Kapitel 20 • Mauro •


Alles ähnelt einer Zerreißprobe, seitdem wir die Pforten unseres Anwesens durchschritten haben. Angefangen vom schlaffen Körper Emilias bis hin zum Schlachtfeld, welches sich vom Wohnzimmer bis in die Küche erstreckt. Sie haben damit gerechnet, uns alle zu überrumpeln, nicht nur meine Eltern und meine Schwester. Sie dachten, wir seien alle zu Hause. Wir hatten sie schutzlos zurückgelassen und das haben wir, vor allem sie, teuer bezahlt. Giulia wirkt seltsam gefasst, nachdem sie mit ansehen musste, wie Papà das Leben aus den Augen wich. Man hat ihn brutal zugerichtet, bis er wahrscheinlich seinen Verletzungen erlegen ist. Jetzt ist Giulia oben bei Emilia und wacht über sie. Welche Drogen es auch waren, sie haben sie ausgeknockt.

Zurück zum Hauptproblem: Der Capo dei Capi ist gefallen und wir haben keinen blassen Schimmer, wer es war. Die Verbündeten Gentiles ließen ihr Leben bei der Verlobung. Dennoch war es jemandem gelungen, hier bei uns zu Hause einzudringen und das Leben meines Vaters auszulöschen. Mammas Leben hängt am seidenen Faden und sie wird noch operiert. Eine Kugel in der Brust und man hatte sie zum Sterben liegen gelassen. Dario und Enea sind bei ihr. Davide ist bei mir geblieben und hat sich erst um unsere Gäste gekümmert.

Jetzt, ohne wirkliche Aufgabe, läuft er unruhig auf und ab.

„Wir sollten keine Zeit verlieren", bringt er hektisch hervor. Er hat recht, aber es wäre unklug, unüberlegt zu handeln. Es würde Chaos ausbrechen, wenn wir die anderen Capos zu früh über das Ableben des Höchsten berichten würden.

„Cazzo, siehst du, wie es hier aussieht?", frage ich ihn fassungslos. Ich könnte mir die Seele aus dem Leib schreien, tue es aber nicht.

„Willst du mich verarschen?", schreit er kehlig. Er ist aufgebracht, das kann ich an seinen bebenden markanten Kieferknochen erkennen. Was es in mir auslöst, kann ich gar nicht beschreiben. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich ratlos. Ich stelle mir die Frage, ob Papà die richtige Entscheidung getroffen hat, alles in meine Hände zu legen, statt in die von Dario. Ich versuche mich zu konzentrieren, massiere meine Nasenwurzel bis ich letztendlich die richtigen Worte beisammen habe.

„Dein Onkel liegt ein Zimmer weiter in seinem eigenen Blut, welches noch nicht getrocknet ist. Deine Tante, wird es vielleicht nicht schaffen und da fragst du mich, ob ich dich verarschen will?" Meine Zähne sind aufeinander gepresst, denn ich möchte, dass er die Bedeutung dahinter versteht.

„Unterstellst du mir Mangel an Respekt? Er war auch für mich wie ein Vater!", erinnert er mich. Giovanni starb, als Davide keine fünf Jahre alt war, und mein Vater nahm ihn unter seine Fittiche. Das war das Mindeste, was er für seinen Bruder tun konnte. Wie könnte ich ihm dann Respektlosigkeit vorwerfen? Er war der Einzige, der meinem Vater zu jederzeit loyal war. Ohne eigensinnig zu handeln oder den Gehorsam zu verweigern.

„Sie haben Priorität! Sobald Enea oder Dario ..."

„Sie wird wach!", unterbricht mich Giulia. „... sich melden, schauen wir weiter", beende ich meinen Satz.

„Setzt du dich mit der Pietät auseinander?", fragt Davide etwas skeptisch.

„Ruf an, sobald sie hier sind, übernehme ich." Ich mache auf dem Absatz kehrt und sehe zu, dass ich herausbekomme, was Emilia widerfahren ist. Die Würgemale waren nicht zu übersehen. Ich muss wissen, wie es ihr geht. Oben angekommen warte ich auch nicht lange, sondern stoße die Tür auf. Giulia hilft ihr gerade auf. Erbrochenes liegt zu ihren Füßen. Sie wirkt schwach und ängstlich.

„Gib ihr Zeit, sie ist noch nicht so weit", wirft sie mir über die Schulter zu. In Gedanken stoße ich Giulia zur Seite und schließe Emilia in meine Arme. Ich würde für sie da sein, sie beschützen.

Bei dem Gedanken werde ich nervös, balle meine Fäuste. Die Gewissheit, ihr eben nicht den Schutz geboten zu haben, denn ich ihr mehrmals versichert habe, lässt mich nicht los.

„Das entscheidest nicht du!" Ich weiß nicht, was ich von ihr erwarte, aber dass sie auf den Schutz meiner Schwester angewiesen ist, zeigt mir nur um so mehr, wie sehr ich versagt habe.

„Du auch nicht! Also hör auf mit dem Scheiß!", antwortet sie bissig. Ich möchte nicht streiten, möchte lediglich die Stimme von Emilia hören, auch wenn sie mich wegschicken würde. Es wäre besser als nichts.

„Ich will es von ihr hören", zische ich, obwohl ich es nicht vorhatte.

„Geh." Es ist kaum hörbar, aber ich habe es verstanden. Giulia wendet mir erneut den Rücken zu und schenkt ihre Aufmerksamkeit Emilia.

„Geh, bitte!", wiederholt sie etwas lauter. Um das Ganze zu untermauern, reißt Giulia ihren Kopf nochmal herum.

„Du hast sie gehört, jetzt geh!" Giulias Augen starren mich nieder und erinnern mich an Papá, wie er mit bloßen Blicken töten konnte. Ich sage nichts mehr, frustriert drehe ich mich um und schließe die Tür unsanft hinter mir. Aufgekratzt marschiere ich in die Küche, in der Papá immer noch in seiner Blutlache liegt und öffne die kleine Bar. Der Bourbon sollte mich etwas herunterholen. Ich mache mir nicht die Mühe, ein Glas aus dem Schrank zu nehmen, sondern setze die Flasche gleich an. Nach einem kräftigen Schluck, zünde ich eine Kippe an und schließe meine Augen. Erst die Hand an der Flasche hat zur Folge, dass ich meine Augen öffne.

„Auf Vincenzo Caruso, Capo dei Capi. Ehemann, Vater und Onkel." Ich lasse die Flasche los, damit auch Davide einen Schluck nehmen kann. Er reicht sie mir anschließend wieder.

„Auf Vincenzo." Auch ich nehme einen weiteren Schluck.

„Der Bestatter sollte bald hier sein. Hat sich Enea schon gemeldet?"

„Nein, noch nicht."

„Wie geht es Emilia? Du bist schneller unten als ich dachte."

„Sie wollte, dass ich gehe."

„Sie ist stärker als du denkst", behauptet er zuversichtlich. Ich möchte ihm glauben, denn die Alternative würde kein gutes Ende bedeuten. Schweigend bleiben wir sitzen und warten, bis der Bestatter endlich auftaucht. Zwischenzeitlich rief ich auch unsere Cleaner an. Nichts soll daran erinnern, wenn Dario und Enea nach Hause kommen.

Der Bestatter ist schockiert, als er sieht, um wen es sich handelt. Ich zweifle seine absolute Diskretion an und muss ihm erstmal genau klarmachen, dass er zunächst Stillschweigen bewahren muss. Er ist einer von uns und muss wissen, wie schnell alles aus den Fugen geraten kann, sobald Insider-Infos die Falschen erreicht. Der Mann mittleren Alters geht gewissenhaft an die Arbeit, während Davide und ich einfach daneben stehen bleiben. Mit Argusaugen, verfolge ich seine Schritte und versuche auszublenden, dass es sich hierbei um meinen Vater handelt.

„Lass mich wissen, wenn du fertig bist. Die Totenwache findet in vierzehn Tagen statt", informiere ich ihn, als er den Kofferraum schließt. Er nickt mir zustimmend zu, bevor er einsteigt und losfährt. Ich ziehe mein Handy aus der Hosentasche und schicke Enea eine kurze Nachricht.

„Können sie schon was sagen?" Ich lasse es zurück in die Hosentasche gleiten und laufe gemächlich los.

„Lass uns unseren Gästen etwas Aufmerksamkeit schenken." Davide lässt sich das nicht entgehen und holt schnell auf. Gemeinsam steigen wir die Treppen nach unten und bleiben am Fuße stehen, um die Sicherheitstür zu öffnen. Es ist eine alte Bunkertür und wahrscheinlich seit der Zeit vor meiner Geburt in Betrieb. Die Kellerräume allerdings sind mit der Zeit gegangen, sie wurden modernisiert und mit allen möglichen Spielereien ausgestattet. Wir gehen den Flur entlang, der durch die Bewegungsmelder direkt mit Licht geflutet wird.

„Lass dich nicht provozieren", ermahnt mich Davide und blickt durch die schalldichte Glasfront. Nur schemenhaft sind beide Körper, die an den Armen nach oben gekettet sind, erkennbar. Der Gedanke, dass beide diese Zellen nicht lebend verlassen werden, zaubert mir ein Lächeln aufs Gesicht. Ein kurzes Piepen läutet und die Tür von Gionas Zelle springt auf. Die Neonröhren beginnen zu flackern und kurz darauf erstrahlen die Räume in einem hellen Licht. Die Wände sind fugenlos in Weiß gehalten, wirken clean und sind vor allem praktisch. Davide rückt in den Hintergrund, als ich den Raum betrete.

„Wie laufen die Bestattungsvorbereitungen?", betont Giona amüsiert und eröffnet damit das Gespräch, welches ich im gedrosselten Tempo beginnen wollte.

„Wie unhöflich von mir. Le mie condoglianze." Ohne auch nur eine Frage gestellt zu haben, weiß ich, dass der Tod meines Vaters auf sein Konto geht.

„Du und Saverio also?", frage ich ihn, ohne darauf einzugehen. Eins ist klar, ich hasse diesen schmierigen Wichser jetzt schon und habe wirklich größte Mühe, ruhig zu bleiben.

„Das war nicht schwer, schließlich haben wir den Carusos einiges zu verdanken", seufzt er besonders theatralisch. Klar, hätte man sich das denken können. Umso ungewöhnlicher ist, dass mein Vater das nicht hat kommen sehen. Sie sympathisieren, bevor diese komplizierten Verstrickungen begonnen haben. Beide verloren sehr viel, während wir als Gewinner hervorgingen.

„Du dachtest, du könntest deine alten Geschäfte wieder aufnehmen?"

„Du kannst eins und eins zusammenzählen. Ich würde jetzt für dich klatschen, wie ein kleines verdammtes Kind, aber ...", amüsiert er sich weiter und schaut nach oben zu seinen gefesselten Handgelenken.

„Ich könnte dir einen Waffenstillstand vorschlagen", möchte er verhandeln.

„Du wirst diese Zelle nicht lebend verlassen!", halte ich eisern dagegen. Ich hatte mir fest vorgenommen, mich nicht provozieren zu lassen, doch der Vorsatz schwindet.

„Die Hälfte des Vermächtnisses meines Vaters", kommt ihm nonchalant über die Lippen. Ich kann hören, dass er noch nicht am Ende der Fahnenstange angekommen ist und wende mich von ihm ab. Fürs Erste habe ich genug gehört.

„Für dich das halbe Vermächtnis und für mich Rosa, sie kommt mit nach Neapel!", kläfft er mir hinterher. Fuchsteufelswild presche ich zurück und lasse meine geballte Faust mit seinen Rippen kollidieren. Er keucht auf. Das kurze Knacken lässt keinen Zweifel offen, dass die heutige Nacht für ihn schmerzhaft sein wird. Für mein persönliches Empfinden, noch nicht ausreichend. Ich greife an die Kette, die über eine Flaschenzugvorrichtung mit Gionas Handgelenken verbunden ist und ziehe so lange dran, bis seine Zehenspitzen kaum noch den Boden berühren. Jeder Atemzug bereitet ihm in dieser Position umso mehr Schmerzen und das müsste für diesen Moment reichen.

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