Kapitel 26 • Mauro •
Ich bin stolz auf mich, auch wenn mein Ego darunter gelitten hat. Mich der Art vor Emilia gehen zu lassen. Nichtsdestotrotz war es eine gute Entscheidung, zu Emilia zu gehen. Dario wird es nicht gutheißen, aber ich möchte sie um jeden Preis dabei haben.
„Bist du bereit?", vergewissere ich mich, als wir vor meiner Bürotür stehen bleiben.
„Ich glaube schon", antwortet sie unsicher.
„Ich bin bei dir, wenn es dir zu viel wird." Sie soll wissen, dass ich auf ihrer Seite stehe. Nichts ist mir im Augenblick wichtiger. Ihr Wohlergehen hat für mich oberste Priorität. Ich möchte gerade die Türklinke drücken, als sie meine Aufmerksamkeit für sich beansprucht.
„Mauro?" Ich lasse die Türklinke los.
„Danke." Ihre Augen strahlen Dankbarkeit aus. Ich zwinkere ihr zu und lege meinen Arm um sie. Sie soll diesen Weg nicht alleine gehen, Enea ist nicht das Problem, es ist der Rest, der wie eine tickende Zeitbombe auf sein nächstes Opfer wartet.
„Was verstehst du nicht an Familiensitzung?", poltert Dario uns direkt entgegen. Ich verstehe seine Bedenken und würde wahrscheinlich genauso reagieren.
„Sie ist ein Teil dieser Familie und ich werde den Teufel tun und sie wegschicken!", vertrete ich meinen Standpunkt. Ich bin nicht bereit, davon abzulassen.
„Unter deiner Verantwortung. Du weißt, welche Konsequenzen das haben kann." Er spielt die Verschwiegenheitskarte aus. Ich weiß, was es bedeutet, wenn dieses Gespräch den Raum verlassen sollte. Ich schaue Emilia an.
„Dieses Gespräch darf diesen Raum nicht verlassen."
„Das, was hier gesprochen wird, bleibt hier in diesem Raum", wiederholt sie und nimmt Platz. Sie ist wie ausgewechselt, vollkommen ernst und bereit, sich dieser Sache zu stellen.
„Mauro hat mich gebeten, die Korrespondenz zu führen, in Bezug auf Papá. Die Beerdigung und die Trauerfeier finden in elf Tagen statt. In drei Tagen tagt die Kommission in Adrano." Ich verstehe nicht genau, warum das für uns wichtig sein sollte. Papá ist tot, ebenso wie alle Verpflichtungen gegenüber der Kuppel.
„Und?", hinterfrage ich süffisant.
„Ich habe eine Einladung erhalten. Sie haben mich zum Capo dei Capi ausgerufen." Davide klatscht Tribut zollend in seine Hände.
„Nicht dein Ernst?" Enea grinst, freut sich für die Chance, die Dario zuteilwird. Ich wiederum bin vorausschauend. Dario wird diese Familie spalten.
„Du hast keinerlei Erfahrung", werfe ich ein und ernte damit einen bösen Blick seinerseits.
„Es war klar, dass du ein Problem damit hast, in der Hierarchie unter mir zu stehen", erwidert er scharf. Im Prinzip habe ich kein Problem damit, ich befürchte nur, dass er sich trotz anderer Baustelle zu sehr in das Tagesgeschäft einmischen könnte. Er wird mir das Leben unnötig schwer machen. Giulia erhebt sich prompt.
„Ich bekomme deinen Club, nur damit das klar ist."
„Ist klar, du hast keinen Plan vom Leben!", protestiert Enea.
„Halt deine Fresse! Deine Interessen liegen woanders", sprüht Giulia wütend.
„Fick dich!" Die Stimmung wird unruhig und gerät langsam außer Kontrolle.
„Giulia, ich will mich da ja nicht einmischen, aber Enea hat recht", mischt sich Davide ein.
„Noch ist nichts entschieden."
„Cazzo, basta ora!", werde ich lauter als beabsichtigt. Emilia zuckt neben mir kurzzeitig zusammen. Ich lege ihr in einer rückversichernden Geste meine Hand auf ihr Knie.
„Wo ist der Haken, Dario? Du trommelst uns nicht zusammen, um nach Erlaubnis zu fragen." Ich habe ihn durchschaut. Es muss etwas anderes sein.
„Ich soll meine Loyalität unter Beweis stellen." Der Unterton gefällt mir ganz und gar nicht. Was wird von meinem Bruder verlangt, dass es einer Familiensitzung bedarf?
„Sie wollen Giona." Ich weiß nicht, ob ich mich gerade verhört habe, aber Emilia hat gerade etwas angeschnitten. Dario guckt blöd aus der Wäsche, gerät aber relativ schnell in Erklärungsnot.
„Der Vergeltungsschlag galt nicht nur unserer Familie, sondern der gesamten Cosa Nostra", argumentiert er, wie Vater es getan hätte.
„Die Kommission erhebt Anspruch auf den Mann, dessen Schicksal ich reserviert habe. Niemals! Ich entscheide, was mit ihm geschieht!" schreie ich tief und kehlig.
„Es ist mein Recht und ich bestehend drauf."
„Du möchtest dich nicht gegen die Kuppel stellen, das übersteigt deine Kompetenz!", verhöhnt er mich vor der gesamten Familie.
„Mauro, sei vernünftig!", sagt Davide besorgt und stellt sich damit auf die Seite von Dario. Ich kann es nicht fassen, er ist Vater ähnlicher als je zuvor.
„Es ist bereits entschieden. Nach der Beerdigung werde ich ihn übergeben. Er wird sich gegenüber der Kommission verantworten müssen", beschließt er endgültig und bindet meine Entscheidungsgewalt unwiderruflich. Ich bin stinksauer, die Rache, die mir zusteht, genommen von meinem älteren Bruder.
„Ich bekomm' den Club", wiederholt Giulia gelangweilt und verlässt damit auch die Sitzung. Davide erhebt sich direkt danach.
„Ich lass' ihn runter", entschuldigt er und macht sich auf den Weg zu Giona.
„Ich möchte ihn sprechen." Emilias Tränendrüsen drohen überzulaufen. Sie ringt mit ihrer Fassung, möchte das nicht offenkundig nach außen tragen.
„Morgen", stimmt Dario ihrer Bitte zu, er erhebt sich ebenfalls und lässt uns drei zurück. Ich atme tief ein, in meinem Kopf haben sich viele Szenarien abgespielt. Dieses jedoch, lang außerhalb meiner Vorstellungskraft.
„Ich wollte zu Mamma fahren. Kommt ihr mit?", will Enea wissen und erschwert das Gewicht meines schlechten Gewissen immens. Ich war so beschäftigt mit meiner Rache, dass ich es nicht für nötig gehalten habe, sie ein einziges Mal an ihrem Krankenbett zu besuchen. Es sind erst drei Nächte seit der notte di sangue vergangen, es fühlt sich aber so an, als wäre es gestern gewesen.
„Sie wird mir den Kopf abreißen", setze ich Enea in Kenntnis. Natürlich wird sie das, sie ist meine Mutter.
„Wenn du nicht mitkommst, dann auf jeden Fall."
Seit knapp fünf Minuten stehen wir vor der Tür zum Krankenzimmer. Man könnte meinen, es solle einfach sein, sie zu öffnen und hineinzugehen, aber nein, es ist nicht einfach. Ich weiß nicht, was mich hinter dieser Tür erwartet. Wie viele Kabel und Schläuche werden den zierlichen Körper meiner Mutter versorgen? Ist sie in der Lage zu sprechen?
„Wir können draußen warten." Sanftmütig streichelt Emilia über meinen Rücken. Auf der Suche nach Bestätigung schaue ich zu Enea. Er deutet in einer leichten Kopfbewegung Richtung Mamma. Es nimmt den Druck raus, den ich seit der notte di sangue verspüre. Nicht trauern zu können, abrufbereit zu sein oder sich wie eine Starkstromleitung zu fühlen. All das wird, sobald ich durch diese Tür gehe, von mir abfallen. Es wird meine fürsorgliche Seite und vor allem meine Verletzlichkeit zutage bringen. Ich zeige diese Seite nicht gerne, denn wenn ich eins von meinem Vater gelernt habe, dann ist es seine Gefühle und Emotionen nicht nach außen hinzutragen. Du wärst für deine Feinde leicht zu lesen und sie würden sich nicht scheuen deine Schwachstellen gegen dich zu verwenden. Schließlich öffne ich die Tür, versuche meinen Blick erst auf das Bett zu richten, bis die Tür hinter mir wirklich verschlossen ist.
Erst jetzt traue ich mich aufzuschauen. Unzählige Schläuche, die dazu gedacht sind, ihre Vitalwerte zu messen. Sie haben ihr von dem guten Zeug gegeben, bedenkt man, dass die Kugel ihr Brustbein getroffen hat und es gesplittert ist. Die Operation war kompliziert und ihr Leben stand mehr als einmal auf der Kippe. Lautlos bewege ich mich vorwärts, das Ziel ist der Stuhl neben ihr.
„Das hätte nicht passieren dürfen", wiederhole ich immer und immer wieder in meinen Gedanken und mache es zu einer Art Mantra. Ich nehme ihre Hand, lege sie an meine Stirn und versinke in meiner Schuld. Meine Tränen fließen unaufhaltsam und nähren den Knoten, der sich in meiner Brust gebildet hat. Sie hätte sterben können und nicht nur ich hätte meine Mutter verloren. Es ist schlimm genug, dass wir Papá verloren haben, aber beide ...
„Mauro?" Ihre Stimme ist schwach, kaum mehr als ein Flüstern. Zuversichtlich drückt sie meine Hand.
„Du wirst wieder gesund", wispere ich bestimmend. Sie ist immerhin die stärkste Frau, die ich kenne.
„Du siehst schrecklich aus." Sie zwingt sich zu einem Lächeln, versucht mich damit abzulenken. Selbst unter diesen Umständen ist sie selbstlos und darauf bedacht, meinen Schmerz über den ihren zu stellen.
„Es war nicht viel Zeit für Essen und Schlaf." Mit der freien Hand streife ich durch mein Gesicht und schiebe die letzten Tage nach hinten. Mamma drückt meine Hand fester, versucht sich unter Schmerzen sogar aufzurichten.
„Was machst du da? Bleib liegen!"
„Sei ihm nicht böse, hörst du?" Ich stehe auf dem Schlauch, komme nicht gleich dahinter.
„Dario, er muss das tun." Ich versteife mich, ich hätte nicht gedacht, dass Mamma davon weiß.
„Bitte, reden wir über etwas anderes." Ich möchte jetzt nicht darüber sprechen, außerdem wäre es kontraproduktiv, wenn sie sich aufregt.
„Ich habe das Telefonat mitbekommen, er war nicht wirklich begeistert."
„Mamma bitte", falle ich ihr ins Wort. Sie seufzt und wechselt auch gleich das Thema.
„Wie geht es Emilia?", fragt sie und lenkt das Thema in eine weit unangenehmere Unterhaltung.
„Sie ist hier, soll ich sie reinholen?" Ich gehe davon aus, dass sie weiß, was passiert ist und deswegen hat sie sicherlich mit einer Antwort gerechnet. Ich muss sie enttäuschen, ich kann es nicht in Worte fassen, wie sie sich fühlen muss.
„Ich gebe euch einen Moment." Ich lasse sie nicht zu Wort kommen und gehe stattdessen zur Tür.
„Sie möchte mit dir sprechen."
„Mit mir?", starrt sie mich ängstlich an.
„Ja, ich warte mit Enea draußen." Ich halte ihr die Tür auf und lasse sie ohne weiteres hineingehen. Ich massiere angestrengt meine Nasenwurzel und ignoriere die taxierenden Blicke von Enea.
„Mamma mag sie." Er lächelt leicht, bevor er mit seiner Hand auf meine Schulter klopft.
„Komm, lass uns Espresso holen." Eine gute Idee, denn es verlangt auch, nach einer Portion Nikotin.
Draußen, mit einem frischen Espresso und einer Kippe, bin ich empfänglicher für all das, was Enea mir zu erzählen hat.
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