Kapitel 11 • Emilia •


Die schallende Ohrfeige erschüttert das ganze Haus. Die Stille, die darauf folgt, gibt mir eine kleine Verschnaufpause. Die Demütigung, die ihn völlig unvorbereitet trifft, treibt ihn zeitig in die Flucht. Ich wage es nicht, ihn anzuschauen, als er in sich gekehrt die Küche verlässt. Besorgt ruhen die Augen von Rosa auf mir.

„Ich kann das nicht", werfe ich verteidigend ein. Aufgelöst, renne zurück ins Zimmer. Meine Bedenken, mich ihm anzuvertrauen, waren zweifelsohne berechtigt. Ich würde diesen Ort, noch bevor die Sonne aufgeht, verlassen und auch diesen Tyrannen hinter mir lassen.

„Kann ich reinkommen?", dringt kurze Zeit später Eneas Stimme durch die Tür. Ich hatte gehofft, nicht mehr gestört zu werden, also schweige ich stur vor mich hin. Enea deutet das wohl als Einladung, denn er tritt einfach ein. Relativ schnell hat er mich erreicht und zieht mich in seine Arme. Fürs Erste lasse ich es zu.

„Ich lasse dir die Wahl. Sag' mir, wohin du möchtest und ich bringe dich dorthin, egal wie weit weg es sein mag", sagt er so unverblümt, dass ein kleiner Hoffnungsschimmer keimt.

„Er wird dich zerfleischen", gebe ich feststellend zurück.

„Oder du vertraust dich uns an", legt er nach.

„Enea." Ich habe die Angst nicht überwunden, aber was wäre, wenn sie wüssten, was geschehen ist? Würden sie mich fallen lassen? Oder mich gar ausliefern, sobald Giona seinen Fuß in die Freiheit setzt? Kann ich dieses Risiko eingehen? Eigentlich ist die Antwort ganz leicht. Was habe ich zu verlieren? Nichts. Ich habe nichts außer mein Leben, welches nicht lohnenswert ist, solange ich nicht Ich sein kann.

„Mein Bruder würde dich auf Händen tragen, wenn du ihm die Chance geben würdest." Ich lasse es unkommentiert. Die letzten sieben Wochen haben mir gezeigt, dass er das Potenzial hat, mich in den Abgrund zu stürzen. Selbst die jüngsten Ereignisse lassen mich daran zweifeln, dass Mauro seine Wut und seinen Drang zur Zerstörung unter Kontrolle hat.

„Es gab einen Mann, der mich auf Händen trug, bis er mir alles nahm, was mir wichtig war. Alles, Enea. Selbst meine Seele hat er mir genommen", beichte ich in Kurzform.

„Erzähl es mir", bittet er.

„Du würdest es nicht verstehen", halte ich vehement dagegen. Doch Enea lässt nicht locker.

„Dann hilf mir dabei."

„Glaubst du an Gott?", frage ich ihn direkt.

„Ich verstehe nicht ganz, aber ja. Ich glaube an Gott."

„Ich auch, aber ich glaube nicht an Vergebung."

„Man könnte meinen, du hast den Papst ermordet." Auf den kleinen Scherz gehe ich nicht ein. Ich atme tief durch und fokussiere meine Gedanken auf das, was ich im Begriff bin, endlich auszusprechen. Viel zu lange machte ich es mit mir selbst aus und lebte in Angst. Angst, die mich bis in meine Träume verfolgt.

„Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll." Seine warmen Augen mustern mich aufmerksam. Kurzzeitig lässt er seinen Blick durch das Zimmer schweifen und deutet mir Platz auf dem Sessel zu nehmen. Er setzt sich und wendet sich mir erneut zu: „Am Anfang." Nervös streiche ich mir durch die Haare und überlege, wo genau ich beginnen soll. Unterdessen überbrücke ich die Distanz zum Sessel, um ebenfalls Platz zu nehmen.

„Weißt du? Ich bin behütet aufgewachsen und wurde von so ziemlich allem, was mir schaden konnte, ferngehalten. Ich war sogar ganz gut in der Schule. Eine gute Tochter würde ich behaupten." Ein kleines Lächeln, welches meine Augen nicht erreicht, legt sich auf meine Lippen.

„An meinem achtzehnten Geburtstag lernte ich jemanden kennen und kurze Zeit später fingen wir an, miteinander auszugehen. Wir waren uns beide sicher, dass meine Eltern es nicht gutheißen würden, da mein Vater ihnen unterstellt war", fahre ich schmerzerfüllt fort. Die Erinnerung daran führt dazu, dass meine Augen von einem Tränenschleier benetzt werden. Ich ringe mit meiner Fassung, da es sich äußerst schwierig gestaltet, die passenden Worte zu finden.

„Was ist dann passiert?", fragt Enea vorsichtig nach. Unruhe macht sich breit und ich beginne mein Gewicht nach vorne zu verlagern.

„Nach zwei Jahren Beziehung stellte er mich seinem Vater vor. Ich wusste nicht, was sein Problem war, aber er sagte mir Dinge." Unverzüglich breche ich mitten im Satz ab, um an einer anderen Stelle anzusetzen.

„Er wollte, dass ich verschwinde und nie wieder zurückkomme. Ich solle es nicht wagen, seinem Sohn noch einmal zu nahe zu kommen. Mein Fehler war lediglich, es für mich zu behalten. Acht Monate ging es gut, bis zu diesem einen Tag." Die Erinnerungen an diesen Tag flackern über mein geistiges Auge. Der Schmerz, der mich erfasst, ist so groß, dass es mir die Sprache verschlägt. Es fröstelt mich. Unbeholfen lege ich meine Arme um mich selbst, lasse den Schmerz zu. Ebenso die Tränen, die unaufhaltsam einen Weg an die Oberfläche gefunden haben. Eneas Hand wandert unter mein Kinn. Vorsichtig hebt er es an, lässt mir keine andere Wahl als zu ihm aufzuschauen.

„Sag mir seinen Namen." Unfähig, etwas zu sagen, schaue ich ihm in die Augen. Versuche dort meine Stimme wieder zu finden. Ehrfürchtig schaut er auf meine Lippen, wartend auf den Namen, der auf meiner Zunge liegt.

„Der Name", wiederholt er fordernd. Seine dunklen Iriden wirken hypnotisierend und die Dominanz dahinter lockert meine Zunge unverzüglich.

„Giona Pellegrini."

„Giona Pellegrini?", wiederholt er erstaunt. Ich nicke, als würde das Aussprechen seines Namens ein böses Omen bedeuten.

Es ist gut zu erkennen, wie er dabei ist, in Gedanken die Puzzleteile zusammenzufügen und es dauert nicht lange, bis er mich an seiner Schlussfolgerung teilhaben lässt: „Der Prozess war von der Öffentlichkeit ausgeschlossen. Deinetwegen. Du bist die Kronzeugin. Du warst nie eine Novizin. Wir müssen es Mauro sagen." Entsetzt reiße ich mich los.

„Nein, ich", protestiere ich und werde sofort unterbrochen.

„Wir müssen es ihm sagen, Pellegrini ist auf freiem Fuß. Es stand in allen Zeitungen sowie in den Nachrichten. Seine Freilassung hat großes Aufsehen erregt." Ich springe auf die Beine, beginne rastlos hin und her zu laufen. Ich möchte schreien, um meinem Frust ein Ventil zu geben, doch in Wirklichkeit sacke ich auf das Bett. Dass Giona doch so schnell wieder neapolitanische Luft zu schnuppern bekam, hatte ich nicht ahnen können.

„Ich weiß, das muss schwer für dich sein und an Schlaf ist wahrscheinlich gerade nicht zu denken. Aber du solltest schlafen und Kraft für morgen tanken. Alleine sein, jetzt wo ich weiß das Giona auf freiem Fuß ist? Unmöglich.

„Kannst du bitte bleiben?", frage ich verunsichert. Er streicht durch seine Haare, es scheint ihm unangenehm zu sein, aber ich möchte jetzt wirklich nicht alleine sein.

„Dann leg dich hin. Ich bleibe, bis du eingeschlafen bist." Beruhigt lasse ich mich aufs Bett gleiten, ziehe meine Beine in Embryonalstellung. Versichernd legt er seine Hand auf meine Schulter.

„Es wird alles gut", flüstert er kaum hörbar.

„Kannst du mich bitte halten?", wispere ich im Gegenzug in meine Armbeuge. Enea zieht scharf die Luft ein, bevor er sich neben mich legt und seine Brust an meinen Rücken schmiegt. Seinen Arm legt er über meine Taille, seine Hand auf meinem Bauch und gibt mir das Gefühl von Geborgenheit.

„Versuch zu schlafen." Sein heißer Atem arbeitet sich durch meine Haare und trifft auf meinen Nacken. Ich wollte nicht an Mauro denken und doch ist er jetzt so präsent, wie damals in der Nacht, als ich ihn bat, mich vergessen zu lassen. Es dauert eine Weile, bis meine Gedanken zur Ruhe kommen und ich endlich in den frühen Morgenstunden den Schlaf finde.

Es muss bereits mittags sein, denn von Enea ist weit und breit nichts zu sehen. Ob er Mauro den Namen schon verraten hat? Ich habe vor, es herauszufinden, eine kleine Katzenwäsche und eine Jogginghose muss reichen, um dieses Zimmer zu verlassen. Die Tür ist nicht mehr verschlossen. Unsicher bewege ich mich auf dem Flur Richtung Treppe. Es ist leise, für meinen Geschmack zu leise. Wie die Ruhe vor dem Sturm.

„Emilia?" Vor Schreck, lasse ich meine Flasche Wasser fallen.

„Scusa, ich wollte dich nicht erschrecken." Ich schenke Chiara ein dezentes Lächeln: „Schon ok."

„Ich hatte dein Frühstück in den Kühlschrank gestellt. Das Mittagessen wäre aber auch bald fertig."

„Danke, ich möchte nicht essen", gebe ich zurück. Dennoch lächelt sie mich an: „Ich setz' dir einen Espresso auf." Ich folge ihr in die Küche, nehme an der Theke Platz und beobachte sie.

„Na, hat er deinen Hausarrest endlich aufgehoben?" erkenne ich Giulias Stimme.

„Buon giorno", begrüße ich sie knapp.

„Mach zwei Espressos daraus", ordert sie bestimmend an Chiara. Neugierig nimmt sie neben mir Platz. Beäugt mich ganz genau.

„Eigentlich nicht", erwidere ich zeitverzögert auf ihre Frage.

„Und ich sollte dich nicht verpetzen, weil?", bemerkt sie zynisch.

„Rosa, wollte mich nicht länger eingesperrt wissen."

„Gut, das ändert alles", lächelt sie künstlich auf. Kaum zu glauben, dass es sich hierbei um die Zwillingsschwester von Enea handelt. Vier Geschwister, die nicht unterschiedlicher sein könnten. Während Mauro pure Dominanz verkörpert. Einen Drang zur Zerstörung hat und die Arroganz mit dem Löffel gefressen hat, wirkt Dario dagegen eher reservierter. Man kann ihm keine Arroganz zuweisen, da er einfach nur zurückhaltend und verschlossen ist. Ich würde sagen, dass Giulia Mauro am meisten ähnelt. Ihre Sturheit und Voreingenommenheit gegenüber allem und jedem sind nur kleine Beispiele. Sie wuchs immerhin mit drei Brüdern auf, die sie bestimmt nicht mit Samthandschuhen angefasst haben. Wahrscheinlich musste sie sich schon früh gegen sie durchsetzen. Enea ist der Jüngste und zugleich der Herzlichste von allen. Er bemüht sich stets um Frieden innerhalb der Familie, damit tut er es seiner Mutter gleich. Gerne hätte ich Geschwister gehabt, doch das war meiner Mutter nach meiner Geburt nicht möglich. Selbst wenn es geklappt hätte, wären sie wie meine Eltern bereits vor ihren Schöpfer getreten.

„Und du hast nichts zu tun?", frage ich eine Spur zu forsch.

„Ich wüsste nicht, dass dich das etwas angeht. Was ich dir aber sagen kann: Du solltest dich auf jeden Fall beeilen, sie warten bereits auf dich." Überheblich nippt sie an ihrer Espressotasse und benimmt sich so, als hätte ich mich in Luft auf

gelöst. Chiara hingegen hat sich mehr oder weniger von uns entfernt. Ich mustere sie kurz, bevor ich mich erhebe und ins obere Stockwerk zurückkehre. Oben angekommen, laufe ich fast in Davide rein.

„Hier bist du. Er erwartet dich." Wissend nicke ich ihm zu und folge ihm wie sein Schatten in Mauros Büro. Enea und Dario sitzen bereits am großen Tisch in der Mitte. Mauro hingegen sitzt auf der Couch. Davide drängt sich an mir vorbei, um an der Wand Stellung zu beziehen. Und ich? Ich wirke völlig deplatziert in der Welt der maßgeschneiderten Anzüge.

„Die Prinzessin hat ausgeschlafen", verkündet Davide, als ich eintrete. Eingeschüchtert, wie ich bin, vermeide ich den Augenkontakt.

„Lass das Davide!", meldet sich Enea zu Wort und auch Dario hat direkt etwas dazu zu sagen.

„Er hat doch recht!"

„Raus mit euch!", fordert Mauro mit einer Härte in seiner Stimme, die jeden dazu bewegt hätte, schnellstmöglich die Flucht zu ergreifen. Doch Davide und Dario sind harte Brocken. Zweifelsohne würde es auf einen weiteren Hahnenkampf hinauslaufen, wenn es nicht Rosa wäre, die ohne Voranmeldung das Büro betritt.

„Scusa, Giulia hat mich aufgehalten."

„Dario und Davide wollten gerade gehen."

„Das geht die ganze Familie etwas an. Giulia wird auch gleich hier sein", räumt Rosa ein, bevor sie mich in Augenschein nimmt.

„Komm Kind, setz dich." Mit der Hand deutet sie auf einen der freien Stühle. Ich sehe zu, dass ich Platz nehme. Kaum habe ich mich gesetzt, schwenkt die Tür auf und Giulia betritt den Raum.

„Hab' ich was verpasst?", fragt sie bissig. Ohne Umschweife setzt sie sich auf den freien Platz neben Dario.

„Ich komme gleich zur Sache. Es ist kein Geheimnis, dass ich Emilia hier bei uns aufgenommen habe. Abgesehen von zwei oder vielleicht auch drei aus unseren Reihen, haben sie auch alle freundlich willkommen geheißen", verkündet er unzufrieden. Tadelnd mustert er Dario, Davide ebenso wie Giulia.

„Das hat jetzt ein Ende! Ich werde es nicht mehr dulden, geschweige denn tolerieren! Ich habe mich die Nacht lange mit L'ombra unterhalten. Die Informationen würde ich gerne mit euch teilen", klärt er uns auf. Dario beginnt wie ein Stier zu schnaufen: „Sie ist keine von uns!"

„Es betrifft Emilia oder soll ich eher sagen Rosa?", offenbart Mauro letztendlich. Mir wird schlecht, ohne eine Chance gehabt zu haben, es ihm mit meinen eigenen Worten zu erklären. Was weiß er? Hat Enea über meinen Kopf hinweg entschieden, mir die Möglichkeit genommen, es ihm zu erklären?

„Rosa De Luca...

Geboren am 27.01.1995

Mutter: Graziella Conte

Vater: Gaetano De Luca."

Wissend bohren seine Augen sich in die meinen und fährt fort, als hätte er die Akte in- und auswendig gelernt.

„Keine Geschwister. Soll ich fortfahren?"

„Ich verstehe nicht, warum das für uns wichtig ist", mischt sich Davide ein.

„Gaetano De Luca war einer der Soldaten der Camorra. Unter der Führung von Alfredo Pellegrini", klärt Mauro auf.

„Èmbe? Il bastardo e morto." Der Tisch, der Darios Faust zu spüren bekommt, wackelt. Der Schlag kam so plötzlich, dass das Geräusch mich ängstlich aufschrecken lässt. Er schäumt sichtlich vor Wut, als er sich Mauro zuwendet: „Ich habe dir was gesagt, wenn du dieses Gesetz brechen solltest."

„Was dann, Bruder?"

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