Kapitel 9 • Emilia •
Die Sonne ist bereits lange aufgegangen, als ich meine Augen öffne und feststelle, dass Mauro sich nicht mehr im Bett befindet. Das Zweite, was ich bemerke, ist, dass die Yacht in Bewegung ist.
„Hab' ich so lange geschlafen?" Um keine weitere Sekunde zu verlieren, greife ich nach frischer Unterwäsche und begebe mich auf Kurs zur Dusche.
Wie in den letzten Jahren antrainiert, stelle ich das fließende Wasser auf die kälteste Stufe. Es prasselt auf mich herab, lässt die Nachwirkungen des Alkohols und die Gedanken an unsere verschwitzen Körper schnell verfliegen.
Frisch geduscht und angezogen, bin ich bereit, ihm unter die Augen zu treten. Ob ich es bereue, meine Prinzipien über Bord geworfen zu haben? Nein, definitiv nicht. Nach langer Zeit konnte ich endlich spüren, spüren, dass ich am Leben bin. Ich war in der Lage, zu vergessen. Eine Nacht, in der ich Giona entfliehen konnte.
An Deck angekommen, legen wir bereits am Hafen an. Obwohl er aufmerksam das Tau am Poller befestigt, nimmt er meine Anwesenheit unverzüglich wahr.
„Buon giorno", begrüßt er mich zurückhaltend. Ich setze meinen Gang fort, mache auf angemessenen Abstand halt.
„Buon giorno." Leicht nervös beiße ich auf meine Unterlippe.
„Wenn du bereit bist."
„Ja, lass uns aufbrechen", unterbreche ich ihn eine Spur zu forsch.
„Ich muss nur meine Tasche holen", hänge ich zurückhaltend an. Prompt verschwinde ich noch einmal, um meine Tasche zu holen.
Die Autofahrt verläuft schweigsam, bis zu dem Moment, als er beschließt, die Stille zu brechen: „Wie hast du geschlafen?" Ich hatte nicht vor, über die letzte Nacht zu sprechen. Zugegebenermaßen reicht es auch völlig aus, mir selbst einzugestehen, dass ich schon lange nicht mehr so friedvoll geschlafen habe. Ich habe nicht das Verlangen, ihm darauf zu antworten.
„Wann fahren wir zum Flughafen?", frage ich stattdessen. Seine Gesichtszüge ändern sich schlagartig. Anstatt mir zu antworten, wird sein Griff um das Lenkrad fester. Seine Handknöchel treten weiß hervor und er beschleunigt so stark, dass ich zurück in den Sitz gepresst werde.
„Wenn du sterben möchtest, bitte. Aber lass mich vorher aussteigen."
„Du bist sicher!", brummt er mir zu und biegt mit ein paar km/h zu viel um die Kurve. Die Straße zum Anwesen ist nicht gepflastert und so bricht das Auto leicht aus.
„Das ist nicht der Flughafen!", stelle ich panisch fest.
„Du hast es vergessen, nicht wahr?", erwidert er überrascht. Prompt bringt er das Auto in der Einfahrt zum Stehen. Die Fragezeichen, die über meinem Kopf schweben, lassen keine Zweifel offen, dass ich schlichtweg nicht weiß, was er damit meint. In seinem Blick liegt eine Strenge, die es mir unmöglich macht, klar zu denken.
„Du hast vergessen, was ich dir gesagt habe."
„Wir haben uns viele Dinge gesagt. Du musst schon genauer werden."
„Ich werde dich nicht gehen lassen." Hysterisch lache ich auf, es kann sich schließlich auch nur um einen dummen Scherz handeln. Nonchalant lässt er seine Hand in die Sakko-Innentasche gleiten und zieht einen Reisepass hervor. In der vollen Panik öffne ich meine Tasche, durchwühle sie hektisch, nur um sie dann vor lauter Frust komplett umzukippen. Er hat es gewagt in der Zeit auszusteigen und mich alleine in seinem Wagen zurückzulassen. Er war an meiner Tasche und hat sich meinen Reisepass angeeignet. Fassungslos steige ich aus dem Auto. Von meinem Groll geleitet, verpasse ich ihm eine schallende Ohrfeige. Mein Handabdruck ist sofort sichtbar und sein schockierter Blick, der darauf folgt, lässt mich kalt.
„Der Reisepass wechselt jetzt seinen Besitzer!", verlange ich stinkwütend. Um ihm das Ganze leichter zu machen, strecke ich meine Hand aus.
„Mauro, jetzt!" Er versteht den Ernst der Lage nicht. Verzweiflung macht sich breit.
„Er wird mich finden und ..." Ich kann die Tränen nicht mehr zurückhalten und so rinnen sie unaufhaltsam meine Wangen entlang. Geschlagen wende ich mich ab und registriere, dass sich jemand auf uns zubewegt.
„Mauro, du solltest reinkommen. Es gibt etwas zu besprechen."
„Kann das warten?", flucht Mauro entnervt.
„Nein", beharrt der Mann. Die Situation ist, abgesehen davon, dass sie aussichtslos ist, mir schlichtweg unangenehm. Wie zuvor auch Dario, wirft mir dieser voll tätowierte Muskelprotz einen verurteilenden Blick zu.
„Hol Giulia, sie soll sich um sie kümmern."
„Die Kleine braucht jemanden, der ihr die Hand hält? Und da denkst du, Giulia ist die richtige Wahl?", fragt dieser Kerl belustigt.
„Na, mach schon."
„Sicher? Selbst Kakteen gehen bei ihr ein", hakt er noch einmal grinsend nach.
„Ich brauche keinen Babysitter", werfe ich ein und bewege mich süffisant Richtung Eingangstür. Das Murmeln hinter mir blende ich dabei aus. Kurz bevor ich die Tür erreiche, geht sie auf und ein weiterer Schönling tritt heraus. Er wendet sich mir direkt zu: „Und du bist?"
„Eine Gefangene." Monoton gehe ich an ihm vorbei und trete ins Haus.
„Mauro, kannst du mir das erklären?" Höre ich den Schönling gerade noch fragen, ehe ich außer Hörweite bin. Ehrlich gesagt interessiert es mich auch nicht. Es interessiert mich nicht, wie es weitergeht, denn ohne meine Papiere habe ich keine Möglichkeit, das Land zu verlassen. Trostlos erreiche ich mein „Gästezimmer" und sobald die Tür ins Schloss gefallen ist, rutsche ich an der Tür herunter und lasse meinen Tränen freien Lauf.
Keine Ahnung, wie viele Tränen ich letztendlich vergossen habe. Wie oft ich mir aus Wut in die Armbeuge gebissen habe und wie laut ich immer wieder ins Kissen geschrien habe, bis ich erschöpft in einen unruhigen Schlaf gefallen bin.
... Alptraum ...
„Tu das nicht, bitte!", flehe ich wiederholt.
„Ich werde dich von der Sünde befreien!"
„Ich tu' alles, was du willst!" Zwei Handlanger oder Soldaten, wie er sie nennt, betreten den Raum. Ich weiß, dass das, was mich erwartet, nichts im Vergleich zu dem ist, was meinen Eltern widerfahren ist. Immer wieder versuche ich Giona zu erreichen, meinen Giona, der Himmel und Hölle versetzt hätte, um mich in Sicherheit zu wissen. Doch nun ist er es selbst, von dem die größte Gefahr ausgeht.
„Ruft mich, wenn es getan ist", befiehlt er kalt. Verächtlich blickt er auf mich herab und ich versuche es ein weiteres Mal.
„Bitte, es ist unschuldig! Es sind meine Sünden!"
„Ich habe dich wirklich geliebt." Es sind die letzten Worte, die er an mich richtet, bevor er den beiden zunickt und den Raum verlässt.
Zu wissen, nicht entkommen zu können, dass das Unvermeidliche unumgänglich ist, lassen Sicherungen durchbrennen. Panik, die sich in jeder einzelnen Zelle des Körpers ausbreitet. Angst, die so groß ist, von dem, was kommen wird, dass eine Kugel zwischen den Augen ein Akt der Gnade gewesen wäre. Es spielt keine Rolle, wie sehr ich weine und bettle. Wie ich auf allen Vieren flehe. Diese Männer sind darauf abgerichtet.
Der erste Schlag sitzt so gut, dass ich fortan in einer anderen Sphäre existiere. Es sind nur kurze Momente, in denen ich in die Realität zurückkehre und dumpf spüre, wie sie mich schänden, immer und immer wieder. Der Geschmack und der Geruch von Eisen brennen sich in mein Gedächtnis. Ich weiß nicht, wie lange es tatsächlich gedauert hat.
Aber es ist vorbei.
Ich habe dich verloren, bevor ich dich kennenlernen konnte. Eine Träne des Dankes, dass es dich gab. Eine Träne der Freude, für die Zeit mit dir. Eine Träne des Schmerzes, weil du so fehlst. Eine Träne der Gewissheit, dein Platz bleibt leer. Eine Träne der Liebe, aus meinem Herzen wirst du nicht gehen.
Ein Schmerz größer als alles, was ich bis jetzt erdulden musste, holt mich ins Hier und Jetzt zurück. Ich schreie mir die Seele aus dem Leib und es ist verbranntes Fleisch, welches ich rieche, bevor ich endgültig das Bewusstsein verliere.
... Alptraum Ende ...
„Shhh, alles gut." Es ist Mauro, der mich fest an seine Brust schmiegt. Das Zittern lässt langsam nach, aber die stummen Tränen sind noch nicht bereit zu versiegen. Unerreichbar erscheint mir das Ziel zu heilen. Der Schmerz in meinem Herzen zu überwinden.
„Shhhh." Seine regelmäßige Atmung und seine Hand, die immer wieder durch meine Haare streichelt, beruhigen mich allmählich. Wir verharren weiter in der Position, bis ich die Kraft gefunden habe, mich zu lösen.
„Mauro, du musst mich gehen lassen", sage ich mit gefestigter Stimme. Auch wenn mir sein Blick etwas anderes sagt, bin ich nicht bereit, von meinem Standpunkt abzurücken.
„Emilia, ich kann dich nicht gehen lassen. Ich muss dich in Sicherheit wissen und das geht nur, wenn du in meiner unmittelbaren Nähe bist."
„Du kennst mich doch überhaupt nicht", widerspreche ich verzweifelt.
„Ich habe das Bedürfnis, dich zu beschützen."
„Du kannst mich vor der Hölle und seinem Herrscher nicht beschützen", schwankt meine Stimme.
„Du weißt nicht, zu was ich fähig bin."
„Ich weiß sehr wohl, zu was Männer wie du fähig sind."
„Dann sag mir, wen du für den Teufel hältst." Keiner weiß den wahren Grund, warum ich den Vergeltungsschlag gegen Giona und Alfredo ausführte, nicht einmal die Polizei. Keiner weiß, in welchem Verhältnis ich wirklich zu Giona stand. Niemand außer Alfredo, Giona, seinen Handlangern und mir weiß, was er mir angetan hat, nachdem meine Eltern getötet worden sind.
„Ich habe ihn verraten", rutscht es mir raus. Er schaltet sofort: „Pentito! Die neue Information bringt ihn aus der Fassung. Die Erkenntnis, dass ich eine Verräterin bin, lässt ihn kochen.
„Wenn hast du verraten?", will er unverzüglich wissen.
„Rede!", pocht Mauro auf eine Antwort. Ich stehe da wie gelähmt.
„Gut, dann behalte es für dich!", schleudert er mir noch entgegen, bevor er das Zimmer wutentbrannt verlässt. Ich möchte hier weg und das jetzt gleich.
Die Realität sieht anders aus, denn als er die Tür hinter sich schließt, dreht er den Schlüssel und sperrt mich ein.
Sechs Wochen später
Einige Wochen sind vergangen, in denen ich mein Gefängnis nicht mehr verlassen durfte. Mauro kam kein einziges Mal, um mich aufzusuchen, stattdessen kam Giulia. Sie versorgt mich mit Modezeitschriften und nimmt meine dreckige Wäsche mit. Gesellig ist sie nicht wirklich, denn sie beteuert immer wieder, dass: „Er kommen wird, wenn ich bereit bin zu reden."
Frisch bereitete Speisen und ausreichend Wasser bringt mir der Schönling, der sich Enea nennt. Mit ihm kann ich mittlerweile sogar ein Gespräch führen.
„Wie geht es dir?", erkundigt er sich besorgt.
„Mir würde es besser gehen, wenn ihr mich gehen lassen würdet." Er mustert mich, was mich noch mehr in die Verzweiflung treibt.
„Ihr sperrt mich grundlos ein", appelliere ich an ihn.
„Emilia", kommt über seine Lippen und es hört sich an wie ein Aufgebot.
„Bitte Enea, hilf mir." Ich muss weiterhin versuchen, mich mit ihm gut zu stellen. Er könnte mir helfen.
„Es tut mir leid, ich kann ..." Ich nehme seine Hände in die meinen und er verstummt.
„Bitte." Seine Augen erweichen, während sein Blick auf unseren verschränkten Fingern ruht.
„Ich werde mit ihm sprechen. Ich kann dir nichts versprechen." Überwältigt über meinen kleinen Erfolg, falle ich ihm um den Hals.
„Danke." Auch er schlingt seine Hände in eine Umarmung um mich. Er verweilt etwas länger als nötig in dieser Position, ehe er sich löst und die Tür öffnet.
„Halte noch etwas durch.Kannst du das für mich machen?" Sein Lächeln ist umwerfend und so kann ichnicht mehr tun als zu nicken.
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