Kapitel 23 • Emilia •
Davide hat noch kein Wort gesagt, seitdem wir quasi aus dem Keller rausgeschmissen worden sind. Er hat seine gefühlskalte Art wieder angenommen. Die ihn von Anfang an sehr unsympathisch wirken lässt. Er war den Morgen über anders. Seine Art und Weise, wie er mit mir umging, bringt mich dazu, ihm zu vertrauen. Das Geheimnis, welches ich bereit war, mit in mein Grab zu nehmen. Ich erzählte es ihm einfach so. Er urteilte nicht und hatte sogar Verständnis. Ich halte es für das Beste, zurück nach oben zu gehen und weitere Konfrontationen zu vermeiden.
„Emilia, warte", ruft er mir nach und bringt mich damit an Ort und Stelle innezuhalten. Er nimmt zwei Stufen auf einmal, bis er vor mir zum Stehen kommt. Er deutet auf die Treppe, sagt wortlos, dass ich neben ihm Platz nehmen soll. Ich komme seiner Bitte nach und warte, dass er etwas sagt.
„Das unten hatte nichts mit dir zu tun", stellt er klar.
„Okay."
„Ich hätte dich nicht nach unten bringen dürfen."
„Davide, was ich dir erzählt habe." Plötzlich ist es mir wieder unangenehm, darüber zu sprechen.
„Du musst dich nicht verstecken, nicht vor uns. Du kannst mir vertrauen." Seine warmherzige Seite kommt wieder zum Vorschein und lässt mich meine Zweifel vergessen.
„Werdet ihr ihn töten?", frage ich und hoffe auf eine ehrliche Antwort.
„Ja."
„Du sagst, du weißt, was sie mir angetan haben. Hat Mauro ...?" Tränen sammeln sich, bereit, um vergossen zu werden. Es ist eine Sache, gedemütigt worden zu sein, aber zu wissen, dass andere es gesehen haben könnten, befördert die Demütigung auf ein neues Level.
„Nein, er hat es nicht gesehen." Ein Fels rollt von meinem Herzen.
„Ich muss dir etwas sagen", raunt er nachdenklich und nimmt meine Hand. Das Zittern setzt erneut ein. Ich habe Angst.
„Als wir dich da rausgeholt haben." Ich unterbreche ihn, da ich mir denken kann, auf was er hinaus möchte.
„Ich kann mich nicht erinnern."
„Giona war unter der Dusche, aber" Dieses Mal muss er nichts sagen, denn er lässt den Satz unvollendet.
„Es war eindeutig", beende ich für ihn. Zögernd nickt er mir zu und bestätigt mir, was ich schon glaubte zu wissen. Die Erkenntnis lässt den Damm der Tränen brechen und ich kann nicht anders, als dieser Situation zu entfliehen. Ich lasse ihn auf der Treppe zurück und stürme zurück in mein Zimmer. Ich rutsche an der geschlossenen Tür herunter und vergesse Raum und Zeit.
Stunden müssen vergangen sein, in denen ich jämmerlich geweint habe. Anfangs dachte ich, ich bilde es mir ein, aber nein, es klopft wiederholt an meine Tür.
„Davide, ich möchte allein sein."
„Na komm, mach auf. Ich bin's", höre ich Enea. Ich wische die Überreste der getrockneten Tränen aus meinem Gesicht und öffne die Tür. Müde, aber warme Augen mustern mich.
„Darf ich reinkommen?", erkundigt er sich vorsichtig. Ich trete beiseite und lasse ihn rein.
„Du siehst müde aus." Ich kann ein kleines Lächeln aufbringen.
„Auf Krankenhausstühlen schläft es sich schlecht." Ein schlechtes Gewissen schleicht sich ein. Hatte ich nicht einmal gefragt, ob jemand bei meiner Befreiungsaktion verletzt wurde.
„Es tut mir leid, ich wusste nicht. Ich hab noch nicht einmal gefragt", entschuldige ich mich aufrichtig. Mit einem erzwungenen Lächeln und seinen Händen in den Hosentaschen schlendert er zum Bett und setzt sich auf die Kante. Mit seinen Ellenbogen stützt er sich auf seinen Knien ab, beugt sich nach vorne und vergräbt sein Gesicht in seinen Händen. Wie hypnotisiert schaue ich auf seine Brust, die sich hebt und senkt. Mir wird nun umso mehr bewusst, wie fertig er ist.
„Es war ein Hinterhalt", hallt es durch seine Hände. Er fährt durch sein Gesicht, lässt seine Handballen über seine Stirn kreisen. Seine Augen sind glasig und seine Gestalt zerbrechlich.
„Als wir gingen, ließen wir Giulia und meine Eltern hier zurück. Zwölf Stunden dauerte die OP meiner Mutter. Für meinen Vater ..., er ist tot." Seine Stimme klingt traurig, was mich an meine Eltern erinnern lässt. Ich setze mich zu ihm, lege meine Hand auf seine Schulter, um ihm Trost zu spenden.
„Ich weiß nicht, was ich sagen kann, es tut mir so leid." Vor zwei Tagen hätte ich ihm vielleicht etwas sagen können, was ihn aufheitert, aber aktuell fühlt sich alles schrecklich an.
„Hast du schon etwas gegessen?", möchte er wissen und irritiert mich damit.
„Ja, heute Morgen. Du nicht?"
„Nein, nicht wirklich." Ich beschließe ihm, etwas Gutes zu tun und ziehe ihn mit mir auf die Beine.
„Komm, ich werde kochen. Wir haben schon nach Mittag, ich denke, alle haben eine warme Mahlzeit verdient."
„Ruh dich aus, du musst wirklich nicht kochen."
„Ich möchte es aber", kontere ich und lasse damit keinen Spielraum zur Widerrede. Die Tür habe ich bereits aufgerissen, als er sich mir anschließt.
Der Kühlschrank gibt nicht viel her. Der Gefrierschrank dafür umso mehr. Ich entscheide mich für die Garnelen.
„Kannst du gucken, ob wir Linguine dahaben?" Im Kühlschrank finde ich zumindest Parmesan, der noch haltbar ist. Enea geht derweil an den Schrank, in dem die Pasta aufbewahrt wird und reicht mir zwei Packungen.
„Linguine."
„1 kg?", frage ich unsicher.
„Ja, warum nicht." Ich lege die Garnelen in eine Schüssel Wasser und lasse sie dort auftauen. Einen großen Topf fülle ich mit Wasser und stelle ihn auf den Gasherd. Ich bin vollkommen vertieft in dem, was ich mache und blende alles andere aus.
Das Essen ist fertig, dass es ohne Probleme serviert werden kann. Enea hat zwischenzeitlich den Tisch gedeckt. Nicht wie angenommen für sechs Personen, sondern nur für vier. Zwei weitere Teller stehen neben einem doppelten Tablet. Es lässt vermuten, dass zwei von uns sechs vorhaben, nicht mit uns am Tisch zu sitzen.
„Mauro und Davide haben zu tun. Sie essen, wenn es die Zeit zulässt. Giulia sollte jeden Moment durch die Tür kommen", informiert er mich, nachdem er meinen Gedankengang beobachtet hat. Seine hellseherischen Fähigkeiten können sich sehen lassen. Giulia ist tatsächlich zurückgekommen, in Begleitung von Dario.
Auch Dario hat die Zeit im Krankenhaus zugesetzt. Dunkle Augenringe zieren seinen sonst makellosen Teint. Er wirkt besorgt und abwesend, als wären seine Gedanken ganz woanders.
„Ich hoffe, es ist genug da", lächelt Giulia und erhellt damit die dunkle Stimmung, die schlagartig aufgezogen ist.
„Mauro?", fragt Dario scharf.
„Lass uns essen, bevor wir runtergehen." Er antwortet nicht weiter und setzt sich schweigend an den Tisch. Giulia reicht mir die Teller, um mir Arbeit abzunehmen. Jeder von uns konzentriert sich auf seinen Teller, gesprochen wird eher weniger. Immer wieder schaue ich zu den Anderen und bemerke erst jetzt, dass sie alle schwarz tragen. Natürlich, Vincenzo Caruso zählt nun nicht mehr zu den Lebenden.
„Brauchst du einen Arzt?", höre ich nur halbherzig, da ich nicht denke, dass die Frage an mich gerichtet ist.
„Emilia?", hakt er nach.
„Ja?"
„Soll ich einen Arzt kommen lassen?", fragt Dario erneut.
„Nein, ich denke nicht."
„Meinst du nicht ein Gynäkol-"
„Sie hat nein gesagt!", platzt es aus Enea heraus und schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch. Dario greift nach der Serviette, wischt seinen Mund ab, bevor er weiter spricht.
„Cazzo. Sie wurde vergewaltigt! Ein Arzt sollte sich das ansehen, für den Fall der Fälle", seine Stimme ist kehlig. Wenn man es sachlich betrachtet, hat er recht. Ich bin aber nicht in der Lage, es sachlich zu betrachten. Seine Worte brechen wie Wellen über mir ein. Keiner hatte es bis jetzt ausgesprochen und darüber war ich bis zu diesem Zeitpunkt dankbar gewesen. Der Stuhl knarzt über den Boden, als ich ihn zurückschiebe, um aufzustehen. Ich sage nichts, spüre die Blicke aller auf mir. Wie ein Reh im Scheinwerferlicht stehe ich da, unfähig den ersten Schritt zu machen.
„Emilia", Eneas Stimme ist sanft, aber auch melancholisch. Der Impuls reicht aus, um mich zum Gehen zu bewegen. Ich schaue nicht zurück und versuche das Gesagte zu verdrängen.
„Cretino, dein Einfühlungsvermögen ist gleich null." Ich hätte mir gewünscht, er wäre unten geblieben, aber stattdessen betritt er kurz nach mir mein Zimmer. Ich will nicht mehr weinen, auch wenn das heißt, in meinen Tränen ertrinken zu müssen. Echter Schmerz ist unbegreiflich. Die äußeren Wunden werden heilen, aber der Schmerz der Seele würde bleiben.
„Es tut mir leid, Dario hatte kein Recht, dir das auf diese Weise zu sagen", flüstert er und streichelt meine Wange. Enea brachte mir vom ersten Tag an Verständnis entgegen. Er war warmherzig und zeigte mir die Möglichkeit eines Auswegs auf. Ich wollte es ihm erzählen, was sich damals wirklich zugetragen hat. Wenn ich ehrlich bin, ließ ich es bei der Halbwahrheit.
„Es gibt nichts, was mir ein Arzt sagen kann, was ich nicht schon weiß", schluchze ich und erinnere mich deutlich an die Worte des Arztes, der mich nach der Fehlgeburt untersuchte.
„Du hast mir damals nicht alles erzählt." Wachsam schaut er auf mich herab, auf der Suche nach einem Hinweis, der mich verraten könnte. Ein kleiner Brocken könnte ihm genügen und seine Neugier stillen.
„Ich hatte eine Fehlgeburt vor knapp acht Jahren." Woher diese Geheimniskrämerei kommt? Ich kann es nicht beantworten, es liegt in der Vergangenheit und sollte für mich kein Problem darstellen, die Wahrheit zu offenbaren. Ist es das Schamgefühl, welches mich davon abhält? Rechtliche Schritte, hätte ich zumindest nicht mehr zu befürchten.
„Es ist viel Zeit vergangen, vielleicht", antwortet er und hinterlässt in diesem bizarren Moment einen kleinen Funken Hoffnung.
„Ich glaube nicht, dass mich Gott der Art auf die Probe stellen würde." Ich erlaube mir, einen kurzen Augenblick darüber nachzudenken. Was wäre, wenn Gott mir die Möglichkeit einräumen würde, Wiedergutmachung zu leisten? Wäre ich dazu in der Lage, das Leben auszutragen und es zu lieben? Ganz gleich, wie es entstanden sein mag.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top