier noch nie gewesen, so hoch heraufzusteigen hatte er bisher nie das Bedürfnis gehabt. Aus Erzählungen seiner Zirkelbrüder wusste er, dass sie eine richtig böse Hexe war.
„Die würde gut zu uns passen!", hatte er öfter gehört. Aber Hexen und Zauberer - das ging so gar nicht zusammen. Fritz-Wilhelm hatte zwar keine Ahnung, warum - aber es war eben so.

Marianne

Marianne band der Ziege ein Halsband um, befestigte einen Lederriemen daran und schnallte ihr zwei kleine Körbe am Rücken fest. Das Tier wehrte sich etwas gegen die ungewohnte Last, doch ein Schlag machte sie schnell gefügig. Die Hexe hatte ein wenig schlechtes Gewissen, schließlich hatte die Ziege sie auf die Idee gebracht, einen Teil von Laurins Schatz zu klauen. Doch dann erinnerte sie sich, dass sie ja böse war. In letzter Zeit vergaß sie das hin und wieder. Sie wurde wohl langsam alt.

Die beiden machten sich auf den Weg. Gleich hinter der Hütte endete der Wald, sanft ansteigende grüne Wiesenhänge machten ihnen den Aufstieg leicht. Als die Sonne aufging, leuchtete der Rosengarten des Zwergenkönigs in den herrlichsten Rottönen. Marianne erinnerte sich an vergangene Zeiten, als dieser Anblick den ganzen Tag über die Augen aller erfreute. Aber seit Laurin mit den Menschen im Streit war, durften sie das Schauspiel nur noch in der Morgen- und der Abenddämmerung sehen.

Plötzlich schien die Ziege verrückt zu werden. Sie bockte mit allen vier Beinen gleichzeitig, so dass sie Marianne beinahe den Hang hinuntergerissen hätte. Laut meckernd wollte sie unbedingt in die andere Richtung laufen, war durch nichts zu bewegen, weiter nach oben zu steigen.
Die Hexe drehte beinahe durch. „Was hast du denn, du dummes Vieh?", schrie sie. „Wenn du nicht aufhörst zu spinnen, verhexe ich dich in einen Regenwurm!" Ihren heutigen Spruch hatte sie noch nicht verbraucht.

In der Luft lag irgendwie ein leises Schwirren, das sich aber schnell entfernte, nur einen leichten Hauch zurückließ.

Die Ziege beruhigte sich schnell wieder, und Marianne beschloss, nicht zu hexen. Es war früh am Morgen, wer wusste schon, ob sie die einzige Möglichkeit dazu nicht noch dringend brauchen würde.

Ingridia drehte beinahe durch. Da unter ihr lief die böse Hexe Marianne keuchend den Hang hinauf, an einer Leine führte sie eine Ziege, die sicher ihre Mutter war. Im Gegensatz zu Marianne hatte sie Ingridia gesehen und wohl auch erkannt, so wie sie sich aufführte.

Schnell flog sie einen Bogen, um aus dem Blickfeld der Hexe zu kommen.

Das war knapp gewesen!
Erschöpft landete sie auf einer Enzianblüte, trank ein wenig Nektar. Ihr Herz wurde schwer, wenn sie an ihre Mutter dachte. So lange Jahre war sie jetzt schon in der Gewalt der bösen Hexe. Sie musste einen Weg finden, sie zu erlösen. Vielleicht konnte sie mit dem Schatz Laurins etwas erreichen?


Da hörte sie eine dunkle Männerstimme. Kurz darauf erkannte sie Fritz-Wilhelm, der ziemlich mühselig den Hang heraufgestapft kam, auf seiner Schulter saß die große Elster Rocardia. Ingridia kann sie gut. Oft hatten sie zusammen Luftfangen gespielt, wenn sie mit ihrer Mutter zu Besuch beim Zauberer gewesen war.
Die muss ja schon uralt sein! dachte sie.

Dann kam ihr ein anderer Gedanke. Warum waren denn alle heute auf diesem Berg unterwegs? Jahrelang hatte sie weder Zauberer noch Hexe auch nur aus der Ferne gesehen, und heute gleich alle beide?

Sie würde wachsam sein müssen, wenn sie ihren Plan in die Tat umsetzen wollte.

Frisch gestärkt stieg sie wieder in die Lüfte, beschloss aber, auch dem Zauberer lieber aus dem Weg zu fliegen.

Wolfgangus war traurig. Er war schon so lange verliebt in die hübsche Ingridia. Aber er hatte wohl keine Chance bei ihr. Sie war die schönste Elfe, die er je gesehen hatte, doch er war der hässlichste Elf, den es in den beiden Reichen gab. Vor lauter Liebeskummer hatte er in letzter Zeit auch zu viel Nektar und Honig geschleckt, so dass sein Bauch immer dicker geworden war.

Oft hatte er den Vorsatz gefasst, mehr beim Herumfliegen zu trainieren, aber er war immer schwerer geworden, seine Flügel trugen ihn kaum noch.
Außerdem machte ihn die ständige Dunkelheit im Reich seines Vaters immer depressiver. Seit er öfter über die Grenze ins Regenbogenland geflogen war und die Sonne dort genossen hatte, fiel es ihm schwer, wieder zurück in seine Heimat zu kommen.
Er konnte im Nachbarland aus einem Versteck die schöne Prinzessin beobachten, konnte ein paar Träume in die Dunkelheit mitnehmen.

Um sich abzulenken, beschloss er, wieder einen kleinen Ausflug zu machen. Doch er sah seine Auserkorene nirgendwo, ihr Vater schwirrte aufgeregt durch die Gassen, irgendetwas schien nicht zu stimmen. Unzählige Elfen und Elfe flogen aufgeregt hin und her, schienen etwas oder jemanden zu suchen.

Wolfgangus wollte helfen, landete direkt vor Halandrian. „Was ist denn bei euch los?", fragte er. Der König sah den jungen Elf, den er so gerne als Schwiegersohn hätte, traurig an. „Ingridia ist verschwunden! Wir können sie nirgends finden!", seufzte er.

Seine Tochter war nicht einfach, aber sie war noch nie so weggeflogen, ohne Bescheid zu geben.
Der junge Elf wurde ganz blass. „Habt ihr eine Ahnung, wohin sie hätte fliegen können oder wollen?", fragte er.

Hallandrian wischte sich über die Augen. Ingridia war alles, was er noch hatte. „In ihrem Zimmer liegt ein Buch mit so alten Geschichten. Die hat ihr ihre Mutter immer vorgelesen. Die Seite mit Laurins Schatz war aufgeschlagen!", antwortete der König betrübt. Er musste dem Prinzen wohl die ganze Wahrheit eröffnen. „Ich habe ihr erklärt, dass sie dich heiraten muss, um unser Reich finanziell zu retten!"

Wolgangus fuhr ein heißer Schmerz mitten in sein Herz. Und daraufhin war sie abgehauen. Das war ja offensichtlich. Sie wollte wohl etwas von Laurin stehlen, um ihr Volk zu retten, ohne ihn heiraten zu müssen. Das tat zwar höllisch weh, aber die Sorge um Ingridia war jetzt größer und wichtiger.

„Ich werde sie suchen, und ich werde sie finden. Ich nehme ein paar Elfe aus meiner Garde mit und bringe sie dir zurück!", versprach er.

So schnell er konnte, flog er zurück in sein eigenes Reich. Die Angst um Ingridia verlieh ihm ungeahnte Kräfte. In Windeseile hatte er zwanzig gut trainierte Gardeelfe um sich versammelt, und sie machten sich auf, den Berghang zu überwinden.

Er ließ keine Erschöpfung zu. Was die kleine Prinzessin schaffte, würde er wohl auch zustande bringen. Ein wenig musste er sogar lächeln. Sie war schon einmalig! Machte sich einfach auf, um den Zwergenkönig zu beklauen. Eine so mutige Elfe gab es wohl nur einmal in den beiden Reichen. Wenn sie nur verstehen würde, was für ein wunderbares Leben er ihr bieten könnte.

Diese Gedanken beflügelten ihn noch mehr, mobilisierten unglaubliche Kräfte in ihm. Seine Gardisten waren ziemlich außer Atem und wunderten sich über ihren Prinzen. Das hätten sie ihm nicht zugetraut, so viele Höhenmeter in Rekordzeit zu überwinden.

Marianne und Fritz-Wilhelm kamen gleichzeitig aus verschiedenen Richtungen am Eingang der unterirdischen Räume an und hatten beide den gleichen Gedanken. Verdammt! Daran hatten sie nicht gedacht. Das Tor stand zwar offen, war aber winzig klein. Der Zauberer sah die Hexe böse an. „Was willst du denn hier?", fauchte er und Rocardia schlug aufgeregt mit den Flügeln.

Marianne setzte ihr freundlichstes Lächeln auf. „Wohl etwas Ähnliches wie du! Die Zwerge horten Berge von Gold und Edelsteinen, da können sie uns doch etwas abgeben." Die Ziege sah immer hoch in die Luft, gab aber keinen Laut von sich.

Ingridia hatte sich weiter oben hinter einem Felsvorsprung versteckt, belauschte die beiden mit klopfendem Herzen. Die wollten auch an Laurins Schatz, das war ja eigentlich klar! Aber ausgerechnet heute?

Plötzlich erbebte die Luft um sie so stark, dass sie beinahe aus ihrem Versteck gestürzt wäre. Es schwirrte, als würde ein Vogelschwarm landen. Da erkannte sie Wolfgangus inmitten einer Schar von Elfen. Sie verdrehte die Augen zum Himmel. Was wollte der denn da? Und warum hatte er die Gardeelfe mitgebracht?

Doch der dicke, hässliche Prinz fiel ihr ungefragt um den Hals. „Ingridia!", jubelte er. „Ich habe dich gefunden!"

Sie verzog das Gesicht, löste sich aus der Umarmung. „Und warum hast du mich gesucht?", fragte sie, nun doch etwas verwirrt. War etwas zu Hause passiert? Etwas mit ihrem Vater geschehen?

„Ich habe mir Sorgen gemacht! Dein Vater auch! Er hat gesagt, du seist verschwunden!", erklärte der Prinz. Dann erzählte er von den Rückschlüssen, die der König gezogen hatte.

Ingridias Herz wurde etwas weicher, als sie Wolfgangus anblickte. Sein Gesicht war ganz rot, was ziemlich auffiel, weil er sonst immer sehr blass war. Sein Atem ging schnell, er schien sich ordentlich angestrengt zu haben, um sie zu finden. Aber am meisten fiel ihr der Blick aus seinen dunklen Augen auf. Schöne Augen! dachte sie verwirrt. Und wie er sie damit ansah!
Liebevoll?

Ihr Herz schlug etwas schneller.

Unten hörten sie Fritz-Wilhelm und Marianne streiten.

„Jetzt zaubere endlich den Eingang größer!", fauchte sie.

„Dann bricht Gestein aus dem Berg und könnte die Zwerge verletzen!", wehrte er ab.

Die Hexe kicherte nur böse. „Und? Was kümmert es uns?"

„Es sind Lebewesen!"

„Es gibt genug von ihnen! Los jetzt, zaubere! Sonst verhexe ich dich in eine Maus!" Er musste ja nicht wissen, dass sie nur einmal pro Tag hexen konnte und sich diese Option lieber aufheben wollte und sollte.

Fritz-Wilhelm grinste böse. Die ging ihm gewaltig auf die Nerven. Dieses böse alte Weib! Aber sie hatte ihn auf eine Idee gebracht. Er holte seinen Zauberstab unter dem Umhang hervor. Tat so, als würde er ihn gegen den Eingang strecken und sprach ein paar Zauberworte.

In Sekundenschnelle schrumpfte Marianne zu einer Ratte. Rocardia stürzte sich auf sie, packte sie am Schwanz und erhob sich in die Lüfte.

Ingridia und die Elfe sahen belustigt dem Treiben unter ihnen zu, klatschten sich ab. Dann wurde Wolfgangus wieder ernst. Die Elfenprinzessin hatte einen Grund gehabt, um den beschwerlichen Anflug auf sich zu nehmen. Sie wollte Gold stehlen, um ihrem Volk zu helfen, um ihn nicht heiraten zu müssen.

Damit sollte er sich abfinden. Trotzdem wollte er ihr helfen, vielleicht auch um ihr zu beweisen, dass er ein guter Kerl war, auch wenn er nicht der hübscheste Elf war.

„Laurin ist ein guter Freund von mir", sagte er leise und wich ihrem Blick aus. „Ich kenne einen privaten Zugang zur großen goldenen Halle. Wir könnten ihn bitten, dir und deinem Volk zu helfen."

Ingridias Augen wurden immer größer. Warum war er so nett zu ihr? Warum wollte er das für sie tun?

„Das ... das wäre sehr nett von dir", stammelte sie.

„Ich bin nett!" antwortete der Prinz und lächelte sie an. Er erhob sich in die Lüfte, Ingridia folgte ihm. Durch einen kleinen Spalt im Felsen, den jeder, der ihn nicht kannte, übersehen hätte, gelangten sie ins Innere des Felsmassivs, flogen durch lange, verwinkelte Gänge. Plötzlich musste die Elfenprinzessin die Augen schließen, die Helligkeit tat ihnen weh. Als sie vorsichtig blinzelte, sah sie, dass sie im goldenen Saal angekommen waren.

Es gab ihn also wirklich! Er war nicht nur eine Erfindung der Ahnen, die die Sage von Laurin überliefert hatten. Es glitzerte und funkelte überall um sie herum. Wolfgangus landete auf einem Sessel aus purem Gold neben Laurin. Als der Zwergenkönig ihn erkannt, fiel er ihm um den Hals.

„Hallo, mein Freund!", freute er sich. „Dich habe ich ja schon lange nicht mehr gesehen!"

Wolfgangus verdrehte ein wenig die Augen. „Ist ja ganz schön weit und hoch hier herauf!"

Laurin klopfte auf den Bauch des Prinzen. „Würde dir nicht schaden, den Weg öfter auf dich zu nehmen!" zog er den Freund auf.

Fritz-Wilhelm stand noch immer vor dem kleinen Portal. Er ließ Rocardia nicht aus den Augen. Er wollte ja nicht, dass sie Marianne verletzte oder tötete. Nur einen Denkzettel hatte er ihr verpassen wollen. Aber er musste sich keine Sorgen machen, die Elster hielt die Ratte vorsichtig mit ihren Krallen auf einem Felsvorsprung fest.

Dann wurde er von der Ziege abgelenkt, die ihn immer wieder anstupste und dabei laut und jämmerlich meckerte.

Das ist doch kein normales Tier! dachte er bei sich. So benimmt sich doch keine Ziege!

Er murmelte einen Zauberspruch, nur so zu Sicherheit, malte mit dem Zauberstab ein paar Zeichen in die Luft, und vor ihm stand die wunderschöne Ariadna, Ingridias Mutter.

Die Elfenkönigin, die so lange verschwunden gewesen war, flog auf seine Schulter und hauchte ihm ein Küsschen auf die Wange.

„Danke!", flüsterte sie glückselig und machte sich auf den Weg ins Tal. Um ihre Tochter würde sich Wolfgangus kümmern, sie wollte jetzt endlich zurück zu ihrem Mann.

Fritz-Wilhelm hörte von drinnen im Felsen das fröhliche Treiben der Zwerge. Er wurde eine wenig schwermütig. Es musste schön sein, einer solchen Gemeinschaft anzugehören, gemeinsam zu lachen, gemeinsam zu leben.
Aber er war so oft allein. Die Menschen hatten Angst vor dem zwei Meter großen Mann mit dem langen Bart, auch wenn er sie immer freundlich anlächelte.

Seine Zauberer-Kumpane hatten ihn auch noch nie richtig gemocht.

Jetzt stand er also vor dem Tor, durch das er niemals passen würde. Plötzlich hatte er eine Idee. Ein paar geheimnisvolle Worte später war er auf Zwergengröße geschrumpft, schlüpfte durch die Öffnung im Felsen, drückte sich an die vergoldete Wand, lauschte der leisen Musik, den Unterhaltungen, dem Lachen, wurde immer sehnsüchtiger.

Da entdeckte ihn Ingridia, die immer noch fassungslos staunend ihre Blicke über all die Pracht schweifen ließ.
Sie kniff die Augen zusammen, konnte nicht recht glauben, wen sie da stehen sah. Das war doch Fritz-Wilhelm! Aber er war klein wie alle hier im Saal. Wollte er Gold klauen, oder warum war er hereingekommen?

Sie stupste Wolfgangus an, der sich mit Laurin über verschiedene Streiche unterhielt, die sie zusammen früher ausgeheckt hatten. Sie machte die beiden auf den Zauberer aufmerksam. Laurins Stirne umwölkte sich. Er winkte die Wachen herbei, die Fritz-Wilhelm zwischen sich nahmen und zu ihrem König brachten.

„Was willst du?", fuhr Laurin ihn an.
Fritz-Wilhelm suchte nach Worten, entschied sich aber dann für die Wahrheit.
„Ich wollte Gold stehlen, um eine Schule für gute Zauberer zu gründen", gestand er und wich dem Blick des Zwergenkönigs aus.

Der sah ihn zuerst verwundert an, dann musste er lachen. So viel Ehrlichkeit überraschte und amüsierte ihn. Als er wieder Luft bekam, japste er: „Na, das ist doch mal ein guter Plan! Da hätte ich auch selbst draufkommen können!" Dann wurde er wieder ernst. „Aber meine Zwerge und ich, wir werden dich im Auge behalten, ob du das auch wirklich durchziehst!"

Dann klatschte er dreimal in die Hände und ein paar kräftige Zwerge tauchten auf. „Ladet eure Rucksäcke voll! Packt ein, so viel ihr tragen könnt! Bringt alles zusammen mit dem Zauberer ins Tal!"

Die Untertanen gehorchten sofort. Fritz-Wilhelm wusste nicht recht, wie ihm geschah. Laurin sah ihn durchdringend an. „Wenn du wieder einmal etwas von mir willst, frag mich! Mit mir kann man reden! Man muss mich und mein Volk nicht bestehlen."

Damit entließ er den Zauberer, der sein Glück kaum fassen konnte und schnell das Weite suchte, bevor Laurin sich alles noch anders überlegen konnte.

Der Zwergenkönig wandte sich wieder an Wolfgangus. „Und, was bringt dich nach all der Zeit zu mir, mein Freund? Wolltest du mir deine entzückende Braut vorstellen?"

Ingridia errötete etwas, was der Elfenprinz entzückend fand. Trotzdem wollte auch er ehrlich zu Laurin sein. „Nein, so ziemlich das Gegenteil trifft es besser. Die Prinzessin des Regenbogenlandes wollte dich auch bestehlen, damit sie mich nicht heiraten muss. Ihr Vater hat schlecht gewirtschaftet, das Land ist ziemlich pleite."

Ingridia schnappte nach Luft. War Wolfgangus verrückt geworden? Sie hatte gedacht, er wollte ihr helfen, und jetzt haute er sie voll in die Pfanne.
Laurin sah sie streng an, doch sie sah ein kleines schelmisches Blitzen in seinen Augen.

„So, so!", meinte er. „Mein Freund ist dir wohl nicht hübsch genug?"

Ingridias Gesichtsfarbe verdunkelte sich noch mehr. „Nein! Ah, ja! Nein!" stammelte sie. Sie konnte weder dem Zwergenkönig noch dem Elfenprinzen in die Augen sehen.
Laurin spielte weiter den Gestrengen. „Nein? Ja? Nein? Im Regenbogenland spricht man eine seltsame Sprache!"

Die Prinzessin musste lächeln, spürte, dass Laurin spielte mit ihr. Sie sah Wolfgangus an, hielt seinen Blick fest, entschied sich wie die anderen vor ihr, die Wahrheit auszusprechen. „Gestern habe ich gesagt, er ist hässlich!", gestand sie. „Aber heute habe ich seine Augen gesehen, sein Lächeln und, ich glaube, auch ein wenig von seiner Seele. Das alles hat mir sehr gefallen!" Doch dann grinste sie. Ein wenig musste sie Wolfgangus schon zurückzahlen. „Und die Figur bekommen wir auch wieder hin!"

Laurin musste wieder lachen. So einen fröhlichen Tag hatte er schon lange nicht mehr erlebt. Er stand auf, ging in seine großzügigen Räume, suchte etwas Bestimmtes. Als er es gefunden hatte, ging er zu seinen Gästen zurück.

Ingridia tauschte indessen tiefe Blicke mit Wolfgangus, was sie zum Lächeln brachte. Der verlegene Elfenprinz gefiel ihr immer besser.

Der Zwergenkönig sah die beiden offensichtlich Turtelnden eindringlich an. „Ich schenke euch zur Verlobung zwanzig Unzen Gold und zwanzig Diamanten, und zur Hochzeit doppelt so viel." Dann öffnete er den relativ großen Kasten, holte einen großen Ring heraus. Seine Augen wurden etwas betrübt, als er ihn betrachtete. „Das ist der Verlobungsring, den ich der Liebe meines Lebens schenken wollte. Aber es ist anders gekommen. Für dich, Ingridia, ist es eher ein Armreif!" Er reichte das Schmuckstück Wolfgangus. „Streif ihn ihr über, wenn die Zeit reif ist!"

Marianne hatte während der ganzen Zeit Todesangst. Die riesige, ekelhafte Elster hielt sie hoch auf diesem Felsen mit ihren Krallen fest. Sie tat ihr zwar nicht weh, aber es gab auch kein Entkommen.

Aus dem Berg drangen immer wieder Stimmen zu ihr, sie hörte Laurins Lachen.

„Na, denen scheint es ja gut zu gehen!", flüsterte sie bitter. „Wenn ich diesen Zauberer zu Gesicht bekomme, verhexe ich ihn in einen Mistkäfer!" Rocardia drückte etwas fester zu. „Verstehst du mich, du hässliches Vieh?", fragte die Hexe, und der Griff der Elster verstärkte sich noch ein wenig.

„Okay! Okay! Ist schon gut! Ich tu ihm nichts!" Dass sie mit einem Spruch am Tag sowieso nicht viel erreichen konnte, musste Rocardia ja nicht wissen. Und an den Schatz würde sie wohl nicht kommen, also würde sie auch ihre Spielschulden nicht bezahlen können.

Da sah sie, wie Fritz-Wilhelm aus dem Zugang zum Berg herauskam, gefolgt von etwa zehn schwerbepackten Zwergen. Er murmelte eine paar kryptische Worte und war wieder so groß wie zuvor. Sein Blick ging nach oben zu Rocardia, und er pfiff dreimal.

Die Elster packte die Ratte am Schwanz und flog zu ihrem Herrn und Meister. Marianne wurde schlecht vor Angst und schwindlig von dem schnellen Sinkflug. Taumelig lag sie vor Fritz-Wilhelm, unfähig, auch nur einen Schritt zu tun.
Der Zauberer wirbelte ein wenig mit dem Zauberstab, und die Ratte wurde wieder zur Hexe. Aber sie war vollkommen kraftlos und wacklig auf den Beinen.

„Ich mache dir einen Vorschlag!", begann Fritz-Wilhelm. „Du kannst ihn ablehnen und wirst wieder eine Ratte werden. Oder du nimmst ihn an, und wirst eine gute Hexe, die mit mir zusammen Nachwuchs von uns ausbildet. Junge Zauberer und Hexen, die Gutes tun, anstatt den Menschen zu schaden."

Marianne hatte schon wieder genug Kraft, um hämisch zu lachen. Sie war ihr Leben lang eine böse Hexe gewesen, hatte die Menschen geneckt, ihnen schlimme Dinge angetan. Wie stellte Fritz-Wilhelm sich das vor? „Ich kenne nur böse Hexensprüche!", wandte sie ein.

„Dann lernst du eben gute! Dafür ist man nie zu alt!", hielt der Zauberer dagegen.
„Ich muss aber noch Spielschulden bezahlen!" Sie konnte sich noch nicht geschlagen geben. „Bis dahin habe ich nur einen Hexenspruch am Tag. Da werde ich dir keine große Hilfe sein!"

Fritz-Wilhelm sah sie eindringlich an. „Wenn ich sicher sein kann, dass du mich nicht reinlegst, bezahle ich deine Schulden", versprach er.

Marianne gab sich geschlagen, hatte keine Argumente mehr gegen seine Überzeugungskraft, und eigentlich konnte sie sich sehr gut mit seinem Vorschlag anfreunden. Und von den Pokerkarten, ihrer großen Leidenschaft, würde sie in Zukunft ganz sicher die Finger lassen.

Außer, Fritz-Wilhelm ließ sich mal zu einem Spielchen überreden.

Ein Jahr später

Laurin war aufgeregt. Zum ersten Mal seit vielen Jahren würde er ins Tal hinuntersteigen. Jahrelang hatte er sich oben in seinem Felsenreich zurückgezogen. Kontakt mit Menschen aufzunehmen, dazu war er noch immer nicht bereit. Doch sein Freund Wolfgangus feierte heute Hochzeit mit der reizenden Ingridia, das war den weiten Weg durchaus wert.

Die beiden hatten ihn oft besucht während der letzten zwölf Monate, hatten auch ihre Verlobung in seinem goldenen Saal gefeiert. Gäste waren da auch der Zauberer Fritz-Wilhelm und die gar nicht mehr böse Hexe Marianne gewesen, die ebenfalls zu guten Freunden geworden waren. Die zwei hatten tatsächlich eine Schule gegründet für Hexen und Zauberer, die allen Wesen auf der Erde Gutes tun wollten.

Ihre Freundinnen von früher und seine Kumpane hatten kapituliert. Alles Böse, das sie gehext und gezaubert hatten, hatten Marianne und Fritz-Wilhelm ins Gute verkehrt.

Laurins Zwerge waren ziemlich schwer beladen, sie schafften einen Großteil seines Schatzes in die beiden Elfenreiche, die ab heute zu einem werden würden. Die Bewohner würden dann sowohl das Licht der Sonne, das den Regenbogen zum Leuchten brachte als auch die Nacht, in der Sternschnuppen vom Himmel fielen, genießen können.

Halandrian hatte Tränen in den Augen, als seine wunderhübsche Tochter ihr „Ja" vor dem Elfenpriester hauchte. Seine innig geliebte Frau Ariadna war seit einem Jahr wieder bei ihm, Fritz-Wilhelm hatte sie gerettet.

Sie hatte auch die Finanzen seines Landes übernommen, konnte eindeutig besser rechnen als er.

Alles war gut geworden seit dem Tag, als er vor lauter Verzweiflung seine Tochter gebeten hatte, Wolfgangus zu heiraten. Damals war sie noch sehr oberflächlich gewesen, hatte den jungen Prinzen nur nach dem Äußeren beurteilt. Doch sehr schnell hatte sie gelernt, dass Wolfgangus innere Werte hatte wie kaum ein anderer.

Die Elfenwelt war in Ordnung gekommen.


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