Kapitel 7

Am nächsten Morgen wachte ich pünktlich auf und konnte deswegen auch ganz entspannt zur Bushaltestelle gehen, wo außer mir nur drei andere Leute warteten; zwei Schüler und ein älterer Herr. Schweigend stand ich da, mit Inears im Ohr, die leise Musik abspielten. Nach einigen Minuten, in denen ich leicht angefangen hatte zu frösteln, weil es für September relativ kühl war, kam endlich der Bus um die Ecke und wir stiegen ein.

Ich suchte mir einen Fensterplatz relativ weit hinten und ließ meinen Rucksack auf den Sitz neben mir fallen. Die Stirn lehnte ich gegen das kühle Glas, während meine Gedanken zur Musik schweiften, bis mich jemand antippte. Ich sah auf und blickte in dunkelgrüne Augen, die mich erwartungsvoll ansahen.

Einige Sekunden lang starrte ich Manu einfach nur an, bis ich auf seine Bitte reagierte und meinen Rucksack vom Sitz nahm, damit er sich setzen konnte. Dann wandte ich meinen Blick wieder ab und starrte aus dem Fenster, diesmal waren meine Gedanken allerdings bei dem schlanken Jungen neben mir.

Wieso hatte ich gestern nicht bemerkt, dass er im selben Bus fuhr wie ich? War er überhaupt mit diesem Bus gefahren? Immerhin war er fast zwanzig Minuten zu spät dran gewesen. Und wieso war er heute pünktlich? Oder hatte er nicht vor, rechtzeitig im Klassenzimmer aufzutauchen?

Auf all diese Fragen versuchte ich, mir eine plausible Antwort auszudenken. Dass ich die sinnvollste von Manu bekommen würde, hatte ich nicht gedacht. „Ach falls du dich fragst, warum ich plötzlich wie ein vorbildlicher, pünktlicher Schüler den Bus nehme, ich hatte heute Lust drauf. Gestern bin ich zu Fuß gegangen, dazu war es heute zu kalt. Und ich glaube, heut geh ich auch mal zusammen mit euch in den Unterricht, man muss sich ja nicht immer mit allen anlegen."

Mit leicht geöffnetem Mund sah ich ihn an und stammelte: „Was, wie...?" Grinsend antwortete Manu: „Hinter diesem verwirrten Blick grad steckt ziemlich viel. Mehr als du denkst."

Dann wandte er sich seinem Handy zu, fing an, darauf herum zu tippen und lehnte sich dann im Sitz zurück. Ich tat es ihm gleich und starrte weiter aus dem Fenster, drehte die Musik allerdings sehr leise, um zu hören, wenn Manu mich nochmal ansprechen sollte.

Oder konnte ich jetzt was sagen? Immerhin hatte er auch einfach frei heraus etwas gesagt. Aber was sollte ich ihn dann fragen oder ihm sagen, ohne seltsam zu wirken?

Gerade, als ich beschlossen hatte, Manu nach etwas Belanglosem zu fragen, sagte er: „Hey, du warst doch am Montag die ganze Zeit da." Ich nickte und er sprach weiter: „Habt ihr da schon eure Bücher bekommen?" „Ich schon", antwortete ich, „aber im Sekretariat. Die anderen sollen sie sich bei Frau Paet oder so abholen." „War ja klar dass mir das wieder keiner sagt.", murmelte Manu mehr zu sich selbst als zu mir. „Herr Funack meinte, ihr sollt zu Raum 116 und..."

„Ich brauche keine Bücher.", unterbrach mich Manu, „Es wäre nur irgendwie nett gewesen, hätte jemand was gesagt. Aber egal." „Oh, Sorry", sagte ich, „Ich dachte, du weißt es, weil das jedes Jahr so ist, sonst hätt ich schon was gesagt." „Ich wusste es", antwortete Manu, „Es geht mehr um die Tatsache, dass meine Klasse mich nur dann wahrnimmt, wenn ich ihnen vor den Lehrern den Arsch retten muss. Ansonsten bin ich denen egal."

„Mir kamen die alle recht tolerant vor...", merkte ich an, doch Manu schnaubte nur. „Naja Stegi und Tim gegenüber vielleicht. Aber die sind ja beliebt. Für mich interessiert sich ja nicht mal wer, denen ist alles egal. Ich bekomme es mit, was so über mich erzählt wird. Dich hat garantiert auch schon jemand davor gewarnt, nicht mit mir zu reden, weil ich so seltsam bin, oder?" Überrascht nickte ich. „Und du tust es trotzdem", stellte Manu fest, „Warum?"

„Weil ich das kenne. Da wo ich früher gewohnt habe, waren ich und meine Schwester wie Ausgestoßene. Unsere Eltern waren die Einzigen, mit denen wie normal reden konnten, die Leute in der Schule haben hinter unserem Rücken immer sofort angefangen zu lästern. Mütter haben ihren Kindern verboten, mit uns zu spielen oder zu reden, wenn wir an jemandem vorbei gegangen sind, der einen Hund dabei hatte, durfte der uns nicht beschnüffeln. Es war als hätten wir eine ansteckende Krankheit."

„Habt ihr aber nicht.", stellte Manu fest. „Nein", antwortete ich, „wir sind nur einfach anders." „Anders?", fragte Manu nach. „Ich bin pansexuell und meine Schwester Transgender.", antwortete ich und warf Manu einen kleinen Seitenblick zu. Dieser verdrehte die Augen und murmelte: „Daran sieht man mal wieder wie bescheuert die Menschheit eigentlich ist." „Also ist sowas für dich okay?", fragte ich vorsichtig. „Sollte es wohl", antwortete Manu, „immerhin bin ich selbst 'betroffen'." Bei dem Wort betroffen formte er Gänsefüßchen mit Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand.

„Inwiefern?", fragte ich mit hochgezogener Augenbraue und Manu antwortete mit geheimnisvoller Stimme: „Das sogenannte Phänomen Bisexualität.", während er mit den Fingern irgendwelche Bewegungen machte, die wohl Magie signalisieren sollten. Bei seinem seltsamen Gesichtsausdruck musste ich lachen und auch Manu stimmte mit ein.

Sein Lachen war wunderschön. Wenn ich zurück dachte, hatte ich ihn bis jetzt noch nie wirklich lachen sehen. Nur immer dieses arrogante Lächeln, wenn er wieder mit einem Lehrer fertig war. Leise flüsterte Manu: „Wow... Ich wusste nicht, dass ich das noch so gut kann." „Was?", fragte ich überrascht. „Lachen!", antwortete der Braunhaarige mit leicht paralysiertem Gesichtsausdruck. „Ich weiß nicht, wie lang das jetzt her ist, dass ich ehrlich gelacht habe..."

Nachdenklich stellte ich fest: „Ich glaube, du machst es dir selbst schwer. Dieses Arrogante, das du in der Schule immer an dir hast, schreckt die Leute von dir ab. Wenn du damit aufhörst, wären sie vielleicht freundlicher." „Ich kann nicht so gut mit Leuten umgehen. Also zumindest nicht, wenn ich freundlich sein muss. Die Leute lügen zu viel. Du bist ehrlich, das ist was Besonderes. Und ich rede nicht gern mit Leuten, die mir ins Gesicht lügen."

„Das ist total verrückt.", murmelte ich. „Was?", fragte Manu. „Naja, du bist der schlauste Mensch, dem ich bis jetzt begegnet bin. Du weißt um Längen mehr als meine Schwester und die geht auf eine Hochbegabtenschule. Und dein größtes Problem ist, dass die Leute dich anlügen?"

„Nicht jetzt, ja?", fragte Manu und ich nickte. Er war wohl empfindlich bei diesem Thema. Kurz schüttelte er den Kopf, wie um einen unangenehmen Gedanken los zu werden, dann fragte er: „Hast du schon mal die Schule geschwänzt?" „Ja, aber ich hatte eigentlich nicht vor, hier wieder damit anzufangen", antwortete ich.

„Dann machen wir es eben auf die professionelle Art, ich werde krank und du gehst mit mir raus. Und keine Wiederrede. Du erscheinst mir vertrauenswürdig, also werde ich dir etwas zeigen. Fühl dich geehrt, die einzige andere Person, der ich vertraue, ist mein Opa."

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