Kapitel 4

Als ich aufwachte, schien mir die Sonne direkt ins Gesicht. Ich hatte am Abend vergessen, die Jalousien herunter zu lassen, also war der Raum lichtdurchflutet. Seufzend stand ich auf und zog mir meine Hose von gestern und den Hoodie, den Palle mir geliehen hatte an. An Schlaf war jetzt sowieso nicht zu denken, also konnte ich auch einfach aufstehen.

Gerade als ich ins Bad hatte gehen wollen, hörte ich ein leises Klirren und kurz darauf ein Fluchen aus Palles Zimmer. Erschrocken lief ich durch den Gang zu seiner Zimmertüre, doch im selben Moment, als ich diese hatte öffnen wollen, riss Palle sie auf und rannte mir direkt in die Arme. Kurz verspannte ich mich, doch dann hatte ich die Kontrolle über meinen Körper wieder und machte einfach einen winzigen Schritt zurück um zumindest einen kleinen Abstand zu halten. Dann fiel mir auf, was Palle in den Händen hielt und augenblicklich musste ich leise lachen. Anscheinend hatte er eine Schüssel zerschmissen, denn gerade brachte er einen Haufen Scherben in die Küche.

Mit verschlafenem Blick sah er mich kurz fragend an, dann schien er sich daran erinnert zu haben, dass ich ja zu Besuch war, denn er grinste kurz entschuldigend und lief dann mit seinen Scherben weiter zum Mülleimer. Langsam folgte ich ihm in die Küche. Nachdem die zersprungene Schüssel in einige Lagen Küchenpapier eingewickelt und entsorgt worden war, beschlossen wir, uns Frühstück zu machen, also schob ich ein Blech Aufbackbrötchen in den Ofen, während Palle nochmal kurz in seinem Zimmer verschwand, um sich etwas anzuziehen. Insgeheim hätte ich nichts dagegen einzuwenden gehabt, wenn er oberkörperfrei am Tisch gesessen hätte, doch das konnte ich ihm ja schlecht unter die Nase reiben, also deckte ich in der Zwischenzeit noch den Tisch, bis er endlich wieder in die Küche kam und mich entschuldigend ansah.

„Der Hoodie wollte nicht so, wie ich wollte...", murmelte er verschlafen und ich musste bei der Vorstellung, wie Palle verzweifelt versuchte, einen Hoodie falsch herum anzuziehen, grinsen. Zusammen setzten wir uns an den Küchentisch und begannen, die Brötchen zu verschlingen.

Irgendwann fragte Palle: „Wann musst du eigentlich zurück?" Erschrocken sah ich ihn an, als mir plötzlich wieder einfiel, dass ich ja heute wieder gehen musste. „Äh ja, also heute, wenn... wenn du willst, dann auch jetzt, also ich wollte dich nicht belästigen..." „Nein, tust du nicht!", unterbrach Palle mich, „Ich meinte eigentlich, dass du auch länger bleiben kannst, also wenn du willst. Wir haben ja noch eine Therapie vor uns." Den letzten Satz sagte er mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen, das man einfach erwidern musste. „Also ich bleibe gerne noch länger, wenn du damit kein Problem hast!", antwortete ich erleichtert und Palle nickte zustimmend.

Den restlichen Morgen verbrachten wir damit, abzuwaschen und zu reden. Über alles Mögliche, meine Ängste, darüber, dass ich sie gestern überwunden hatte, aber auch über YouTube, mögliche neue Projekte und einfach zukünftige Aufnahmen. Es tat gut, mit ihm zu reden und dabei nicht wie sonst einen Computer, sondern einen echten Menschen vor mir zu sehen. Und langsam schien ich mich tatsächlich an seine Anwesenheit zu gewöhnen.

Ich erschrak nicht jedes Mal, wenn er ein unerwartetes Geräusch machte und hörte auf, mir jeden Satz vorher im Kopf perfekt zurecht zu legen, um auf keinen Fall einen Fehler zu machen, sondern sprach immer öfter einfach aus, was ich dachte. Palle schien es nicht einmal wirklich aufzufallen, was ich als gutes Zeichen nahm.

Nachdem wir uns zu Mittag Nudeln gekocht hatten, beschloss Palle, mich mit nach draußen zu nehmen. Sofort schüttelte ich den Kopf und sah ihn entrüstet an. „Also ich mein ja nur...", fing Palle an, aber ich unterbrach ihn: „Nein! Ich... ich geh doch da nicht freiwillig nochmal raus! Schon als die Evakuierung war da... die Leute sind rum gerannt... und Babys haben geschrien, jeder war hektisch, ich wurde angerempelt..."

Während ich redete, kamen alle Erinnerungen an diesen schrecklichen Tag wieder in mir hoch. Die Hektik, die Schreie, die Berührungen, die ängstlichen Gesichter. Und meine eigene Angst. Das Gefühl zerquetscht zu werden, inmitten der Leute, und der Druck, nicht zusammen zu brechen und zu schreien. Immer deutlicher sah ich alles vor Augen, dass ich in Wirklichkeit immer noch in Palles Küche saß, wo ich die Beine angezogen hatte und immer heftiger zitterte, nahm ich nicht mehr wahr, die Bilder in meinem Kopf waren zu gegenwärtig.

Plötzlich rüttelte mich jemand an der Schulter. Erschrocken sah ich auf und blickte in Palles besorgtes Gesicht. „Manu", begann er vorsichtig, „Ich weiß, dass das schlimm war. Aber die Leute da draußen haben keine Angst vor irgendetwas, es ist alles gut, keiner schreit, keiner rennt vor irgendwas weg, die Leute gehen ganz normal. Du wirst nicht ständig angerempelt und ich pass auf dich auf." Ich machte mir lange Gedanken über Palles Worte.

Das ganze Mittagessen über dachte ich nach und schließlich stimmte ich zu. Wenn ich wieder nach Hause fuhr, würde keiner da sein, der mich mit nach draußen nahm, der mir die Stadt zeigte und mich langsam und vorsichtig zurück ins Leben führte. Zu Hause war ich auf mich selbst gestellt, also sollte ich Palles Hilfe hier annehmen, also machten wir uns, nachdem wir aufgegessen hatten, auf den Weg nach draußen. Ich versteckte mich schon im Treppenhaus unter der Kapuze meiner Jacke und ging einige Schritte hinter Palle, aber ich war auch neugierig.

Sofort als wir auf die Straße traten, schlug uns kalte Luft entgegen. Instinktiv zog ich den Kopf ein und lief Palle nach, der mir jetzt die Umgebung zeigen wollte. Er schien allerdings belebte Plätze zu meiden, da wir nur sehr wenigen Leuten begegneten, die aufgrund der Kälte oft genau wie ich ihr Gesicht unter Kapuzen oder Mützen verborgen hatten. Wieder wurde mir die Anonymität einer Großstadt bewusst. Hier interessierte sich niemand für mich. Ich könnte in den bescheuertsten Klamotten hier herumlaufen, im Prinzip könnte ich auch nur in einer Boxershorts raus gehen, die Leute würden mich vielleicht einmal schief anschauen und dann weiter gehen.

Ich war nicht im Zentrum sondern in einer Art Vorort einer Großstadt aufgewachsen, wo jeder jeden gekannt hatte. Wenn man dort auch nur einmal etwas Seltsames getan oder gesagt hatte, wurde direkt überall darüber geredet und die Leute sahen einen immer mit einem abgeneigten Blick an. Um dort anders sein zu können und sich vom Rest der Welt abzuheben, brauchte man wirklich ein starkes Selbstbewusstsein, welches ich damals noch nicht und heute nicht mehr hatte.

Je weiter wir durch die Straßen liefen, desto wohler fühlte ich mich. Mir wurde klar, dass es keinen Unterschied machte, in welcher Großstadt ich mich befand, egal ob hier in Köln oder zu Hause in Essen, die Leute interessierten sich nicht für mich und im Gegensatz zu manch anderen, die genau deswegen in kleinere Orte zogen, gefiel mir diese Distanz.

Irgendwann holte ich einige Schritte auf, um neben Palle zu laufen und erzählte ihm von meinen Gedanken. Auf Palles Gesicht machte sich ein Grinsen breit und erleichtert sah er mich an. „Siehst du?", fragte er dann, „Es ist nicht schwer. Du musst dich nur trauen!" Dann liefen wir weiter. Irgendwann schlug der Kleinere vor, auf einen etwas belebteren Patz zu gehen. In mir kroch schon wieder die Panik hoch, was man mir wohl ansehen konnte, denn Palle nahm einfach meine Hand und verschränkte unsere Finger.

Dann liefen wir weiter. Und im Gegensatz zu gestern machte mir die Berührung nichts mehr aus. Im Gegenteil, sie gab mir eher den Mut, der nötig war, um weiter zu laufen und schließlich den Domplatz zu betreten. Einen Moment lang blieb ich stehen und starrte völlig überwältigt all die Menschen an, die um uns herum wuselten. Es war, als könnte ich ihre Anwesenheit spüren, wie eine Art Aura, die den Platz umgab. Vorsichtig ging ich einen winzigen Schritt nach vorne.

„Was sollen wir jetzt machen?", murmelte ich betreten und sah mich erwartungsvoll zu Palle um. „Wir könnten den Dom besichtigen.", schlug dieser vor und ich bejahte erleichtert. Auf unserem Weg durch die Leute achtete ich peinlich genau darauf, nicht mit fremden zusammen zu stoßen, doch immer wieder passierte es, dass jemand, der rücksichtslos unterwegs war und nicht wirklich darauf achtete, wo er hin lief gegen mich stieß. Jedes Mal, wenn das passierte, sprang ich vor Schreck einen guten halben Meter zur Seite und klammerte mich an Palles Hand. Er hingegen blieb ganz ruhig und ermutigte mich immer wieder zum Weitergehen, sodass wir nach einer gefühlten Ewigkeit endlich am Dom angekommen waren.

Während wir die Stufen hinauf stiegen, sahen wir nur zwei Leute, scheinbar wollten kaum Leute hier rauf, durchaus verständlich bei dem eisigen Wind, der den Dom umwehte, doch das machte mir herzlich wenig aus, da die Aussicht einfach überwältigend war. Schon immer hatte ich es geliebt, mir die Welt von oben anzusehen und war deswegen auch schon als Kind immer gerne geflogen. Verträumt ließ ich meinen Blick über die Hausdächer unter uns gleiten, als ich hinter mir ein lautes quietschen hörte und mich ruckartig umdrehte.

Dort stand ein Mädchen, es war wohl etwas jünger als wir und fragte uns aufgeregt: „Seid ihr ein Pärchen?" „Nein, das hier", antwortete Palle und hob unsere verschränkten Finger kurz hoch, „ist eher so ne Art Therapie für seine Berührungsängste." Der Blick des Mädchens änderte sich von aufgeregt zu enttäuscht und schließlich besorgt. Dann sagte sie an mich gewandt: „Das schaffst du!" Schließlich drehte sie sich um und machte Anstalten zu gehen, rief uns dann allerdings über die Schulter zu: „Schade! Ihr wärt voll süß zusammen!", dann verließ sie endgültig die Plattform und ließ uns verwirrt zurück.

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Yess, mein Wattpad mag mich nicht. Und weil dieser Part schon vorgestern hätte kommen sollen, gibts heute eben zwei Kapis ^^

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