Kapitel 4 • Emilia •

Ich lasse mich nicht besänftigen, nicht dieses Mal. Es gibt nun keinen Zweifel mehr, dass der Tag gekommen ist, an dem Giona meinen Aufenthaltsort herausgefunden hat. Es ist die Angst, die mich vorantreibt. Die Angst, nicht zu wissen, wie weit er seinen Plan bereits in die Tat umgesetzt hat. Wie weit der Abstand zwischen uns ist. Der Abstand, der mich von seinen dunklen Absichten trennt.

„Du kannst jetzt nicht klar denken", sagt Lucia, ihre Stimmlage ist dabei mindestens eine Oktave zu hoch. Die Worte prallen an mir ab, denn ich bin viel zu sehr damit beschäftigt zu überlegen, wie ich unerkannt Sizilien oder besser ganz Italien hinter mir lassen kann. In meiner Eile reiße ich die Tür auf.

„Ist alles in Ordnung?", fragt mich Signore Arrogante skeptisch. Der hat mir gerade noch gefehlt. Zielstrebig setze ich einen Fuß vor den anderen, denn die Zeit sitzt mir ab jetzt im Nacken.

„Eyyyy!", schreit Mauro, tief und kehlig. Aus meinem schnellen Gang ist ein Sprint geworden und die Personen, an denen ich vorbeiziehe, verschwimmen allmählich.
Mit brennender Lunge bleibe ich kurz vor meiner Zimmertür stehen. Während ich noch einmal kräftig einatme, beschließe ich nur das Wichtigste zu packen und dann Italien ein für alle Mal hinter mir zu lassen. Zum Glück ist mein Hab und Gut überschaubar. Dennoch stelle ich mir immer wieder die Frage, wie ich ohne einen Cent in der Tasche das Land verlassen soll. Ob es vielleicht doch besser wäre, zuerst meinen Ansprechpartner bei der Polizei zu kontaktieren? Ein Räuspern reißt mich aus meinem Gedankengang und ich schaue automatisch zur Tür, wo Mauro es sich bequem gemacht hat.

„Du willst von hier verschwinden, ohne dich zu verabschieden?" Als wäre ich ihm irgendeine Art von Rechenschaft schuldig.

„Das geht sie einen Scheiß an!", kontere ich prompt. Nicht die charmanteste Antwort, aber deutlicher kann ich mich in meiner aktuellen Lage nicht ausdrücken. Anstatt mir endlich meinen eingeforderten Freiraum zu geben, lehnt er immer noch mit verschränkten Armen im Türrahmen.

„Ich weiß nicht, was du von mir willst, aber ich habe für solche Spielchen keine Zeit!", hänge ich genervt an. Mit einem letzten Handgriff verstaue ich meinen Pass in meiner Tasche und wende mich zur Tür, die immer noch von Signore Arrogante versperrt wird.

„Es wäre nett, wenn du dich nicht so breit machen würdest." Nonchalant geht er einen Schritt ins Zimmer und drängt mich zurück, um die Tür hinter sich zu schließen.

„Ma sei sordo?", maule ich mit erhobener Stimme und versuche mich an ihm vorbeizuschummeln.

„Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du versuchst zu flüchten", seine Stimme klingt ziemlich angespannt und wenn ich ehrlich bin, stört es mich, in welche Richtung sich diese Konversation entwickelt.

„Nochmal, es geht dich einen Scheiß an!" Ich lege mein ganzes verfügbares Temperament in diesen einen Satz. In der Hoffnung, dass es diesmal Früchte trägt.

„Emilia, ich kann dir helfen." Hat der gerade helfen gesagt? Ich glaube es ja nicht.

„Du kannst mir nicht helfen und jetzt lass mich vorbei!"

„Dann lass mich dir wenigstens Geld geben. Ich bin mir sicher, dass du ohne Bares nicht weit kommen wirst", äußert er bedenklich. Ich versuche nicht allzu verwirrt zu schauen, als er aus seiner Hosentasche ein Bündel Geld zum Vorschein bringt und es mir entgegen hält.

„Ich kann das nicht annehmen", halte ich ohne Widerstand in der Stimme dagegen.

„Nimm es, ich lass' dir ein Taxi kommen", setzt er ruhig nach. Mein rationales Denken setzt aus. Wie ferngesteuert greife ich nach dem Geld und gehe aus der Tür, die er mir ohne weitere Diskussionen aufhält. Ein kurzes

„Danke" kann ich aber noch aufbringen, ehe ich mich Richtung Ausgang bewege. Ein letztes Mal durchschreite ich diese Korridore, welche ich in den letzten fünf Jahren allzu oft entlang gegangen bin. Kurz vor dem Ausgang kommt aber dann doch die Ernüchterung. Äbtissin Teresa und Suora Lucia haben dort ihr Lager aufgeschlagen, um darauf zu warten, dass ich sie mit meiner Anwesenheit beehre.

„Emilia, können wir kurz unter vier Augen sprechen?", wendet sich die Äbtissin direkt an mich.

„Ich würde gerne, aber ich habe mich entschlossen zu gehen", antworte ich nüchtern.

„Das kann ich verstehen. Ich kann dich trotzdem nicht einfach gehen lassen, bevor wir nicht miteinander gesprochen haben", beharrt sie weiter.

„Dann lass uns keine Zeit verlieren." Es kommt mir gelegen, dass sie sich für den Raum hinter der Anmeldung entscheidet. Bevor sie eintritt, schickt sie das dort arbeitende Personal raus und nickt mir zu. Damit das Gespräch unter uns bleibt, schließt sie im Anschluss die Tür und bleibt ohne weiteres vor mir stehen.

„Suora Lucia hat es dir gesagt?", frage ich direkt.

„Dann weißt du, dass ich nicht bleiben kann." Sie versucht zu lächeln.

„Ich habe damals zugestimmt, dich hier aufzunehmen. Es tut mir unendlich leid, Emilia. Ich war mir mehr als sicher, dass hier deine wahre Identität geschützt ist. Ich war davon überzeugt, dir hier ein neues Leben ermöglichen zu können, auch wenn es nicht das Ziel deines Lebens war, hier Fuß zu fassen." Eine Träne des Abschieds löst sich bei mir.

„Ich danke dir von Herzen und ich hoffe, dass ich euch damit nicht in Gefahr gebracht habe."

„Hier etwas Geld für den Notfall. Ich möchte, dass du dich zum Flughafen nach Palermo begibst und Italien hinter dir lässt. Ich werde Kontakt zu dem zuständigen Beamten, Herrn Cusumano aufnehmen", erklärt sie mir.

„Du weißt, dass er nicht erfreut sein wird, dass du mich einfach hast gehen lassen? Vielleicht werden auch rechtliche Schritte eingeleitet", verdeutliche ich ihr.

„Lass das nur meine Sorge sein. Ich hoffe einfach nur, dass du es schaffst, ein neues Leben zu beginnen. Eines, das du selbst bestimmen kannst und glücklich wirst." Ohne eine weitere Erklärung öffnet sie die Tür und gibt mir damit zu verstehen, dass es nichts mehr zu besprechen gibt. Vor der Tür wartet bereits Suora Lucia, um sich von mir zu verabschieden: „Ich werde dich sehr vermissen. Pass gut auf dich auf. Ich bete zu Gott, dass wir eines Tages wieder aufeinandertreffen."

„Danke, für alles, was du für mich getan hast. Lebe wohl, Lucia", sage ich leise und umarme sie. Die vereinzelten Tränen, die mir über die Wange rinnen, wische ich weg, ehe sie das Wort ergreift: „Dein Taxi ist da. Verschwende keine Zeit mehr." Zustimmend nicke ich ihr zu und eile hinaus.

Der Herr steht bereits mit geöffneter Tür da. Bevor ich jedoch einsteige, lasse ich meinen Blick ein letztes Mal über das Kloster streifen, welches bis eben noch mein zu Hause war.

„Prego Signora?"
Ich löse meinen Blick und wende mich dem Taxifahrer zu.

„Aeroporto Falcone e Borsellino", sage ich ihm an und steige ins Taxi. Schließlich umrundet er das Auto, um ebenfalls einzusteigen. Als er den Motor startet, kann ich erkennen, dass auch Signore Arrogante beschlossen hat abzureisen. Der Motor seines Wagens heult auf und so schnell wie er ihn gestartet hat, rauscht er die Ausfahrt entlang.

„Wie lange brauchen wir bis zum Flughafen?", möchte ich wissen.

„Zwei Stunden, wenn die Straßen frei sind." Damit legt er den ersten Gang ein und fährt durch das Tor, welches das Kloster von der Zivilisation trennt. Ich bin dem Herrn dankbar, dass er zur schweigsamen Sorte gehört. Es ist einfacher, ohne weitere Ablenkung über meine bevorstehende Reise nachzudenken. Auch wenn ich noch kein konkretes Ziel vor Augen habe, muss ich erst einmal schauen, welchen Flug ich mir überhaupt leisten kann. Ich sollte die erste Zeit versuchen, wirklich haargenau zu wirtschaften. Meine Augen schweifen aus dem Fenster. Die Straßen sind zum Glück relativ frei und ich versuche ein letztes Mal die Landschaft von Sizilien auf mich wirken zu lassen. Die Autobahnen sind gesäumt mit Kakteengewächsen, an denen bereits die reifen Früchte gut zu erkennen sind. Die wildwachsenden Arten eignen sich nicht unbedingt zum Verzehr, aber es ist trotzdem schön zu sehen, dass die Flora sich trotz der Autobahn nicht aufhalten lässt. Weit und breit wird das Land von Macchie und Garrigue überzogen. Große Büsche, die gelegentlich von wuchernden Jasmin unterbrochen werden. Auch die Mimosen und Bananenstauden lassen sich vom Auto aus gut erkennen. Wir sind bereits auf der Höhe von Milena und meine kalten Schweißausbrüche habe ich noch immer nicht unter Kontrolle.

„Signora, soll ich die Klimaanlage kühler stellen?"

„Danke, nein. Sie ist genau richtig." Ich schaue zu ihm durch den Rückspiegel. Seine Augen sind warm und freundlich. Es stimmt mich traurig zu sehen, dass ein Mann seines Alters immer noch voll im Berufsleben steckt. Ich denke, lange wird er das nicht mehr machen können. Es ist kein Geheimnis, dass in Italien, vor allem in Sizilien, das Autofahren gewissermaßen gefährlich ist. Im hohen Alter können die Reflexe da schon mal etwas eingerostet sein.

„Signore, kommen sie aus Agrigento?", frage ich aufgeschlossen.

„No Signora. Palermo", antwortet er relativ schnell. Interessant trifft es wohl ganz gut. Ein Palermitani in Agrigento, der sich wieder auf der Heimfahrt befindet.

Die restliche Zeit verbringe ich damit, dass Chaos das in mir herrscht zu ordnen. Gedanken für Gedanken schiebe ich beiseite. Auch die Angst, die seine Stimme in mir ausgelöst hat, versuche ich in die hinterste Ecke zu schieben.
Stück für Stück kommen wir Palermo näher und das weiß ich nicht von meinen vorhandenen Erkunde Kenntnissen, nein es sind die Schilder, die mir Aufschluss darüber geben, dass wir in den nächsten dreißig Minuten ankommen müssten. Als die Ausfahrt des Flughafens erscheint, ordnet er sich auf einer völlig falschen Spur ein.

„Scusa, wir müssen diese Ausfahrt nehmen. sie fahren falsch", weiße ich freundlich hin.

„No, no. Hier ist seit einem halben Jahr eine Baustelle. Ich umfahre sie", entschuldigt er sich. Es ist nur menschlich, in so einer Situation das Schlechteste zu erwarten, anstatt an Palermo vorbeizufahren, um weiter Richtung Flughafen zu kommen, setzt er alles daran, auf Palermo zuzusteuern. Meine aufsteigende Panik ist also berechtigt, denn er fährt eindeutig nicht an mein gewünschtes Ziel.

„Wo fahren sie hin?", frage ich nun aufgebracht und ernte nicht mehr als Schweigen.

„Ich frage sie ein letztes Mal, wohin fahren sie?"

„Signora con calma stiamo arrivando." Ich bin im Begriff, meine Beherrschung zu verlieren, als ich bemerke, dass wir auf einer Privatstraße fahren. Der Taxifahrer scheint von meiner aufbrausenden Art nicht begeistert zu sein und macht eine Vollbremsung, die so unerwartet kommt, dass mein Kopf gegen seine Lehne schlägt und ich nur noch Sterne sehe.
Als ich meine Augen öffne, erkenne ich, dass wir zum Stehen gekommen sind und uns in einer Einfahrt befinden, die sich wirklich sehen lassen kann. Ich bin alleine im Auto. Schnell scanne ich die Umgebung und wäge meine Fluchtmöglichkeiten ab. Hastig öffne ich die Tür, um auszusteigen. Genau in dem Moment, nachdem ich die Tür geschlossen habe und mich umdrehe, knalle ich gegen einen unnachgiebigen Körper. Das ist nicht der Taxifahrer. Mit einem Kloß im Hals schaue ich auf. Es sind zwei dunkle Augen, die mich forschend mustern.

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