Kapitel 33 • Emilia •
Hätte ich gewusst, was der heutige Tag mir bringt, wäre ich im Bett geblieben. Nun schaue ich aufs Meer und versuche die Tränen wegzublinzeln, die mit aller Macht versuchen an die Oberfläche zu gelangen.
... 22 Stunden vorher ...
„Ich möchte diese Therapie fortsetzen", verdeutlichte ich Davide, obwohl ich Angst vor seiner Reaktion habe. Er schaut mich kurz, aber intensiv an, ganz so, als wolle er abschätzen, wie viel Wahrheit in meinen Worten liegt.
„Lass uns fahren", sagt er mir zunickend und legt einen Arm um mich. Lässig bewegen wir uns durch die langen Korridore zum Aufzug.
„Wir verbringen zuerst einen schönen Tag", lächelt er und gibt mir keine Möglichkeit zu protestieren. Wir verweilen einen Moment, bis sich der Lift öffnet und eine Menschentraube aussteigt.
„Bist du denn gar nicht neugierig?", fragt Davide und drückt den Knopf, der uns ins Erdgeschoss bringen soll.
„Nein, ich lasse mich überraschen", erwidere ich nach kurzer Überlegung. Im Erdgeschoss angekommen, greift er meine Hand und führt mich zum Auto zurück.
„Einmal einsteigen bitte", grinst er breit, während er die Tür für mich offen hält. Ich steige ein und muss nun feststellen, dass ich doch etwas neugierig geworden bin. Selbst als er einsteigt und den Motor startet, ist sein Grinsen keinesfalls kleiner geworden.
„Okay, komm, sag schon", fordere ich ihn auf, mir ein klein wenig zu verraten. Ich dachte nicht, dass sein Grinsen noch breiter werden könnte, aber er überzeugt mich schnell vom Gegenteil.
„Es ist nichts Besonderes, aber ich garantiere dir, dass du auf deine Kosten kommen wirst", behauptet der voll tätowierte Muskelprotz in einem selbst lobenden Ton.
„Guai a te, se no", schmunzele ich und richte meinen Blick aus dem Fenster.
Die Häuser ziehen an uns vorbei, wunderschöne alte Häuser wohl bemerkt. Meine Gedanken driften nach Hause, nach Neapel. Ich wohnte mit meinen Eltern in einem Haus wie diesen. Ich blicke in eine Zeit zurück, in der ich noch keine Sorgen hatte und ich einfach nur Ich war. Ein kurzes Räuspern von Davide holt mich schnell wieder zurück.
„Den Rest gehen wir zu Fuß", informiert er mich, während er das Auto in eine kleine Seitengasse lenkt. Er stellt den Motor ab und wendet sich der Innentasche seiner Jacke zu. Er zückt eine Feuerwaffe, was meine Panik erweckt. Sein Blick verdunkelt sich, als er das Magazin überprüft und mir seitlich einen Blick zu wirft.
„Du denkst doch nicht wirklich ...?", er kann die Scharade nicht länger aufrechterhalten und bricht seinen Satz ab, weil er sein Lachen nicht mehr zurückhalten kann.
„Emilia, ernsthaft?", lacht er weiter und verstaut seine Waffe wieder an seinem ursprünglichen Ort.
„Was?", frage ich, obwohl es offensichtlich ist, was ich dachte.
„Ich fahre mit dir doch nicht in die Stadt, in eine kleine scheiß Seitengasse, um dich zu erschießen!" Sein Lachen schwindet und sein Ton wird ernster, vielleicht sogar verletzt.
„Du weißt, wie wir unsere Brötchen verdienen und da wäre es echt lebensmüde, ungeschützt, das Haus zu verlassen." Mein selbst ernannter Bruder wirkt aufgebracht, weswegen er mich gerade auch ankeift. Ich mache mich kleiner, schäme mich für meine Reaktion und fahre mir unbeholfen durch die Haare.
„Es tut mir leid", entschuldige ich mich, in der Hoffnung den Tag nicht verdorben zu haben. Er schweigt, sagt nichts weiter dazu, sondern steigt aus und umrundet das Auto. Ruckartig öffnet er die Tür und zieht mich auf die Beine. Seine Hände liegen fest auf meinen Oberarmen.
„Du bist für mich wie eine kleine Schwester", sagt er nun weicher und lockert seinen Griff. Ich stehe da und weiß nicht, was ich sagen soll. Seine Stirn legt sich in Falten und kurz darauf fährt er sich mit der Hand durchs Haar.
„Hey", flüstert er und schließt mich in eine Umarmung. Beruhigend streichelt er meinen Rücken und gibt mich kurzerhand wieder frei.
„Wir gehen jetzt essen. Einverstanden?" Räumt er schließlich ein.
„Einverstanden", antworte ich zuversichtlich und hake mich bei ihm ein. Davide weiß genau, wohin er möchte und lotst uns aus der kleinen Seitengasse raus.
Es herrscht ein reges Treiben, denn der Wochenmarkt hat heute geöffnet. Manche würden sagen, es sei Flutüberreizung, aber nein, es ist einfach nur wunderschön. Viele bunte Farben die auf einen wirken, Menschen mit vollen Tüten. Menschen, die sich unterhalten oder andere, die um den Preis feilschen. Mein Begleiter führt mich in die nächste Seitengasse. Sie ist schmal und der Boden besteht aus alten Pflastersteinen. Das Zusammenspiel der kleinen zuckersüßen Balkone, hellen Sonnenschirme und kleinen Tische, tauchen einen in eine andere Welt. Davide führt mich weiter, bis wir vor der Schwelle zu einem kleinen Bistro stehen bleiben. Eine brünette, hübsche Kellnerin nimmt uns in Empfang.
„Ein Tisch für Zwei?", fragt sie strahlend. Es vergehen ein paar Sekunden des Schweigens, bis ich die Stille breche und für Davide antworte.
„Gerne." Ich beobachte ihn ganz genau, da er seine Stimme immer noch nicht gefunden hat. Die junge Frau lässt sich dadurch nicht verunsichern und weist uns einen freien Tisch zu. Sie legt zwei Speisekarten auf den Tisch und lässt uns einen Augenblick alleine.
„Hätte sie lieber in Gebärdensprache fragen sollen?", ziehe ich ihn amüsiert auf, was mich einen strengen Blick seinerseits ernten lässt.
„Ich habe nachgedacht", kontert er knapp, was mich zum Grinsen bringt. Ich möchte weiter bohren, doch die selbstbewusste Servicekraft kommt zu uns zurück.
„Was kann ich euch zu trinken bringen?", möchte sie wissen und klammert sich an ihren Block.
„Ein stilles Wasser", gebe ich als Bestellung auf und Davide, schließt sich schnell an.
„Ginger-Ale und Tagliatelle Frutti di mare."
„Gerne und für sie?" Wendet sie sich an mich.
„Ich nehme dasselbe."
„Vielen Dank", betont sie freundlich und lässt uns beide alleine.
„Was war das?", möchte ich von ihm wissen, da ich sicher bin, etwas gesehen zu haben.
„Was war was?", kommt pistolenartig zurückgeschossen.
„Liebe auf den ersten Blick und sowas, du weißt schon." Ich kann mir das Lachen nicht verkneifen, als die Kellnerin mit den Getränken zu uns stößt und gleich wieder verschwindet.
„Ach, babbel", blockt er direkt ab.
„Gut, dann nicht", gebe ich bockig von mir.
„Erzähl mir lieber was von dir", bittet er mich und wechselt damit das Thema. Ich weiß nicht so recht, was er von mir hören will.
„Was möchtest du wissen?"
„Du und Mauro", möchte Davide wissen, was zu Folge hat, dass ich meine Haare zurückstreiche. Eine kleine Verzögerung, um kurz zu überlegen.
„Es ist kompliziert", offenbare ich letztendlich. Wenn es ein Wort für uns beide gibt, dann ist es definitiv „kompliziert".
„Wenn Liebe im Spiel ist, sollte es nicht kompliziert sein. Er tut es zumindest, seit er dich auf der Beerdigung von Isabella zum ersten Mal gesehen hat", erklärt er mir und hinterlässt damit bei mir ein warmes Gefühl.
„Er war verlobt, wusstest du das? Mauro hat sie verlassen, weil er besessen von dir war. Er investierte so viel Zeit, um nach dir zu suchen, um mehr über dich zu erfahren", fährt er fort und hat gar nicht bemerkt, dass die Kellnerin vor uns steht, um das Essen zu servieren.
„Ich wollte nicht stören", entschuldigt sie sich und stellt die Teller zügig ab.
„Er konnte nichts über mich finden", vergewissere ich mich, obwohl ich die Antwort schon kenne.
„Nein, natürlich nicht und das hat ihn wahnsinnig gemacht. Tja, eines Tages machte er sich mit Rosa auf den Weg zu dir ins Kloster", lacht er humorlos auf, ehe er seine Gabel nimmt und mit dem Essen beginnt.
„Ein Stalker also ...", werfe ich ein und Davide schüttelt grinsend seinen Kopf.
„Stalker würde ich jetzt nicht sagen", schmunzelt er und saugt einer der Muscheln aus.
Der Tag vergeht wie im Flug und ich muss sagen, dass ich wirklich auf meine Kosten gekommen bin. Nach dem Essen, sind wir eine Runde am Strand entlang gelaufen, bis wir vor einer Spielhalle zum Stehen gekommen sind. Flipperautomaten, Basketball werfen, Greifautomaten, Tischhockey und das ist noch nicht mal alles gewesen. Naja, wir haben die Zeit vergessen.
Der Ernst des Tages holt mich schneller ein, als mir lieb ist. Wir schlendern zum Wagen zurück, der gefühlt dreihundert Kilometer entfernt ist und fahren zu der Adresse der Gynäkologin, die mir Dr. Presti gab. Ich schildere kurz, was geschehen ist und komme sofort dran.
Jetzt mit Davide wieder im Auto zu sitzen, lässt mich unruhig werden. Ich habe ihm noch nicht gesagt, was die Ärztin mir gesagt hat und ich merke wie angespannt er deswegen ist.
„Du hast noch nichts gesagt", erwähnt er vorsichtig, was ihm ein Schnaufen meinerseits einbringt. Wie soll ich es formulieren? Wie kann ich ihm erklären, dass wir genauso schlau wie heute Morgen sind.
„Ich bin auf demselben Stand wie heute Morgen", murmel ich genervt vor mich hin und schweige bis wir in der Einfahrt der Carusos geparkt haben. Wir haben schon 19:20 Uhr und ich habe keine Lust, mir weiter den Kopf zu zerbrechen.
„Magst du es mir jetzt erklären?", fragt er und lässt das Thema erneut aufflammen.
„Man konnte nichts sehen. Im gleichen Satz sagte sie mir, dass es zu früh sein kann und man deswegen vielleicht noch nichts sieht. Dann hat sie mir Blut abgenommen, um den Beta-HCG Wert zu ermitteln", posaune ich barsch raus.
„Ein Schritt nach dem anderen", versucht er mich zu beruhigen.
„Du verstehst das nicht!", schreie ich ihn an und bereue es gleich.
„Dann erkläre es mir", bittet er mich umso sanfter. Die Tränen sammeln sich in meinen Augen, bis sie letztendlich anfangen meine Wangen hinabzurinnen. Wie soll ich ihm das Unbegreifliche erklären?
„Du wünschst es dir." In der Betonung dieses Satzes liegt kein Hohn, keine Verachtung, keine Verurteilung. Er weiß, was damals geschah, Giona, die Schwangerschaft, wie ich das unschuldige Leben verlor und die Diagnose, die ich danach erhielt. Doch jetzt habe ich einen kleinen Hoffnungsschimmer erhalten.
„Ich muss es ihm sagen, nicht wahr?", frage ich ängstlich, obwohl ich weiß, dass es das Richtige wäre.
„Emilia, solange du nicht sicher bist, musst du auch nichts sagen. Genieß den Abend heute mit ihm, wenn es dir möglich ist. Habt eine schöne Nacht. Und morgen schauen wir, wie es weitergeht." Er spricht mir Mut zu, welchen ich gut gebrauchen kann. Langsam nicke ich ihm zu und löse den Gurt, um auszusteigen. An der Eingangstür umarme ich ihn.
„Danke, für alles." Ich drücke ihm einen Kuss auf die Wange und öffne die Tür.
„Achso, ich hab der Kellnerin deine Nummer gegeben." Ein hinterlistiges Grinsen breitet sich auf meinem Gesicht aus und ich stürme lachend ins Haus. Sein Gesicht hätte man sehen müssen.
„Du kleines Biest!", ruft er mir hinterher und beginnt mich durchs Haus zu jagen.
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