JUU
ASAKA
Kinder sehen erst Jahre später, was sie vor Jahren mit eigenen Augen gesehen haben.
... und erschuf einen Spiegel. In den sie dann fiel. Die Messerspitze hatte ihr Kleid aufgeschlitzt, ihre Haut knapp verfehlt. Die Dorfbewohnerin hatte mit keinem Fall nach vorn gerechnet. Es war bitter, dass ausgerechnet Megumi Asakas Kleid auf dem Gewissen hatte. Die Frau hielt einen Bannzettel in die Höhe und redete von Dämonenaustreibungen. Damit meinte sie aber Yōkai und nicht die Kunoichi.
Halt.
STIRB DÄMON!
...
Warum?
Alles in Zeitlupe. Wiederholung der Sequenz.
Eine Hand ausgestreckt ins Nichts.
Das Nichts vollzog einen Perspektivwechsel.
Warum?
[...]
Yuki Asaka kam als außergewöhnlich schönes Kind zur Welt. Sie war sogar so schön gewesen, dass bei ihrer Geburt die Sonne nur für sie schien. Ein Lichtblick inmitten von Kirigakures Dunkelheit. Sie war die Tochter von Hime. Yuki Himeno. Diese versta... wurde kaltblütig kurz nach der Entbindung ermordet. Genauso wie der Vater. Sie standen im engen Kontakt zur Familie Hamada, welche Asaka kurzerhand bei sich aufnahmen. Das Kind prägte sich ihre Gesichter ein und vergaß, was davor war.
Hamada Kazumi besaß schwarze mittellange Haare und blaue Augen. Sie sah Asaka nicht ähnlich. Hamada Tokujirō besaß ebenfalls schwarze Haare. Dafür stechend grüne Augen. Er sah Asaka nicht ähnlich. Tokujirōs grüne Augen hätten sich aber mit hoher Wahrscheinlichkeit durchgesetzt, wenn Asaka seine Tochter gewesen wäre. Konnte ein Kind schon so weit denken und sich Gedanken über Vererbungsprozesse – dominant und rezessiv – machen? Nein. Doch da war diese kindliche Intuition. Zwar empfand sie Liebe und fühlte sich bei den Hamadas sicher, aber es war mehr ein Sich-sicher-in-einem-Iglu-fühlen.
Selten erhaschte Asaka einen Blick auf andere Kinder durch die Fensterscheiben ihres abgelegenen Hauses hindurch. Es war immer dann, wenn diese sich an den Rand der Stadt verirrt hatten und von den Eltern wieder eingesammelt werden mussten. Sonst kam niemand her. Niemand zum Spielen. Niemand mit dem Asaka sich hatte anfreunden können. Und wenn draußen irgendwelche Kinder waren, saß sie drinnen und durfte nicht raus. Kaum waren die Kinder aber mit ihren Eltern von dannen gezogen, wurde das Nach-draußen-Verbot aufgehoben. Ohne Kommentar. Auch nicht, wenn Asaka ganz lieb und vorsichtig fragte. Vielleicht fragte sie danach, weil sie sich als Kind unter Erwachsenen einsam fühlte ... Aber konnte man etwas missen, was man nicht kannte? Kinderfreundschaften könnten am Ende total blöd sein ... Was wäre, wenn eines der Kinder an ihren Haaren zog oder sie mit Dreck bewarf?
An sich war Asaka nichts weiter als ein unschuldiges Kind, das sich Blumen ins Haar steckte, wenn es irgendwo im meterhoch abgezäunten Garten welche fand- und nichts von dem Stigma wusste, mit dem es behaftet war. Aber man konnte ein solches Kind auch nicht ewig im Dunkeln nach einem bereits erloschenen Licht suchen lassen. Doch wann war der richtige Zeitpunkt, um mit der Wahrheit herauszurücken? Eine harte grausame Wahrheit, die dieses Mädchen verfolgen würde. Auf der anderen Seite hatten sich die Hamadas geschworen, eben dieses Kind zu beschützen. Unwissenheit und Naivität boten keinen Schutz vor den Gefahren, die außerhalb der vier Wände und des meterhoch abgezäunten Gartens auf Asaka warten würden. Und ewig konnte man sie nicht isolieren.
Drei Personen auf Tatamimatten kniend. Zwei davon waren ein paar Köpfe größer als die Dritte. Krisengespräch. Das Erste, aber garantiert nicht das Letzte. Wie fing man an? Eventuell damit: Ein Grund, warum man Asaka nie Okāsan und Otōsan beibrachte, war, weil es gelogen wäre. Das Kind würde in Zukunft schon genug durchmachen müssen. Da musste es nicht auch noch mit einer Lüge aufwachsen.
Und weil Ehrlichkeit demnach am längsten währte, sagte man dem Kind als Nächstes – nachdem man ihm die Tränen aus dem geröteten schockierten Gesicht gewischt hatte – dass seine richtige Mutter Shikome hieß.
[Scheiße!]
Asaka hatte die schönen Haare ihrer Mutter geerbt. Kazumi kämmte diese jeden Morgen für das Mädchen, bis sie sich ganz weich und geschmeidig anfühlten und ihr herzförmiges Kindergesicht umspielten.
»Ich will, dass sie irgendwann einmal richtig lang werden.«
»Bestimmt werden sie das. Wenn du dich gut um sie kümmerst, sie pflegst, dich an deine Routine hältst ...«
»Zeigst du mir, wie's geht?« Hoffnungsvolle Kinderaugen, die funkelten wie Sterne am Firmament.
»Gern.« Ein warmes Lächeln. Was Asaka zu dem Zeitpunkt noch nicht erkannte, war, dass Kazumis Lächeln von aufgewärmter Traurigkeit zeugte. Weil diesem Mädchen immer mehr Dinge gefielen, die Kazumi als erwachsene Frau mochte, aber nicht als Kind.
Da war zum Beispiel die Sache mit dem Make-up. Asaka hatte mal Kazumis roten Lippenstift unbewacht auf ihrem Schminktisch herumliegen gesehen, als sie unterwegs war, um Essen für die Familie zu holen. Das Kind hatte natürlich überhaupt keine Ahnung gehabt, wie man den Lippenstift halten musste, damit nichts verschmierte. Und dann verschlimmbesserte sie es auch noch, als sie versuchte, die überstehende Farbe wegzuwischen. Wieder sollte Kazumi ihr zeigen, wie es richtig funktionierte. Wieder sagte sie »Gern.« Wieder lächelte sie warm.
Um Asaka glücklich zu machen, schenkte die Schwarzhaarige ihr eines Tages einen eigenen Lippenstift. »Zum Üben.« Und so sehr sich das Kind auch darüber freute, es hatte einen komischen Beigeschmack. Andererseits schlug man ihr schon die Freiheit aus. War es dann fair, ihr einen solchen Wunsch zu verwehren? Im Endeffekt wählte man nur das kleinere Übel.
Nach einer Weile: Im Verborgenen vergossene Tränen. Jemand war gestorben, damit jemand anderes überlebte.
Mittendrin Kazumi, die sich insgeheim fragte, ob sie die Mitschuld am Tod des inneren Kindes trug, und deswegen bei der Beerdigung nichts sagte.
[Scheiße, Asaka!]
Schwache Kinder murkste man in Kirigakure einfach so ab. Aus Tokujirō sama wurde deshalb Asakas Sensei. Kaum hatte das Mädchen laufen gelernt, brachte er ihm Fingerzeichen bei. Das Motto: Bloß keine Zeit vergeuden! Er besaß zwar selbst kein Kekkei Genkai, kannte aber die Jutsus des Yuki-Clans. Seine Aufgabe bestand darin, ihr alles an die Hand zu geben, was sie bräuchte, um ihr Kekkei Genkai zu aktivieren. Von da an müsste sie viel üben und etwas Talent haben.
»Es ist wichtig, dass du dein Ninjutsu perfektionierst. Du hast es weniger leicht als andere Kinder. Dafür kannst du nichts, aber wenn du überleben willst, dann musst du mit dem arbeiten, was bereits in dir steckt.« Natürlich könnte sie ihr Kekkei Genkai auch einfach nie aktivieren, doch dass das mit der Zeit schwierig werden würde, war klar. Genauer gesagt: Wenn sie älter werden würde, würde sie das Nach-draußen-Verbot sowieso missachten und auf diesen Tag bereitete man sie vor, damit sie sich dann zumindest zur Wehr setzen könnte.
Doch zu Tokujirōs Erstaunen lernte Asaka überdurchschnittlich schnell. Sie redete viel davon, dass sie unbedingt Shinobi werden wollte, wenn sie schon keine Prinzessin sein konnte. Das Problem war, dass man sie nicht auf die Akademie schicken konnte. Tokujirō musste sie also weiterhin privat unterrichten und auf ein Wunder wie beispielsweise einen Kage-Wechsel hoffen, damit man ihr diesen Wunsch erfüllen konnte. Der Wechsel kam, und so wuchs der Plan heran, sie irgendwie bei den dorfübergreifenden Chunin-Auswahlprüfungen einzuschleusen, da man sich dort ein möglichst vorurteilsfreies Bild von ihren Fähigkeiten machen konnte.
Und weil er Asaka nicht das Blaue vom Himmel versprechen wollte: »Irgendwann werden Kazumi und ich nicht mehr für dich da sein können. Menschen sollten mit der Zeit gehen, und wenn diese abgelaufen ist, dann gehen sie von uns. Für dich kommt der Moment, in dem du einen Pfad in deinem Leben einschlagen musst. Willst du immer noch Shinobi werden?«
Sein ernster Blick verunsicherte das kleine Mädchen. Die Hände im Schoß gefaltet, versuchte sie, zu verstehen, worauf ihr Sensei hinauswollte. »J-ja.« Die Stimme klang nicht ganz fest. Kein Wunder. Asaka war jung und sollte über ihre zukünftige Laufbahn entscheiden. So weit war sie vielleicht noch gar nicht ...
»Hmm.« Auf den ernsten Blick folgte ein prüfender. »Ohne hohen Rang wirst du zu einem leichten Ziel werden. Du musst so schnell wie möglich aufsteigen. Deine guten Leistungen werden dich am Leben halten. Denn als Mitglied des Yuki-Clans trägst du eine Zielscheibe auf deiner Stirn. Deine Mutter ist nicht gestorben, weil sie was verbrochen hat, sondern weil sie zu schwach gewesen war, um dem Mob die Stirn zu bieten.«
»M-Mutter ...«
»Das ist die Realität, Asaka. Solang du dein Kekkei Genkai nicht perfekt kontrollieren oder verbergen kannst, wirst du immer irgendwo auf der Abschussliste stehen. Du bist kein Kanchi Taipu. Die zweite Methode scheidet also aus. Ich werd' dich unterrichten, sodass du bei den Chunin-Auswahlprüfungen teilnehmen kannst. Ob deine Teilnahme dann genehmigt wird, ist eine andere Frage. Wenn sie genehmigt wird, dann wirst du an dein Dorf gebunden sein.«
Betretenes Schweigen.
»Man wird dich kleinhalten wollen, weil man nie hundertprozentige Loyalität von dir verlangen kann. Gleichzeitig wird man dir aber so viel geben, dass du nicht wegläufst, weil du wo anders weniger bekommen würdest. Das wird passieren, wenn du Shinobi wirst. Du wirst mehr Freiheiten haben, als du sie jetzt hast. Du wirst aber auch gleichzeitig weniger Freiheiten haben als ein Shinobi des gleichen Ranges aus deinem Dorf.« Man musste ihr Freiheiten geben, damit man sie gefangen halten konnte.
Das war in Ordnung für Asaka, weil es bedeutete, dass sie zumindest irgendeine Perspektive hatte. So ganz hatte sie natürlich nicht alles begriffen, was Tokujirō zu ihr gesagt hatte, aber sie kapierte, dass es hierbei nicht mehr um irgendwelche Kinderspielchen ging. Ihr Sensei wollte unter anderem, dass sie das verstand, weil es auch noch einen weiteren Pfad gab, den sie mit ihrem Talent einschlagen könnte. Wenn sie ihrem Dorf den Rücken zukehrte, würden die Probleme das ebenfalls tun und sie weiterverfolgen.
Also übte Asaka. Sie übte viel. Sie übte fast nur und stellte bereits in jungen Jahren die meisten Mitglieder ihres Clans in den Schatten.
[Wir müssen hier weg. Schnell!]
»Komm, wir gehen los. Aber du musst immer an meiner Sei...«
»Ich weiß.« Ich weiß, dass ich nicht normal bin. Und wäre sie es, dann wäre sie nur ein Teil der Masse, der zwar mit dem Strom schwamm, aber genauso mit ihm unterging.
Unterwegs: ein Mädchen mit einer Maske im Gesicht und einem kräftig gebauten Mann an der Seite. Die Maske durfte nicht abgenommen werden, sonst wurden die Süßigkeiten für eine Woche vom Speiseplan gestrich... sonst wurde der Hausarrest verschär... sonst würde man dem Kind eine weitere Standpauke darüber halten, wie verdammt sterblich es im Vergleich zu anderen Kindern war und, dass es nur knapp mit dem Leben davon gekommen war. »Willst du leben, Asaka?«
Im Vorbeigehen: viele Menschen. Alle liefen ohne Maske herum. Alle konnten so sein, wie sie waren. Wieder paar Kinder in ihrem Alter. Erneut das Bedürfnis, fragile Bande zu knüpfen. Noch einmal eine Erinnerung daran, dass das nicht ging. Dass sie keine Freunde haben durfte. Ihr musste die Gesellschaft der Hamadas reichen. Außer, sie wurde Shinobi. Ein Ziel vor Augen habend, das den in ihr schlummernden Schmerz erträglicher machte. Vorübergehend.
Im Geschäft: »Such' dir was aus, aber du darfst die Maske auch nicht in der Umkleide abnehmen. Hast du das verstan...«
»Ja. Hab ich.«
Sie hatte was entdeckt. Tokujirō war nicht begeistert. »Das Kleid zeigt viel Bein. Du wirst dadurch in eine Schublade gesteckt werden. Manche greifen das als Einladung auf.«
»Noch eine?« Das Kinn zum ersten Mal trotzig in die Höhe gestreckt.
»Es gibt viele Schubladen ...«
»Dann such' ich mir diese eine hier aus. Ich will das Kleid haben.«
»Sicher?«
»J-ja.«
[A-Asaka ...]
Yuki Asaka war immer noch außerordentlich schön und talentiert. Aus ihr wurde eine selbstbestimmte stolze Frau. Sie war selbstbewusst, obwohl sie viele Leute für einen Dämon hielten. Ihre Haut war nichts weiter als eine Hülle, die man ihr abziehen müsste, damit das verdorbene Fleisch ans Licht kommt. Manchmal tötete sie. Eine Bestätigung des Bildes, das einige Personen von ihr hatten. Häufig half sie Menschen. Damit sich Yōkai unters Volk mischen konnten, mussten sie gelegentlich vermeintlich Gutes tun, um nicht aufzufallen. Hatte Megumi sie in Wahrheit entlarvt? Eventuell war sie der Dämon und wusste selbst nichts davon, weil die Hamadas ihr diesen Gedanken ausgeredet hatten.
»ASAKA!« Kankuros Ruf hatte die Kunoichi endlich erreicht. Sie sah mit ausdruckslosem Gesicht dabei zu, wie Sasoris in Gift getränkter Stachel am Ende des Kabels sich in Megumis Brustkorb bohrte, sodass sie abrupt die zuvor eingeatmete Luft ausstoßen musste. Wie bei einem Skorpion genügte ein Stich, damit das Toxin sich in ihrem Körper ausbreitete. Allerdings hatte Kankuro bereits so gezielt, dass das Gift der Frau maximal den Rest geben würde, weil die Verletzung an sich schon tödlich war. Er hatte es getan, um Asaka zu beschützen. Die Dorfbewohnerin hatte sie an Ichikawa Ukei weitergeleitet. Dazu hatte Asaka oft genug die Erfahrung machen müssen, dass Leute wie Megumi an ihrer Meinung festhielten, egal was man ihnen erzählte.
Die Kunoichi stolperte aus dem Spiegel heraus, die Arme fest an den Körper gepresst. Zögerliche Schritte, als müsste sie noch einmal laufen lernen. Kurzzeitig ein Piepen in den Ohren, dann wieder der unvertraut vertraute Umgebungslärm. Kankuro nahm sie an die Hand – hatte die Puppe verstaut – und so machten sie gemeinsam einen Schritt vor den anderen. Durch die Straßen. Das Gefühl habend, nicht willkommen zu sein. Von der breiten Masse abgestoßen werden ... Wie viele Menschen waren es, die sie hassten, für das, was sie war? Wie viele Menschen wollten Asakas Tod, weil sie glaubten, dass sie ein Dämon war?
Es war nicht so leicht, sich selbst einzureden, dass man KEIN Dämon war, wenn das direkte Umfeld auch als eine Art Spiegel fungierte. Eigenwahrnehmung und Fremdwahrnehmung. Eigentlich wusste die Kunoichi es besser. Nur was half das, wenn man trotzdem mit diesem hasserfüllten Blick angeschaut wurde? Es war leichter, jemanden zu töten, nachdem man ihn entmenschlicht hatte. So umschiffte man elegant den Gewissenskonflikt. Eventuell hätte sich die junge Frau eine Scheibe davon abschneiden können.
Kein Lächeln. Zu bitter schmeckte die Kost. Wir müssen hier weg! Kankuro ließ ihre Hand nicht eine Sekunde lang los. Er erinnerte sie an damals. Wenn du auf eigenen Beinen nicht stehen kannst, wie willst du dann die Welt erkunden? Der Suna-Nin war im Moment die treibende Kraft, die sie vorm Hinfallen bewahrte. Asaka war ihm dankbar, nur konnte sie das aktuell nicht richtig zum Ausdruck bringen.
Es war nicht weit, doch Asaka kam jeder Schritt nach vorn wie ein Schritt zu viel vor, der aber gemacht werden musste. Dazu kamen jedoch keine weiteren Zwischenfälle mehr. Beruhigte sie das? Glückssache! Und reichte nicht am Ende EIN Mensch aus, der bereit war, über Leichen zu gehen, weil man nicht in SEIN System passte? Ein Mensch, der zwar jetzt tot war, seine Lebenszeit aber dem Fremdenhass gewidmet hatte.
Dann waren sie da. Durch die Tür hindurch, denn wenigstens diese stand für sie offen. Sie rutschte immer tiefer die Abwärtsspirale hinab, konnte aber nicht wirklich etwas dagegen tun. Für gutes Zureden war heute einfach zu viel passiert. Der letzte Vorfall dieser Art war eine Weile her und irgendwie hatte Megumi sie so sehr aufgerüttelt, dass der Kloß in ihrem Hals immer weiter anschwoll. Würde baden gegen das Unwohlsein helfen? Den Dreck abwaschen? Danach könnte sie ihren liebsten Yukata anziehen und so tun, als wäre nichts passiert. Doch es ist passiert. Schon wieder. Jahre später. Ich muss mich mit diesen Zwischenfällen abfinden, aber es macht mich traurig, dass ich das überhaupt muss. Ich glaub ... Ich glaub, dass mich die Trauer gerade übermannt, aber vor Kankuro will ich das eigentlich nicht ... so traurig sein. Er kennt mich noch nicht so lang. Ich hab Angst, dass er es nicht verstehen wird. Dass es ihm zu viel ist. Ich kann von ihm nicht verlangen, dass er Verständnis für meine Lage zeigt, selbst wenn er das bisher immer getan hatte, und ich will ihn da auch nicht mit reinziehen. Der Marionettenspieler sah sie besorgt an. Nicht vorwurfsvoll. »Sag, wenn du etwas brauchst.« Ich brauche Halt. Ich brauche das Gefühl, okay zu sein. Ich brauche Trost. Ich brauche Liebe. Und all das könnte er mir bestimmt geben ...
»Alles gut. I-ich geh wieder raus.«
Die Tür, die für sie offen stand, schloss sich hinter ihr. Warum sie ging, wusste sie nicht. Drinnen war es stickig gewesen, aber draußen war es mindestens genauso stickig. Draußen war sie allein und drinnen wartete jemand, dem sie wichtig war. Jemand, der sich jetzt nur noch mehr Sorgen um sie machte. Vor allem weil ihm nicht entgangen war, was Megumis Angriff mit der Kunoichi gemacht hatte. Sie war komplett paralysiert gewesen. War sie irgendwie immer noch.
Was.
War.
Los.
Mit.
Ihr?
Was ist FALSCH mit mir?
Sie war den Hang hinunter gelaufen und trat auf den Steg hinaus. Setzte sich. Mit jeder verstreichenden Sekunde fühlte sie schlechter. Ihr war übel, aber sie konnte nicht kotzen. Dann war sie hungrig, aber sie würde keinen Bissen hinunterbekommen. Dann war ihr schwindelig, aber sie saß noch einigermaßen aufrecht da. Dann wollte sie schreien, aber es kam kein Ton heraus. Dann wollte sie nach ihren Haaren schauen, aber ihre Gliedmaßen gehorchten ihr nicht. Nichts funktionierte. Die Gedanken drehten sich im Kreis. In ihrem Kopf spielte sich immer wieder die Szene mit Megumi ab. Der Suna-Nin hatte sie getötet, damit Asaka es nicht hatte tun müssen. Weil sie so wieder nur das bestätigt hätte, was gefühlt jeder außer Kankuro über sie dachte.
Asaka fühlte sich so leer und mürbe, dass sie sich im Augenblick sogar einen Dämon wünschen würde, der sie als Gefäß akzeptieren und für sie das Funktionieren übernehmen würde. Wenigstens einer. Doch da keiner kam und weil sie selbst keiner war, brach all das Aufgestaute aus ihr heraus. Ein Tränenschleier, der sich vor ihre Augen legte und sie vor der Realität schützte, indem er ihr die Sicht auf diese versperrte. Ein Brennen in den Augen: gebrandmarkte Seele. Schmerz.
Schmerz.
So viel ...
Diesen-nicht-aushalten-können-aber-aushalten-müssen-weil-er-einen-nicht-umbrachte. Außerdem WOLLTE sie leben. Unbedingt. Also half nichts. Niedergeschlagenheit.
Niedergeschlagenheit; vom Drumherum niedergeschlagen werden und danach nicht mehr von selbst aufstehen können. Nah am Wasser gebaut sein, oder nah am Wasser sitzen ... Was spielte das für eine Rolle, wenn sich alles zu einem Einheitsbrei der negativen Gefühle vermischte? Das alles kam ihr irgendwie wie ein einziger großer Fiebertraum vor. Da musste sie durch. So hart und beschissen es auch war. Dazu noch die Niederlage bei der Mission. Es war ihre Chance gewesen, sich zu beweisen.
Doch ...
Da ihr die Tränen die Sicht versperrten, sah sie nicht, wie sich eine Gestalt ihr näherte. War es ein Dorfbewohner? Noch einer, der ihr Leid zufügen wollte? Einer, der sich erst neben sie setzte, einen Arm um sie legte, nur um ihr dann das Messer an die Kehle zu halten? Die Person sagte kein Wort. Es war Kankuro. Instinktiv lehnte Asaka sich gegen ihn, während er sie noch näher zu sich heranzog, bis sie fast in seinen Armen lag. Er hatte seine Kopfbedeckung abgenommen und von der Gesichtsbemalung war auch nicht mehr viel übrig geblieben. Als hätte er versucht, sie sich hastig wegzuwischen. Um ihr die Wahrheit zu zeigen? Um sich selbst ein wenig verletzlich zu machen, damit sie sich von ihm verstanden fühlte? Er hätte drinnen bleiben können, aber er war ihr nach draußen gefolgt und hatte zugelassen, dass sich dadurch für ihn ebenfalls eine Tür schloss.
Vielleicht, weil sich für SIE so neue Türen öffneten ...
Ein Windstoß, den sie vor allem an der Stelle spürte, wo ihr Kleid gerissen war. So wurde sie immer wieder daran erinnert, was heute geschehen war. Ohne, dass sie deswegen etwas sagen musste, veränderte Kankuro die Position seines Armes. Jetzt kam kein Wind mehr an die Stelle heran. Kleinigkeiten. Für Asaka waren sie teilweise wertvoller als irgendwelche große Gesten.
Er wischte ihr sorgfältig jede Träne einzeln weg, beschwerte sich aber auch nicht darüber, wenn Neue kamen und er mit der Arbeit wieder von vorn beginnen musste. Er kümmerte sich um sie. Gab ihr all das, was sie in dem Moment brauchte, doch nicht erfragen konnte, weil ihre Stimme immer noch belegt war. Also saßen sie gemeinsam am Wasser und starrten hinaus in die Ferne. Bis keine Tränen mehr folgten und es langsam dunkel wurde.
Das war der Zeitpunkt, in dem der Suna-Nin das Schweigen brach: »Asaka? Du musst die Nacht nicht allein verbringen, wenn es dir damit nicht gut geht. Mit der Einsamkeit. Aber das entscheidest du. Ich pass' auf dich auf, wenn du das willst.«
Sie nickte. Wahrscheinlich war es wirklich sicherer für sie, wenn sie die Nacht nicht allein in ihrem Bett verbrachte. Wenn sie womöglich etwas Schlaf bekäme und sich dann neu sammeln könnte. Also gingen sie wieder zurück ins Haus. Sie beließ es ausnahmsweise dabei, sich nur den Dreck abzuwaschen und sich die Zähne zu putzen, bevor sie noch einmal nach der Schürfwunde sah. Mit dieser war soweit alles in Ordnung. Dann schlüpfte sie in ihren Yukata und traf Kankuro in seinem Zimmer. Sie ließ sich erschöpft in sein Bett fallen, die Augen schon halb geschlossen. Schichtwechsel quasi. Er musste sich auch noch abschminken. Sie war fast gänzlich eingenickt, als er sich schlussendlich dazulegte und die Decke bis zu ihren Köpfen hochzog.
Anmerkungen:
Hime und Shikome:
Hime: Schöne Frau, Prinzessin
Shikome: Hässliche Frau (kann als Antonym zu Hime verwendet werden)
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top