Kapitel 29 • Emilia •


Es ist vorbei, für mich zumindest. Giona wird heute noch übergeben, was mich zu einem freien Menschen macht. Nie wieder muss ich Angst haben, dass er mich wieder finden könnte. Auf eine verworrene Art bin ich Dario dankbar, dass er mich da rausgeholt hat. Ich kann mein Geheimnis, meine Blutsünde mit ins Grab nehmen, denn der letzte Mensch, der davon weiß, wird schon bald nicht mehr sein.

„Es wird alles gut", flüstert Dario gegen meinen Scheitel. Er hält mich immer noch fest im Arm und seine besorgte Seite ist absolutes Neuland für mich. Es hilft aber keineswegs, die Worte Gionas zu vergessen. Plötzlich merke ich Übelkeit, Übelkeit die nicht ignoriert werden sollte, ich reiße mich los und suche die Toilette auf. Im letzten Moment hebe ich den Klodeckel an und entleere meinen Magen. Meine Augen brennen unter dem Würgereiz, der immer nur kurz abebbt, um mich anschließend umso heftiger zu überwältigen. Die Tränen laufen in Rinnsalen über meine Wangen und ich habe große Mühen meine Haare im Zaum zu halten. Ich sollte, mich nicht schuldig fühlen für das, was geschehen ist, doch ich fühle mich schuldiger denn je.

... Erinnerung ...

„Ich muss kurz weg. Eine Stunde, nicht länger." Gionas Hand streichelt sanft durch mein Haar. Er lässt sie in meinem Nacken ruhen und zieht mich zu einem unschuldigen Kuss zu sich heran.

„Ich kann schon mal vorfahren. Es macht mir wirklich nichts aus", versichere ich und küsse ihn ein weiteres Mal. Ich liebe die Art, wie seine Augen auf mir ruhen, wie sehr er mich umsorgt und nicht will, dass ich abends alleine unterwegs bin.

„Wir fahren zusammen, ich beeile mich, versprochen." Ich kann ihm diese bitte nicht abschlagen und gebe ohne zu protestieren nach. „Was bekomme ich dafür?", möchte ich wissen, um unser kleines Spiel aufrechtzuerhalten.

„Alles was du willst tesoro mio. Warte auf mich." Ein letztes Mal legt er seine Lippen auf die meinen und wendet sich der Tür zu. Ich schaue ihm nach, bis er aus meinem Blickfeld verschwunden ist. Ich müsste mich daran gewöhnt haben, dass er das ein oder andere Mal verschwindet, aber die Realität sieht anders aus. Jedes Mal, wenn er geht, um den Geschäften seiner Familie nachzugehen, habe ich Angst, dass er nicht zurückkommt. Es ist gefährlich, er kann mir nichts vormachen, ich weiß es.

„Rosa, du bist hier?" Der scharfe Unterton von Alfredo schneidet mir regelrecht durchs Mark. Mir ist bewusst, dass Gionas Vater mich nicht leiden kann, denn er zeigt es mir bei jeder Gelegenheit.

„Giona bat mich zu warten."

„Das hat ein Ende!", unterbricht er mich schroff. Es dauert einen Augenblick, um zu verstehen, was er meint. So direkt und unmissverständlich hat er sich noch nie ausgedrückt.

„Alfredo."

„Don Pellegrini!" Er ersticht mich mit bloßem Auge und ich kann nicht verstehen, woher diese Abneigung mir gegenüber kommt.

„Du bist nicht die Frau, die ich neben meinem Sohn sehen will!" Die Worte tun weh und es ist schwer sie zu ignorieren.

„Wieso sagen sie das ihrem Sohn nicht selbst?", erwidere ich, leicht im Ton vergriffen. Ich wollte nicht vorlaut klingen, aber ich kann diese überhebliche Aussage nicht so stehen lassen.

„Es gibt Dinge, mit denen ich meinen Sohn nicht belasten möchte." Sein Gesichtsausdruck ist streng, während sein Körper komplett angespannt zu sein scheint.

„Ich werde Giona nicht verlassen!" Meine Augen funkeln entschlossen auf, ebenso wie mein Körper, der Selbstsicherheit ausstrahlt.

„Wenn er erfährt, wer du bist, wer du wirklich bist, wird er dich fallen lassen." Er zieht seine Krawatte enger, bevor er näher an mich herantritt. Ich schlucke heftig und bin mit dieser Situation komplett überfordert. Wer ich wirklich bin?

„Das ist lächerlich und das wissen sie!" Ich werde seiner wild gewordenen Fantasien überdrüssig und will ihn tatsächlich einfach stehen lassen.

„Rosa De Luca, ich weiß genau, wer du bist. Richte deiner Mutter einen schönen Gruß aus, ich bin mir sicher sie werden dich einsperren, wenn sie wüssten, dass du mit deinem Bruder eine leidenschaftliche Beziehung eingegangen bist." Ich starrte ihn an, unfähig mich zu äußern, unfähig auch nur ein Wort zu glauben, welches eben seinen Mund verlassen hat.

„Gutes Mädchen und jetzt meine liebe Tochter, ich will dich hier nie wieder sehen."

„Wie kalt muss das Herz eines Vaters sein, um so eine Lüge ..." Er lässt nicht zu, dass ich weiterspreche, stattdessen droht er mir, ohne mit der Wimper zu zucken.

„Wenn ich auch nur einziges Mal den Verdacht hegen sollte, dass du und Giona eure Blutsünde auslebt."

„Ich glaube ihnen kein einziges Wort!" Ich wende mich um zu gehen, seine Anwesenheit werde ich keine weitere Sekunde ertragen. Er hingegen ist noch nicht bereit, die Unterhaltung ruhen zu lassen und zieht mich an meinem Handgelenk zurück: „Frag deine Mutter, welcher Samen in ihr keimte!"

... Erinnerung Ende ...


Ein weiterer Schwall Erbrochenes, reißt mich aus der Erinnerung. Ich hätte diesen Worten Glauben schenken müssen, stattdessen tat ich es als eine krankhafte Lüge ab. Ich verschwieg es Giona und besiegelte damit mein Schicksal.

„Emilia, mach die Tür auf!", Mauros Stimme dringt durch die Tür, während er am Türgriff rüttelt. Ich lasse die Abspülung laufen, immer und immer wieder, bis alles im Abfluss verschwunden ist. Ich frische mich schnell auf und öffne die letzte verbleibende Barriere zwischen uns, ohne ihm zu antworten.

„Ist das wahr?" Es hört sie wie ein Vorwurf an, was mir den Rest gibt. Ich eile an ihm vorbei und nutze meine verbliebene Kraft, um in mein Zimmer zu kommen. Sobald die Tür ins Schloss gefallen ist, schließe ich ab und verkrieche mich im Bett. Hatte Mauro heimlich gelauscht? Wie tief sollte ich in seinen Augen noch sinken? Ich vergrabe mich in der Decke, spüre nichts außer der Panik, die sekündlich größer wird und mich droht zu zerreißen. Es fühlt sich an, als würde großes Gewicht auf meiner Brust liegen und jeder Atemzug wird schwerer. Ich höre das Rauschen meines Blutes, lauter als jemals zuvor und ich kann nichts tun, außer die Panikattacke von alleine abebben zu lassen. Das Klopfen an der Tür gleicht dem Schlagen eines Hammers. Laut, bedrohlich. Ich mache mich klein und kauere in Embryonalstellung.

... 9 Tage später ...

Bis zur Beerdigung blieb ich im Zimmer. Ich verbrachte die Nächte wach und suhlte mich in Mitleid. Ich schrie, weinte, versuchte, das Geschehene hinter mir zu lassen. Tagsüber war ich müde und niedergeschlagen, versuchte den Schlaf, der mir nachts nicht gelingen wollte, bestmöglich nachzuholen. Äußerlich, sehe ich besser aus. Die meisten Blessuren sind verschwunden, wenn man von meinem Hals absieht, aber meine inneren Wunden klaffen hässlich und schränken mich ein. Einzig und alleine Davide versorgte mich mit Essen und Trinken. Ich wollte keinen sehen, geschweige denn sprechen. Davide, akzeptiere das und beließ es dabei. Um der Familie Caruso meinen Respekt zu zollen, werde ich mich heute zusammenreißen. Ich werde sie auf das Begräbnis und die anschließende Trauerfeier begleiten. Ein schwarzes Kleid, hatte ich gestern Abend bereits rausgehängt, in welches ich sogleich steigen werde.

„Bist du soweit?" Davide kommt wie gerufen, da ich bedenke, dass es unmöglich ist, den Reißverschluss alleine zu schließen. Ich öffne die Tür und zeige ihm direkt, was er zu tun hat. Vorsichtig, schiebt er meine Haare über meine Schulter und schließt in einer fließenden Bewegung den Reißverschluss.

„Danke." Ich zwinge mich zu lächeln und drehe mich erst um, als ich sicher bin, dass es mir gelungen ist. In seinem Gesicht hingegen ist nur Ernsthaftigkeit zu sehen.

„Hör zu, wir machen das jetzt neun Tage mit. Ich habe dich gelassen und dir alle vom Leib gehalten, weil du es gebraucht hast." Er streift seine Hand durch die Haare, bevor er ungehalten weiterspricht.

„Das hat ein Ende! Morgen früh, wirst du dich zusammenreißen und ich werde dich zu einem Psychologen br..."
Heftige Übelkeit überkommt mich, die mich direkt ins Bad stürmen lässt. Die Tür habe ich nicht mehr geschafft zu schließen und so muss ich mich mit einem Zuschauer arrangieren. Er glaubt zu wissen, aber er liegt falsch!

„Wie oft hast du gebrochen?" Ich schaue nicht auf, dennoch weiß ich, dass er mich von der Seite mustert. Ich lasse die Klospülung laufen, gehe zum Waschbecken, um mich zu waschen.

„Emilia, wie oft?", fragt er ein weiteres Mal verbissen, als hätte ich mitgezählt.

„Zwei Mal, drei Mal, ... egal was du denkst, du liegst falsch!" Ich drücke mich an ihm vorbei, hatte er nicht vor, den Türrahmen freizugeben.

„Du siehst nicht gut aus." Ich lache künstlich auf:

„Nach neun Nächten, des Weines, wer zum Teufel würde da gut aussehen? Und außerdem wusste ich nicht, dass man auf einer Beerdigung gut aussehen muss." Ich bin sichtlich genervt und habe nicht vor, mir das noch weiter anzuhören. In die High Heels bin ich schnell geschlüpft und bin versucht, schnellstmöglich dieses Zimmer zu verlassen.

„Emilia, morgen schleife ich dich dorthin, wenn es sein muss", ruft er mir noch hinterher. Ja, ich laufe vor Davide weg, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, nun auf alle anderen zu treffen. Menschen, denen ich die letzten Tage aus dem Weg gegangen bin, ohne jegliche Erklärung. Zum Glück ist Dario der Erste, der auf mich zukommt.

„Ich dachte nicht, dass du kommst."

„Mir geht es gut." Davide hat mich eingeholt, hört den kurzen Wortwechsel und straft mich mit einem wissenden Blick.

„Bei wem fährst du mit? Wir fahren mit zwei Autos", möchte Dario in Erfahrung bringen und setzt sich in Bewegung. Automatisch folge ich ihm nach draußen und sehe die Anderen bereits im Auto sitzen.

„Kann ich bei dir mitfahren?", frage ich in der Hoffnung, nicht mit Mauro und Enea in einem Auto sitzen zu müssen.

„Gut, dann fährst du mit Davide und mir." Ich nicke ihm zu. Davide, parkt vor uns, sodass Dario das Auto umranden muss, eher er einsteigt. Ich hingegen nehme hinten Platz.

Auf halber Strecke geraten wir in einen Regenschauer, dicke Regentropfen prasseln auf das Auto herab und die Scheibenwischer arbeiten auf Hochtouren. Ich bemerke Davide, wie er immer wieder einen Blick durch den Rückspiegel auf mich wirft, ganz so, als würde er mir damit demonstrieren wollen, wie recht er hat.

„Fahr an den Carabinieri vorbei", stellt Dario sicher. Die Dienstwagen sind in Position, bereit jederzeit einzugreifen, falls irgendetwas aus dem Ruder laufen sollte. Eine beachtliche Menschenmenge steht bereits vor der Kirche. Schwarze Regenschirme, Anzüge und Zigarettenqualm, mehr kann ich nicht erkennen.

„Geht rein, ich parke", weist Davide an und bringt den Wagen zum Stehen, er legt seine Hand auf Beifahrerrückenlehne und wendet sich mir zu, als Dario aussteigt.

„Warte kurz." Dario macht sich am Kofferraum zu schaffen und kommt schließlich mit einem Regenschirm zurück. Erst jetzt lässt er mich aussteigen. Zusammen laufen wir durch die Menschenmenge, die zur Seite treten, damit wir passieren können.

„Wir warten auf die Anderen", beschließt er am Eingang der Kirche.

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