Kapitel 3 • Emilia •
Die Nacht verlief identisch zur letzten und auch zur vorletzten und das könnte ich jetzt auch so einige Male wiederholen. Wieder wurde ich schweißgebadet, wach und wieder beschlich mich das Gefühl, nicht alleine zu sein ...
Natürlich fand ich auch in dieser Nacht nichts, was darauf schließen könnte, dass ich recht habe. Mein Tag startet wie immer, bis ich (noch im Halbschlaf) nach meiner Zahnbürste greife und feststelle, dass mein Zahnputzbecher leer ist.
„Hab' ich sie doch im Bad gelassen", schleicht sich mir kurz der Gedanke in meinen Kopf. Mir bleibt nichts anderes übrig, als nachzusehen, auch wenn ich davon überzeugt bin, sie gestern Abend noch im Zimmer gehabt zu haben. Genervt von mir selbst verlasse ich mein Zimmer, um nachzuschauen. Auf den Fluren ist es noch ziemlich ruhig, bis auf die eine oder andere Schwester, die versucht, den Tag früher als der berüchtigte Vogel zu starten.
Im Gemeinschaftsbad angekommen, beginne ich alles genau in Augenschein zu nehmen, doch von der Zahnbürste fehlt jede Spur. Was mich aber verwundert, ist, dass meine Haarbürste in dem Regal liegt, in dem meine Nachthemden gestapelt sind. Nun bin ich mir hierbei zu tausend Prozent sicher, sie im Zimmer gebürstet zu haben. Vielleicht hat sich einer einen kleinen Scherz erlaubt, aber dann müsste jemand in meinen Privatraum eingedrungen sein, entweder als ich tief und fest schlief oder als ich eben im Bad war. Ein mulmiges Gefühl begleitet die Vermutung, niemanden bemerkt zu haben. Aufgelöst eile ich zurück. Ich weiß nicht, ob meine Sinne mir einen Streich spielen, aber ich könnte schwören, eine Moschusnote wahrzunehmen. Und da fällt mir etwas ins Auge. Etwas, das vorher nicht dagewesen ist.
Wie ein Hase auf der Flucht bewege ich mich im Zickzackkurs durch mein Zimmer und suche nach weiteren Hinweisen. Doch es gibt nichts Weiteres, was mir auffällt. Vorsichtig schleiche ich zu meinem Waschtisch und blicke irritiert auf die rote Rose, welche in meinem Zahnputzbecher positioniert wurde.
„Emilia!", unterbricht mein persönlicher Wecker die rasenden Gedanken.
„Ich komme jetzt rein, wenn du mir nicht antwortest", fährt sie fort und öffnet die Tür. Meine Gesichtszüge scheinen mir komplett entglitten zu sein, denn Lucia fällt es sofort auf, dass etwas nicht stimmt.
„Cosa è successo?" Unfähig zu antworten, gebe ich den Blick auf die Rose frei.
„Jemand war in meinem Zimmer, als ich eben im Bad war", stammle ich nervös.
„Bist du sicher?"
„Ja, die Rose war vorhin nicht hier." Sie lächelt.
„Dann sollte ich mich umhören, welche der Schwestern Dir eine kleine Freude bereiten wollte." Ich lasse das zuerst unkommentiert. Es könnte ja sein, dass sie recht hat. Falls nicht, kann ich immer noch in Panik ausbrechen.
„Könnte ich vielleicht eine neue Zahnbürste haben, ich scheine meine verlegt zu haben? Danach können wir ja schauen, was der Tag noch für uns bereithält." Lächle ich nun auch.
„Ich besorge dir eine, aber bitte mach dich fertig."
Zügig mache ich mich soweit fertig, sodass Lucia genau in dem Moment zurückkommt, als ich meinen Schleicher richte. Sie lässt mich wissen, dass sie draußen wartet. Auch heute starten wir den Tag gemeinsam. Erst das Frühgebet, dann das Frühstück und anschließend begeben wir uns zur Arbeit.
„Denk an die Entschuldigung!", erinnert sie mich kurz, bevor wir an der Rezeption eintreffen.
„Ist das wirklich nötig?", klage ich, wie ich es als Teenagerin oft getan habe. Natürlich sagte ich ihr nichts von unserem gestrigen Aufeinandertreffen in der Kapelle. Das hätte nur zu Fragen geführt, auf die ich selber keine Antworten weiß.
„Emilia!", der wiederholende zurechtweisende Unterton ärgert mich zwar, nehme es aber ohne weitere Widerworte hin.
Kaum sind wir an der Anmeldung vorbeigelaufen, konfrontiert mich dieser Esel auch gleich.
„Novizin Emilia", sagt er mit gefestigter Stimme.
„Sie wollten mit mir sprechen, unter vier Augen?", fragt er nun, obwohl er weiß, dass es eine Lüge ist.
Eine Farce, die er vor den Blicken anderer aufrechterhält. Förmlich und stets bedacht, ausreichend Abstand zu halten. Minchia, sein verfluchter Ernst?
„Signore Caruso, ich danke ihnen für Ihre Zeit. Sie stehen bestimmt unter Zeitdruck", versucht Suora Lucia die Stimmung zu lockern.
„Dann lassen sie uns doch in das Zimmer meiner Mutter gehen", erklärt Kotzbrocken locker.
„Emilia, ich sehe in der Zwischenzeit nach Frau Fossi", lächelt meine Freundin und wendet sich von uns ab.
„Ich denke, wir können das auch hier schnell hinter uns bringen", keife ich letztendlich in die Runde, was Lucia zum Stehen bleiben bewegt. Überrascht von meiner Aussage, bilden sich auf seiner Stirn kleine Denkfalten. Gerade als er seinen Mund öffnet, um zu sprechen, schneide ich ihm das Wort ab, bevor er sagen kann, was ihm auf der Zunge liegt: „Es tut mir leid, dass ich gestern zu viel von meinen Gedanken preisgegeben habe. Ich wollte sie damit nicht verärgern oder in Verlegenheit bringen." Signore Arrogante schmunzelt: „Wenn sie das unter einer ehrlichen Entschuldigung verstehen. Ich hätte mehr Einsatz erwartet. Sie sollen wissen, es ist nicht immer alles so wie es scheint!" Für einen kurzen Moment gibt mein Gehirn das Signal, genauer nachzuhaken, aber ich widerstehe dem Impuls.
„Ich sehe, ihnen hat es die Sprache verschlagen." Sein amüsiertes Grinsen treibt mich zur Weißglut, doch wie so allzu oft setze ich mein Pokerface auf und verabschiede mich höflich: „Ich wünsche ihnen eine angenehme Heimfahrt." Süffisant hebe ich mein Kinn und setze mein schönstes Lächeln auf. Seine Mimik verändert sich schlagartig und mit einem Mal wirkt er leicht gereizt: „Ich nehme an, Äbtissin Teresa hat sie noch nicht in Kenntnis gesetzt?" Bis eben hatte ich noch die Hoffnung auf Ruhe und Frieden, doch er scheint sein Bestes zu geben, sie mir zunichtezumachen. Ich weiß, ich sollte mich nicht von ihm provozieren lassen, aber es ist schwerer als gedacht: „Was sollte Äbtissin Teresa über mich, mit ihnen zu besprechen haben?"
„Lassen sie uns das doch gemeinsam mit ihr besprechen. Am besten jetzt gleich?", fragt er in einem Ton, der keine Widerrede zulässt. Tja, das denkt er zumindest, aber was soll ich sagen, er kennt mich nicht.
„Ich habe hier noch Arbeit zu verrichten. Demnach müssen sie sich wohl bis heute Abend gedulden", grinse ich frech und richte meinen Blick zu Lucia.
„Signore Caruso, es tut mir leid, aber Novizin Emilia ist nicht befugt, ihren Arbeitsplatz ohne triftigen Grund zu verlassen", gibt sie ihm zu verstehen, was mein Grinsen umso breiter werden lässt. Alleine würde ich ihn wahrscheinlich nicht loswerden. Ein eiternder Zahn erscheint mir vor meinem geistigen Auge und es ist niemand geringeres als Suora Lucia, die ihn ohne mit der Wimper zu zucken entfernt.
„Sehen sie?", setze ich provokant nach.
„Suora Lucia ist meine Vorgesetzte. Wenn sie ein Gespräch mit Äbtissin Teresa und mir anstreben, muss ich sie bitten zu warten", ergänze ich etwas bissiger als notwendig. Es sind die deutlich hervortretende Halsschlagader sowie seine zu Fäusten geballten Hände, die mich unweigerlich wissen lassen, wie aufgebracht er innerlich ist.
„Also entschuldigen sie mich bitte, denn ich habe zu arbeiten." Ich lasse ihn mit seinem Frust und seiner entstandenen Wut alleine und mache auf dem Absatz kehrt, um zu meinem Schützling zu gelangen. Natürlich kreisen die Gedanken und winden sich durch meinen auf Hochtouren arbeitenden Temporallappen. Doch heute Abend werde ich nicht darum herumkommen, wenn die Äbtissin mich zu sprechen wünscht.
Signora Fossi wartet bereits auf mich und wirkt unruhig.
„Figlia mia, lass mich dir einen guten Rat geben", beginnt sie gleich und überrumpelt mich.
„Gerne", erwidere ich knapp und warte auf Aufklärung. Sie macht sich etwas kleiner, als sie anfängt zu sprechen: „Rede nicht mehr als nötig mit ihm." Ihr Kopf dreht sich in die Richtung, aus der ich gerade gekommen bin. Neugierig verringere ich den Abstand zwischen uns: „Sie meinen Signore Arrogante?"
„Ha già un soprannome?", fragt die Greisin verwundert.
„Ja, ich denke, der ist passend", ein leichtes Grinsen hat sich in mein Gesicht geschlichen.
„Du solltest dich von ihm fernhalten. Seine Famiglia und er bedeuten nur Ärger", fährt sie strenger fort. Wenn die Neugierde bis jetzt noch nicht groß genug war, ist sie es spätestens jetzt.
„Angela?"
„Cara mia é mafiusu." Bittere Galle steigt meine Speiseröhre empor und mit größter Anstrengung gelingt es mir, den weißen Wänden keinen neuen Anstrich zu verpassen. Die Mafia ist das Letzte, was ich noch einmal in meinem Leben haben wollte. Auch wenn ich in die Welt der Skrupellosigkeit und Kriminalität reingeboren wurde, haben meine Eltern stets ihr Bestes gegeben, mich damit nicht in Berührung zu bringen. Das ging so lange gut, bis ich Giona kennengelernte.
„Angela, sind sie sich sicher?", frage ich mit echter Sorge in der Stimme.
„E il figlio di Don Caruso. Capo dei capi", holt sie zum finalen Schlag aus, obwohl ich dachte, dass es nicht noch schlimmer werden könnte. Mit dieser neu gewonnenen Information wäre es das Beste, von hier zu verschwinden und einfach zu warten, bis er abgereist ist, bevor ich in Erwägung ziehe, wieder zurückzukehren. Ich würde Äbtissin Teresa wohl verärgern, aber es wäre die einzige Möglichkeit, um genügend Abstand zwischen ihm und mir zu gewinnen.
„Emilia ... Ein Anruf für dich!", ruft Lucia eilig.
„Angela, ich bin gleich wieder bei ihnen." Unwissend, wer sich am Ende der Leitung befindet, gehe ich zum Telefon und nehme den Hörer in die Hand.
„Pronto?", grüße ich in den Telefonhörer. Ich vernehme einen kurzen Atemzug, ehe die Stimme zu hören ist: „Rosa."
Ich bin mir sicher, dass der Schock dafür verantwortlich ist, dass mein Herz gerade aufgehört hat zu schlagen. Die Lungenflügel haben ihre Arbeit eingestellt und es dauert nur einen Bruchteil einer Sekunde, bis die Ränder meines Blickfeldes schwarz werden.
Nach einer weiteren Sekunde, hat sich die Dunkelheit komplett ausgebreitet und ich weiß nicht, ob ich gerade an Herzversagen gestorben bin oder einfach nur in Ohnmacht gefallen bin. Schwach höre ich noch, wie Lucia meinen Namen schreit und vermutlich zu mir rennt.
... Erinnerungsfetzen ...
„Rosa. Ich sagte, Du hältst dich von ihm und seiner Familie fern!", kreischt Mamma immer wieder.
„Mamma, er ist gut zu mir!", bin ich es leid, mich zu rechtfertigen.
„Ich möchte nichts mehr davon hören!", bellt meine Mutter wieder.
„Perché lo odi così tanto?", möchte ich wissen, aber mein Vater mischt sich ein: „Basta ora!" Es macht mich wütend, auf taube Ohren zu stoßen.
„Vaffanculo! Ich bin alt genug, um selber zu entscheiden!" Ich sehe es kommen und doch bin ich nicht in der Lage rechtzeitig zu reagieren. Nur der brennende Schmerz, den der Handrücken meines Vaters auf meiner Wange hinterlassen hat, schickt mir endlich das Signal mich zu bewegen.
„Ich hasse euch!", sind die Worte, die ich ihnen zuwerfe, als ich durch die Tür stampfe. Die erste Backpfeife, die ich mir in meinem Leben gefangen habe, unterstreicht mehr als ausreichend, dass sie es mit allen Mitteln versuchen werden, mich von Giona fernzuhalten.
... Erinnerung Ende ...
„Attendo con la testa!", mahnt Lucia.
„Suora, es wäre schön, wenn sie weniger reden und stattdessen mehr vorbereiten würden!", kritisiert Caruso.
„Mauro!", seine Mutter hat bereits eine drohende Haltung eingenommen, um jederzeit bereit zu sein, Mauro zu maßregeln. Das Personal hingegen hat sein Bestes getan, um eine kleine Rettungsgasse zu bilden.
„Hier rein", Suora Lucia hält die Tür eines leerstehenden Zimmers auf und lässt Mauro schnellstmöglich vorbei. Ein Blutdruckmessgerät ebenso wie eine Schüssel mit Wasser und Lappen konnte sie bereits organisieren. Sobald Signore Arrogante mich aufs Bett gelegt hat, legt Lucia mir die Manschette des Blutdruckmessgerätes an. Der kalte Waschlappen auf meiner Stirn lässt mich komplett wieder zu mir kommen. Die Panik, die in mir aufsteigt, lässt das Blutdruckmessgerät verrücktspielen.
„Sie braucht jetzt Ruhe!" Eisern blickt sie zur Tür. Unmissverständlich gibt sie zu verstehen, dass alle den Raum verlassen sollten und das unverzüglich.
„Ich bleibe vor der Tür", stellt der Sohn des Capos klar. Ich wartete noch, bis die selbige ins Schloss gefallen ist, bevor ich wie von einer Tarantel gestochen aufstehe.
„Du solltest noch etwas liegen, dein Blutdruck", erklärt sie besorgt.
„Lucia, ich muss hier verschwinden!", widerspreche ich hektisch.
„Sobald du Dich beruhigt hast, werde ich Dich auf dein Zimmer bringen", bemüht sie sich, mich zu besänftigen, allerdings ohne Wirkung.
„Nein, du verstehst nicht! Ich muss hier weg!", erhebe ich aufgebracht meine Stimme. Rastlos fahre ich meine Hände durch die Haare und versuche, die neue Situation zu beurteilen.
„Wo willst du hin?", fragt Lucia, denn sie hat noch keine Ahnung.
„Er hat mich gefunden!" Jetzt, wo ich es ausgesprochen habe, schaltet mein Hirn auf den Überlebensmodus. Meine Freundin versteht die Bedeutung hinter diesen Worten und versucht dennoch einen klaren Kopf zu behalten: „Versuch dich zu beruhigen."
„Puttana miseria! Beruhigen?", schreie ich aufgebracht und fahre mir ein weiteres Mal durch die Haare.
„Emilia."
„Nein, Lucia! Verflucht, er war am Telefon", fahre ich leiser fort.
„Ich bring' dich sofort zur Äbtissin."
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