Kapitel 16


Manus Aussage schockierte mich, aber ich konnte auch verstehen, was er meinte. Wenn ich mir vorstellte, jeden Tag acht Stunden lang am Schreibtisch zu sitzen und irgendwas in eine Computertastatur zu hämmern, dann konnte ich sofort verstehen, warum so viele Leute mit ihrem Job nicht zufrieden waren.

Noch bevor ich etwas zu Manus Monolog sagen konnte, meldete sich der Braunhaarige erneut zu Wort und erklärte: "Bitte versteh das jetzt nicht falsch. Inzwischen geht es mir wieder einigermaßen gut was die Sache angeht. Ab der neunten Klasse wurde ich in der Schule wieder in Ruhe gelassen aber ich hab eben auch niemandem mehr vertraut. Und der Tod meiner Mum... ich denke das wird mich immer irgendwie belasten aber ich habe mich damit abgefunden, dass es passiert ist und ich damit leben muss. Und dir davon zu erzählen hat mir schon echt geholfen. Was mich im Moment am meisten stört ist leider echt mein Vater, weil er mich so unter Druck setzt. Und ich bin mir sicher, dass meine Mum das auch nie gewollt hätte."

Sowohl Manu als auch ich hingen einige Zeit lang schweigend unseren Gedanken nach, als sich der Jüngere zu Wort meldete: „Ich weiß, das war jetzt ein bisschen viel auf einmal, wenn du willst kann ich dich auch erst mal in Ruhe lassen- " Er hatte noch weiterreden wollen, doch sofort fiel ich im ins Wort und antwortete: „Manu, bitte sag das nicht immer. Du bist echt nett und lustig, wir verstehen uns wirklich gut und ich bin unglaublich froh, mit dir in einem Zimmer zu leben. Ich habe noch nie jemandem so viel von mir erzählt und noch nie hat mir jemand so viel anvertraut wie du. Du bist jetzt schon, nach so kurzer Zeit in der wir uns kennen der beste Freund den ich je hatte und ich will auf keinen Fall, dass du mich in Ruhe lässt oder weniger redest oder sonst was. Es ist toll wenn du da bist, also bitte glaub nicht, dass du mich störst!"

Ich wollte noch so viel mehr sagen, doch Manu, der sich auf mich stürzte und mich in eine feste Umarmung schloss unterbrach mich. Lange saßen wir einfach nur da, umarmten uns und keiner sagte etwas, doch es fühlte sich richtig an. Ich hoffte sehr, dass meine Anwesenheit Manu Kraft gab und ich ihm irgendwie helfen konnte, diese ganzen Verwicklungen zu klären.

Irgendwann fragte ich leise: „Manu, würdest du mir mal was auf dem Klavier vorspielen?" Überrascht sah er mich an und ich fürchtete schon, zurückgewiesen zu werden, da nickte der Braunhaarige, sprang auf und antwortete: „Klar, was willst du denn hören?", während er zur Zimmertüre lief. „Was, jetzt noch?", fragte ich perplex, „Wir dürfen doch nicht mehr aus den Zimmern."

„Ach das", beschwichtigte Manu, „das war noch nie ein Problem. Was glaubst du denn, wohin ich nachts die ganze Zeit abgehauen bin? Die Musiksäle sind jetzt zwar abgesperrt, aber es gibt einen kleinen Abstellraum in dem alte Instrumente gelagert sind, den benutzt nie jemand und irgendwer hat anscheinend mal vergessen, ihn abzuschließen. Und weil der Raum so abgelegen ist, dass einen da keiner hört, spiele ich da nachts immer Klavier."

Beeindruckt nickte ich, stand auf und tappte Manu hinterher auf den dunklen Flur. Inzwischen war die Sonne komplett untergegangen, also hatte Manu die Taschenlampe an seinem Handy eingeschaltet, während wir versuchten, so leise wie möglich an den Zimmertüren unserer Mitschüler vorbei zu schleichen.

Irgendwie hatte es etwas gleichsam Aufregendes und Gruseliges, durch die dunkle, verlassene Aula zu laufen und ich war froh, dass Manu bei mir war und selbstsicher voranging. Wir liefen durch den Gang mit Musikzimmern und gelangten schließlich an eine kleine Tür, von der ich noch nie wirklich Notiz genommen hatte. Vorsichtig drückte Manu die Klinke herunter und trat dann gefolgt von mir in den kleinen Raum.

Vorsichtig schloss ich die Türe hinter mir wieder und sah mich dann im Licht der Handytaschenlampe um. An allen Wänden standen Regale, in denen sich die verschiedensten Dinge stapelten. Von kaputten oder nicht genutzten Instrumenten über Ersatzteile bis hin zu Notenstapeln war hier alles, was man sich vorstellen konnte. In einem Eck stand eine Pauke mit einem großen Riss in der Schwingungsmembran, das Regal daneben war vollgestopft mit Ordnern und Ablagefächern, aus denen Notenblätter quollen. Es gab Kisten voller Ersatzsaiten für alle möglichen Streichinstrumente, und überall lagen oder standen eingestaubte Instrumente, aus denen sich die Musikbegeisterten Schüler des musischen Zweigs wahrscheinlich eines aussuchen und lernen durften.

Und inmitten dieses Durcheinanders stand ein altes, ramponiert aussehendes aber völlig staubfreies Klavier. Als er meinen interessierten Blick bemerkte, erklärte Manu: „Bei den meisten Sachen hier hab ich keine Ahnung wo sie her kommen aber das Klavier war vor ein paar Jahren noch im Musiksaal drei, bevor es dann zu alt geworden ist und die Schulleitung beschlossen hat, dass sie ein neues finanzieren. Als ich den Raum entdeckt hab, war das Teil echt schlimm verstimmt, also hab ich mit YouTube Videos versucht, mir selbst beizubringen, wie man das selbst wieder einigermaßen hin bekommt. Das hat dann auch irgendwann halbwegs funktioniert und seitdem komme ich hier immer zum Spielen her. War echt nicht leicht, sich zwischen den ganzen Bauteilen noch auszukennen..."

Kurz schwebte Manus Blick irgendwo in der Ferne, bevor er merkte, dass er sich in seinen Erzählungen verlor und fortfuhr: „Naja wie auch immer, inzwischen ist es ganz gut gestimmt und ich spiele echt gerne darauf." Dann sah er mich fragend an und murmelte etwas betreten: „Ist... ist es okay, wenn ich etwas selbst erfundenes spiele? Mir ist letztens eine schöne kleine Melodie eingefallen, über die ich gerne ein bisschen Improvisieren will."

„Klar", antwortete ich sofort, „das würde ich echt gerne hören!" Ich sah Manu an, dass ihn meine Begeisterung erleichterte und schnell setzte er sich auf den kleinen Hocker vor dem Klavier. Dann sah er mich an und erklärte: „Ich spiele am liebsten im Dunkeln, dann fällt es mir leichter, zu improvisieren. Das lässt sich schwer beschreiben, aber wenn ich nichts sehe, dann ist die Musik irgendwie... intensiver." Ich nickte überrascht, da schaltete der Jüngere schon das Licht aus und der Raum wurde in völlige Dunkelheit getaucht.

Meine Augen gewöhnten sich recht schnell daran und das wenige Mondlicht, das durch ein kleines Fenster in den Raum drang reichte aus, um zu erkennen, dass Manu seine Finger vorsichtig auf die Tasten legte und begann, mit der rechten Hand eine kurze Tonfolge zu spielen. Sie gefiel mir und ich trat etwas näher, um dem Jüngeren besser zusehen zu können. Er wiederholte die Melodie ein paarmal mit kleinen Variationen, bevor er begann, auch mit der linken Hand zu spielen.

Anfangs hatte ich noch versucht, den dünnen Fingern des Braunhaarigen, die über die Tasten flogen zu folgen, doch jetzt gab ich es auf und ließ mich einfach nur von den wundervollen Tönen überwältigen. Und schon bald merkte ich, was Manu damit gemeint hatte, dass die Musik im Dunklen intensiver war. Ohne etwas zu sehen, waren es nur die Tonfolgen die ich hörte, die ein Bild vor meinem inneren Auge erschufen. Manus Musik war bunt und farbenfroh, machte fröhliche Sprünge, wurde schneller und langsamer, wirbelte herum, flüsterte, jubelte und schaffte es vor allem, mich mitzureißen.

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