Gruß aus der Ferne

Es war ein heißer Sommertag mit wolkenlosem Himmel und strahlendem Sonnenschein. Ein Tag wie aus dem Bilderbuch. Das fantastische Wetter lockte sämtliche Menschen hinaus auf die Straßen, in die Bäder, in die Parks.

Lange hatte ich in der Schlange vor der Eisdiele anstehen müssen, aber um so einen schönen Tag zu zelebrieren, brauchte es einfach eine Eistüte auf die Hand. Als ich den diesjährigen Preis für eine Kugel Eis auf dem Tafelanschrieb las, schluckte ich ein wenig. Im Vergleich zum Vorjahr war der Preis schon wieder angehoben worden und im Vergleich zu den Preisen meiner frühesten Kindheit, grenzte das heutige Preisniveau ja schon fast an ein Verbrechen. Naja, man kennt diese Gedankenspiele, wartet dann aber dennoch artig in der Schlange und spätestens, wenn man seine wohl überlegte Auswahl an Eissorten genüsslich schleckt, sind diese Gedanken auch schnell wieder verschwunden.

Mich voll dem Eisgenuss widmend, schlenderte ich ein wenig durch die schattigen Gassen, ehe ich den Fluss erreichte. Ich kann es mir selbst nicht genau erklären, aber Gewässer scheinen Menschen gerade im Sommer magisch anzuziehen. So waren bereits alle schattigen Plätze besetzt und mehrere Gruppen saßen entspannt beisammen und unterhielten sich angeregt. Die Frauen nicht selten in luftigen Sommerkleidern, die Männer in kurzen Hosen und bunten T-Shirts. Manche hatten kühle Getränke dabei, die sie lautstark durch Strohhalme schlurften.

Mein Blick schweifte eine Weile über die Szenerie und suchte nach einem freien Plätzchen zum Verweilen. Ich entdeckte einen kleinen Treppenabgang, der von der Kaimauer direkt zum Fluss führte. Schnell eilte ich dorthin, in der Befürchtung jemand würde mir diesen Platz noch wegschnappen können. Besonders schattig war es hier leider nicht, aber wenn ich meine Schuhe auszog konnte ich meine Beine für eine wohltuende Abkühlung ein wenig in den Fluss hineinhängen lassen.

Gesagt, getan. Das kühle Nass tat mir richtig gut und mit einem schönen Ausblick auf die wogenden Wellen vertilgte ich die letzten Bissen meiner Eiswaffel. Zum Glück hatte ich mir in der Eisdiele auch eine Serviette mitgenommen, mit der ich mir jetzt den Mund abwischen konnte.

Gedankenversunken blickte ich auf den Fluss und stellte mir vor, ich säße am Meer. Leider hatte das Geld dieses Jahr nicht für einen Sommerurlaub gereicht und ich war ziemlich neidisch auf meine Freunde, die gerade im Begriff waren die beste Zeit des Jahres zu nutzen, sämtliche ferne Länder zu erkunden und fremde Kulturen kennenzulernen. Ich seufzte und redete mir ein, dass es zuhause doch am schönsten sei. Wenigstens das Wetter konnte dort kaum besser sein als hier.

Während ich den Horizont meines Ozeans in Augenschein nahm, erblickte ich einen kleinen Gegenstand, der an der Oberfläche schwamm. Seichte schwankte er durch den Wellengang hin und her und bewegte sich flussabwärts auf mich zu. Als das Objekt näherkam, konnte ich es als eine Glasflasche identifizieren.

Na toll, irgendein Depp hat seinen Müll einfach in den Fluss geworfen, dachte ich mir und verwünschte diesen Umweltsünder.

Die Flasche war kurz davor meinen Standort zu passieren und wenn ich mich nur genug streckte, hätte ich sie erreichen können. Ich versuchte es und wäre beinahe ins Wasser gefallen. Ich musste mich richtig lange machen und konnte den Flaschenhals gerade so mit den Fingerspitzen berühren. Der schmale Hals glitt von den Spitzen erschreckend langsam über die einzelnen Glieder meiner Finger in die Handinnenflächen und dann konnte ich endlich zupacken, sowie meinen Oberkörper wieder ans sichere Ufer in trockene Sicherheit bewegen. Hoffentlich hatte niemand diese akrobatische Meisterleistung beobachtet. Ich sah mich um, aber niemand schien von mir Notiz genommen zu haben, zumindest konnte ich keine amüsierten Blicke feststellen.

Mit der Flasche in meinen Händen bemerkte ich, dass diese mit einem Schraubverschluss fest verschlossen und im Inneren ein Papier säuberlich zusammengerollt war. Es handelte sich um eine Flaschenpost! Es schien kein Wasser in das gläserne Gefäß eingedrungen zu sein.

Aufgeregt schraubte ich den Deckel ab und holte die Schriftrolle heraus. Das Schriftstück bestand aus mehreren Seiten Papier, welches alt wirkte, denn es war schon etwas vergilbt. Die Schrift war offenbar mit Tinte geschrieben und etwas krakelig, ich musste mich ein bisschen anstrengen um sie lesen zu können.

Ich stellte die Flasche neben mir auf der Stufe ab und begann zu lesen:

Werter Freund,

während ich, Kapitän Ferdinand August Hawighorst, dir mit Vergnügen diese Zeilen schreibe, liege ich entspannt am Strand der Insel Lummerland.

Ich frage mich, wer du wohl bist, der du meine Nachricht liest und wo du sie gefunden haben magst. Wie weit ist meine Flaschenpost gereist um meine Worte mit dir zu teilen? Wird sie denn jemals gefunden werden?
Vielleicht bist du noch ein Kind, im Lesen etwas ungeübt, den Kopf voller Träume und ein langes Leben vor dir. Wohlmöglich bist du eine junge Frau, wunderschön, mit vollen Lippen, wallender Mähne und mit einem pulsierenden Herzen, sehnsüchtig auf der Suche nach der großen Liebe und Halt im Leben. Aber vielleicht bist du auch ein Greis wie ich es bin: Gezeichnet vom Leben und ausgestattet mit einem gigantischen Erfahrungsschatz, der über die Jahre angehäuft wurde, mal schmerzend mal mit großer Wonne.

Als ich ein Kind war, träumte ich schon von der See. Jeden Tag rannte ich den Deich hinauf und sah hinaus in die endlosen Fluten. Alle Weltmeere zu bereisen, das war mein Traum. Ich wollte fremde Länder bereisen, exotische Früchte genießen und neue Kulturen kennenlernen. Besser jetzt und gleich als irgendwann einmal oder nie.

Doch nicht jeder Traum erfüllt sich sofort und man muss auch mal Abstriche machen können. Für mich bestand dieser Kompromiss aus einem stinkenden Fischkutter, mit dem ich täglich die Küsten auf und abfuhr um den Fischbestand auszubeuten für nicht mehr als einen Hungerlohn. Mein einziger Lichtblick in diesen Jahren war das Nachbarsmädchen Rosalie. Mein Herz schlug schneller, wenn ich ihr rotes Haar erblickte und es machte einen Aussetzer, lächelte sie mir zu. Ich wollte um ihre Hand anhalten, doch für ihren Vater war ein mittelloser Fischer nicht gut genug. Weder ich, noch meine Familie, konnten ihr viel bieten. Ich war leider keine gute Partie.

Dann kam der Krieg und ich diente auf einem großen Schlachtkreuzer. Endlich bereiste ich die hohe See und kam in fremde Länder. Doch wir brachten den Menschen dort nichts als Tod und Elend. Ich diente der Marine treu und tapfer und mein Dienstgrad stieg und stieg mit jedem fragwürdigen Verdienst.

Dann kam der schicksalsreiche Tag, an dem wir wieder in Kampfhandlungen mit dem Feind verwickelt wurden. Diesmal zogen wir den Kürzeren. Unser Schiff wurde versenkt und zahlreiche Matrosen, nicht wenige waren treue Freunde von mir, wurden von der hungrigen See verschlungen. Ihre Seelen sind noch heute unruhig in ihren nassen Gräbern und ich sehe ihre Gesichter jede Nacht in meinen Träumen. Ich wurde vom Feind aufgelesen und in Ketten gelegt. Noch weit bis nach Kriegsende war ich in Gefangenschaft, bei trübem Wasser und schimmligen Brot. Zu wenig um davon leben zu können, gerade genug um nicht zu sterben. So verbrachte ich einige Jahre in einem dunklen Verlies, schlafend auf einer Pritsche und mit dem Blick durch Gitterstäbe auf das Meer. Voller Sehnsucht fragte ich mich jeden Tag ob ich je wieder in Freiheit sein und meinen Lebenstraum verwirklichen könne.

Irgendwann schenkte man mir die Freiheit und ich konnte zurück in die Heimat reisen. Meine Familie hatte unter dem Krieg gelitten und es ging uns sogar noch schlechter als zuvor. Auch meine angebetete Rosalie war inzwischen verheiratet worden und hatte zwei hübsche Knaben geboren. Sie sagte mir, sie wäre glücklich, dass ich nicht im fürchterlichen Krieg gefallen sei, aber dann habe ich nie mehr ein Wort mit ihr gewechselt.

Der Wiederaufbau des zerstörten Landes war ein Motor für die Wirtschaft und so suchte ich mein Glück in der Binnenschifffahrt. Die Flüsse waren im Gegensatz zum Streckennetz der Eisenbahn stets intakt und sämtliche Güter kamen immer pünktlich am Bestimmungsort an. So lebte ich viele Jahre auf meinem Kahn und schuftete hart für jedes Lob und jeden Lohn.

Doch die Versöhnung der früheren Kriegsparteien hatte auch zu manchen neuen Freundschaften geführt und so begegneten sich die unterschiedlichen Nationen fortan immer intensiver als Handelspartner. Ich wagte den nächsten Schritt und riskierte alle meine Ersparnisse in die Gründung meiner eigenen Reederei. Ach, wenn ich nur an die vielen Ängste denke, die ich zu dieser Zeit hatte. Wochenlang zauderte ich und überlegte mir sämtliche Szenarien und mögliche Entwicklungen. Im Nachhinein bin ich aber sehr glücklich über meine Entscheidung, denn in den Folgejahren lebte ich meinen Traum so intensiv, wie ich es mir niemals zuvor auszumalen gewagt hatte. Völlig frei und umgeben von treuen Begleitern, die über die Jahre wie eine zweite Familie für mich wurden, befuhr ich alle sieben Weltmeere. Mal tobte die See, mal war sie ganz still. Meine Mannschaft und ich waren auf alle Unwägbarkeiten vorbereitet und meisterten sie mit Bravour. So hatte ich mir mein Leben immer erträumt und ich hätte nie etwas anderes machen wollen.

Irgendwann hatten wir in Lummerland zu tun. Die Güter waren bereits gelöscht und wir wollten uns nur einen Abend im Hafen vergnügen, ehe unser Schiff am Morgen wieder auslaufen würde. Doch dieser eine Abend genügte schon, dass ich mich Hals über Kopf in Sarah, die Bedienung in einem kleinen Gasthaus, verliebte. Sie war wunderschön anzusehen: Sie war eine rassige Frau mit dunklen Locken und großen, braunen Augen. Ihr schmaler, schlanker Körper raubte mir den Atem. Es war Liebe auf dem ersten Blick. Nach dem Genuss zahlreicher alkoholhaltiger Getränke beschloss ich mein Unternehmen an meinen besten Freund zu verkaufen und auf Lummerland zu bleiben.

Ich kaufte mir ein kleines Haus in Küstennähe und eroberte mir Sarahs Gunst und ihr Herz. Sie machte es mir überhaupt nicht leicht und es dauerte ein ganzes Jahr, ehe sie mir ihre Liebe gestand. Bald darauf heirateten wir, sie zog zu mir in das kleine Haus und wir gründeten eine Familie. Wir bekamen drei Töchter und zwei Söhne. Ich hatte die See gegen eine Familie eingetauscht und somit einen Lebenstraum gegen einen anderen.

Und so verbringe ich bis heute meinen Lebensabend hier im wunderschönen Lummerland. Ich will es nicht missen. Wenn ich bald dieser Welt entschlafe, wird mein geschundener Körper den Flammen übergeben. Danach wird einer meiner Söhne weit hinaus auf das offene Meer fahren und meine Asche über dem Meer verteilen. Denn so wünsche ich es mir.

Unter den letzten Zeilen prangte eine Unterschrift, die sogar noch krakeliger als der Text geschrieben war:

Kapitän Ferdinand August Hawighorst

Beeindruckt von den Zeilen, die ich eben so unverhofft gelesen hatte, blickte ich auf.

Wer war dieser Kapitän?
Wo lag diese Insel?
Ob er wohl noch lebte?
Wurde sein letzter Wille entsprechend seiner Vorstellung realisiert?
War seine Lebensgeschichte wirklich so abgelaufen?

Falls ja, dann freute es mich, dass er trotz eines wechselhaften Lebens sein Glück gefunden hatte.

Ich stand auf und trat den Heimweg an. Ich dachte nach über mein Leben, meine Ziele und meine Träume.

Kapitän Hawighorts Flaschenpost hatte mich berührt. Vielleicht hatte sich aber auch nur jemand einen Spaß mit mir gemacht.

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