Kapitel 10 • Mauro •
Ich habe sie seit sechs Wochen nicht mehr gesehen. Zumindest nicht, während sie wach war. Im Schutze der Nacht, als sie schlief, ließ ich es mir nicht nehmen, mich in ihr Zimmer zu schleichen, um sie zu beobachten. Es war schwer für mich, nicht einzugreifen, während sie jede Nacht in ihren Albträumen gefangen war und noch schwerer war es, den Drang über sie herzufallen, zu widerstehen. Es war mir auch leider nicht möglich, an einen Namen zu kommen. Selbst meine Spezialistin L'ombra kam an ihre Grenzen. Emilia Randazzo existiert seit vier Jahren, acht Monaten und siebzehn Tagen. Die einzige Schlussfolgerung aus dem Ganzen: Es muss sich um eine neue Identität handeln. Doch wer oder was dafür verantwortlich ist, konnten wir noch nicht ausfindig machen. Ihr Italienisch ist perfekt und akzentfrei. Der sizilianische Dialekt wirkt erlernt, das heißt, wir müssen unsere Suche auf ganz Italien ausbreiten. Gerne würde ich vierundzwanzig Stunden meines Tages dieser Suche widmen, doch mich bekleidet ein Amt, das eine Ablenkung dieser Art nicht zulässt.
„Er hat es drauf angelegt."
„Schicken wir ihm einen Teil seiner Tochter", diskutieren Dario und Davide. Dieses endlose Meeting kommt einer Dauerschleife gleich. Es hat nicht lange gedauert, bis die Frau zu singen begann. Direkt, als sie vom Tod ihres Mannes erfuhr, packte sie aus. Gentile, dieser Hund, spaltete sich ab und bildet hinter versteckten Türen einen neuen Zweig. Er dachte, er könne unsere Kunden zu einem niedrigeren Schutzgeld abwerben. Der Restaurantbesitzer war sich der Sache so sicher, dass er zustimmte.
Dass es ihm zum Verhängnis wurde, muss ich nicht wiederholen. Dennoch bin ich strikt dagegen, seine Tochter darin zu involvieren.
„É ce cazzo! Ich sagte nein!"
„Codardo! Papá hätte es niemals so weit kommen lassen", wirft mir Dario vor.
„Er ist nicht hier, falls du es nicht bemerkt hast! Papá hat das Ganze in meine Hände gelegt!"
„Ja, den größten Fehler, den er je begangen hat."
Ciao Zurückhaltung.
Die Faust, die seine Nase trifft, kommt so unvorbereitet, dass sie mit einem einzigen Schlag zu Bruch geht. Davide springt direkt dazwischen, als wäre er Darios verdammter Leibwächter.
„Das ist eine Sache zwischen meinem Bruder und mir! Falls du nicht als Kollateralschaden enden willst, verzieh dich!", drohe ich unserem Cousin. Davide verdreht die Augen: „Dein Augenmerk sollte auf Gentile liegen."
„Davide!", warne ich ihn. Dario hält sich derweil die Nase und versucht das Blut, was unaufhaltsam fließt, nicht überall zu verteilen. Genervt wendet er sich an unseren Cousin: „Davide, hol einfach den Arzt." Davide mustert mich noch einmal ganz genau, bevor er der Aufforderung nachkommt. Enea betritt im selben Moment mein Büro.
„Kann mir einer erklären, was hier passiert ist?"
„Dein Bruder ist passiert", gibt er als kurzes Update ab.
„Das sieht nicht gut aus", rümpft Enea seine eigene Nase.
„Vielleicht bringst du ihn zur Vernunft", schließt Dario für sich das Gespräch. Noch im selben Moment stößt er mich mit seiner Schulter zur Seite und verschwindet durch die Tür.
„Gentile?", will Enea wissen.
„Sie würden Chiara gerne um einen Finger erleichtern", erkläre ich ihm.
„Und da musstest du gleich zuschlagen?"
„Er hat meine Autorität untergraben!", verteidige ich meine Reaktion.
„Und dann hauen wir einfach drauf?", hakt er weiter.
„Für den einen bin ich zu weich und für den anderen zu hart. Wisst ihr was? Fickt euch!", schimpfe ich unzufrieden. Mein Bruder atmet angestrengt aus und beginnt anschließend ausgiebig seine Nasenwurzel zu massieren.
„Wieso lässt du sie nicht einfach gehen?", fragt er und fährt sich abschließend durch die Haare.
„Um dem Vater eine Freude zu machen? Bestimmt nicht."
„Nicht Chiara. Ich meine Emilia. Wieso sperrst du sie ein?" Warum auch immer er gerade das Thema wechselt. Ich würde niemals zugeben, dass der Zweck die Mittel heilt. Aber wenn ich ehrlich wäre, müsste ich ihm gestehen, dass der Vorwand, sie sei eine Verräterin, nur dem Mittel dient, sie hier zu behalten.
„Sie ist eine Verräterin und solange ich nicht weiß, wem ich ans Bein gepisst habe, weil ich ihr Schutz gewähre, muss sie bleiben."
„Der große Mauro hat Angst. Laber doch keine Scheiße!"
„Dann bring sie zum Reden", schlage ich ihm vor, während ich mir eine Zigarette angle.
„Dann wirst du sie gehen lassen?"
„Dann werde ich sie gehen lassen. Sie würde eh nicht weiterkommen, als in mein Bett", stimme ich grinsend zu.
„Gut, dann, was steht für heute noch an?"
„Ich werde gleich in die Stadt fahren. Das Gespräch für den Bau des Krankenhauses steht an."
„Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gerne das Projekt Gentile übernehmen", bietet mir Enea an.
„Halte mich auf dem Laufenden."
„Die Privatisierung wurde aufgehoben?", bringe ich aufgebracht in Erfahrung. Der etwas zu schlank geratene Mann vor mir nimmt es mir etwas zu gelassen.
„Die Stadt zieht das Konzept eines öffentlichen Krankenhauses vor", erklärt er so ruhig, als wäre es nichts, was meinen Puls in die Höhe treiben sollte. Natürlich steigt mein Adrenalinpegel unaufhaltsam an und sorgt dafür, dass sämtliche Venen und Sehnen an meinen Armen hervortreten. Ich zügle meinen Drang, der aufkommt, ihm eine Abreibung besonderer Art zuteilwerden zu lassen.
„Wann wurde das entschieden?", will ich ungehalten wissen.
„Vor zwei Wochen wurden die Aufträge unterschrieben", antwortet er wieder in einem ruhigen Ton. Ich sollte gehen, bevor ich das tue, nachdem meine Hand sich dürstet.
„Dann würde ich mich jetzt verabschieden. Sie haben genug meiner Zeit vergeudet." Ich warte nicht darauf, dass der Herr sich erhebt. Ich sehe zu, dass ich aus diesem Gebäude verschwinde und schnellstmöglich nach Hause komme.
„Buona sera." Zu Hause werde ich von meiner Mutter überrascht, schließlich hat sie mit einer dreiwöchigen Verspätung den Weg nach Hause gefunden.
„Mamma" Mit einem Kuss auf die Wange, nehme ich sie in Empfang.
„Was ist los? Du siehst nicht gut aus", bemerkt sie fürsorglich.
„Vieni." Ich führe sie in die Küche. Während sie an der Theke Platz nimmt, setze ich eine Cafetiere auf.
„Espresso?"
„Gerne." Ihre warmherzige Aura umgibt mich sofort und lässt mich für einen kurzen Moment den Rückschlag im Bauamt vergessen.
„Du bist später zurück als erwartet."
„Mir tat die kleine Auszeit gut", erzählt sie entspannt.
„Du hättest Bescheid sagen können. Dario nahm deinen kleinen Ausflug nicht so gut auf." Ihre Gesichtszüge werden strenger. Wissend mustert sie mich, ehe sie mit ihrer Standpauke beginnt.
„Guai a te, se alzi di nuovo le mani verso tua stessa!"
„Mamma", klage ich abwehrend.
„No, basta con questi minchiate!"
Wenn man denkt, man sei der Herr im Hause ...
Nein, meine Mamma ist back und mit ihr die Zucht und Ordnung. Unser Anker und unser Fels in der Brandung. Stets bereit, sich in die Mitte zu stellen, wenn einer von uns wieder über die Stränge schlägt. Ich sollte ihr von Emilia erzählen. Immerhin weiß sie nicht, in welche Richtung sich das Ganze entwickelt hat, seitdem wir Hals über Kopf das Kloster verlassen haben.
„Ich muss dir etwas erzählen, aber bitte lass mich ausreden", beginne ich mich vorzutasten, „Emilia" ... sie ist hier", gestehe ich ihr letztendlich.
„Wo ist sie?" Kleinlaut gebe ich bei, denn vielleicht hat meine Mutter das nötige Feingefühl, welches mir zu fehlen scheint.
„Sie im Gästezimmer."
„Ich hätte nicht gedacht, dass sie freiwillig mitkommt", sagt meine Mutter überrascht. Ertappt, suche ich nach den richtigen Worten. Mamma entgleisen die Gesichtszüge, sie beginnt ihre Nasenwurzel zu massieren und taxiert mich förmlich mit ihrem Blick: „Mauro!"
„Lass es mich doch erklären", bitte ich sie, als würde ich nach einem zweiten Eis fragen.
„Du brauchst mir nichts zu erklären." Schweigend sehe ich zu, wie sie sich aus der Küche entfernt. Es hat keinen Sinn, es ihr auszureden. Wichtiger wäre es, die Wogen mit Dario zu glätten. Auch wenn es mir nicht möglich ist, eine Entschuldigung auszusprechen, könnte ich ihm wenigstens im Club zur Hand gehen.
„Du weißt, wo der Ausgang ist", giftet mein Bruder mich an, sobald er mich sieht.
„Komm, stell dich nicht so an, ich bin hier, um dir unter die Arme zu greifen." Unbeholfen stehe ich noch mit verschränkten Armen in der Tür zum Lagerraum. Nach kurzem Zögern seinerseits hievt er das Fass in meine Richtung.
„Dann beweg deinen Arsch. Die Bar muss aufgefüllt werden", poltert er in meine Richtung. Kommentarlos mache ich mich an die Arbeit, schleppe die Kisten und Fässer an die Bar. Fünfzig Meter Regal warten darauf, für den heutigen Abend auf Vordermann gebracht zu werden. Die Menschen, die später in Massen hierherkommen, um Spaß zu haben, würden schon dafür sorgen, dass mehrere tausend Flaschen über die Theke wandern. An guten Tagen musste die Bar ein zweites Mal während des Betriebs aufgefüllt werden. Nüchtern würde ich diesen Abend nicht überstehen und so ziehe ich mir ein Glas hervor. Das erste Glas Whiskey kippe ich in einem Schwall hinunter. Ich ziehe ein zweites hervor und geselle mich zu meinem Bruder. Es wäre zumindest ein Friedensangebot.
Ich erwische mich immer wieder dabei, dass meine Gedanken zu ihr driften. Ich habe es bis jetzt immer wieder geschafft, mich in Arbeit zu stürzen.
Ausharren bis in die Nacht, um meinem Drang, sie zu sehen, nachgehen zu können. Hatte Enea Erfolg? Was hat das Gespräch mit Mamma ergeben? Fragen, auf die ich schnellstmöglich eine Antwort brauche. Selbst L'ombra hatte heute keine Neuigkeiten für mich.
„Wie lange bleibst du?" Fragend schaut er mich an, nicht sicher, ob ich ihm die letzten Minuten überhaupt zugehört habe.
„Ähm, was sagtest du?", hake ich perplex nach.
„Wie lange bleibst du?", wiederholt Dario ungeduldig.
„Solange du mich brauchst."
„Dann lass uns einen trinken, wie in alten Zeiten." Fordernd gestikuliert er mich Richtung Bar, schnappt sich zwei Flaschen Whiskey und lotst mich in die VIP-Lounge. Es führt kein Weg daran vorbei, mich heute Nacht voll und ganz auf Dario zu konzentrieren. Gelassen erhebt er sein gefülltes Glas: „Auf alte Zeiten."
„Auf alte Zeiten", erwidere ich, ehe ich das flüssige Gold meine Kehle hinab gleiten lasse. Es sind einige Gläser, die wir leeren, bis der Club seine Pforten öffnet.
Purpurnes Licht verleiht dem Ambiente zusätzlichen Charme. Der Bass lässt die Wände vibrieren, die ersten Gäste bestellen ihre Drinks und auch die Tanzfläche beginnt sich zu füllen. Der Alkohol vernebelt bereits meine Sinne, als Dario zwei Mädels zu uns in den Bereich ordert. Sie lassen auch nicht lange auf sich warten, sehr knapp bekleidet stolzieren sie herein. Die Brünette wendet ihre Aufmerksamkeit direkt Dario zu, während die Rothaarige es sich neben mir bequem macht.
„Isch bin nisch inteeressiiert", nuschle ich vor mich her. Normalerweise kenne ich meine Grenzen, doch jetzt ist es zu spät. Das Kind ist bereits in den Brunnen gefallen. Als die Frau aber ihre Hand auf meinen Schritt legt, verliere ich die Beherrschung. Viel zu grob packe ich ihr Handgelenk und drücke sie zurück.
„Verrschwwindeee!" Es stößt mir sauer auf, dass mein Bruder bereits im Garten Eden verweilt. Da mein Garten Eden sich im besten Fall zu Hause, in ihrem Zimmer befindet, beschließe ich kurzerhand, mir ein Taxi zu rufen und das Gespräch der Gespräche zu führen. Ob das eine Schnapsidee ist?
Völlig desorientiert betrete ich die Villa, bereit, sie zu konfrontieren. In der Küche angekommen, fühle ich mich im ersten Moment wieder nüchtern.
„Wer hat disch rausgelassn?" Erschrocken geht sie einen Schritt zurück.
„Ich."
„ENEA!", schreie ich wie der letzte Neandertaler.
„Bastardo!" Ein verschlafener Enea betritt nichts ahnend die Küche: „Calmati!" Schutzsuchend stellt sie sich hinter meinen Wichser von Bruder. Das Gefühl, die beiden könnten sich nähergekommen sein, frisst sich in meine Adern. Wäre mein Bruder in der Lage, mir der Art in den Rücken zu fallen?
„Du wiirst mir jetzt sagn, warum du siie raus gelassn hascht." Ich umrunde Enea und packe Emilia etwas fester im Nacken und dieser Hurenbock versucht wirklich, mich von ihr wegzuziehen.
„Wir werdn uns jetzt unterhaltn."
„Lass mich los! Du tust mir weh!" Sie wehrt sich mit Leibeskräften. Enea schafft es irgendwie, uns beide zu trennen. Er schreit, zieht meinen Arm hinter meinen Rücken und presst meine Wange auf die Anrichte.
„Es reicht!", wütet meine Mutter wie ein Tornado. Sie reißt Enea von mir und stellt sich mittig.
„Was ist in euch gefahren? Ihr benehmt euch wie Wilde!", zischt sie abfällig, während sie gleichzeitig mit ihren Händen artikuliert.
„Mamma."
„Stai muto!", warnt sie mich, einen Gang runter zu schalten. Erst jetzt sehe ich, wie aufgelöst Emilia zu sein scheint. Fürsorglich nimmt meine Mutter sie in ihre Obhut.
„Ist alles in Ordnung?", erkundigt sie sich besorgt. Die Tränen rinnen nur so über ihre makellose Haut und hinterlassen eine Spur von Schmerz. Schmerz, den ich ihr zugefügt habe.
„Ja, es geht wieder", antwortet sie langsam.
„Gut, dann erzählt ihr mir jetzt, was hier passiert ist", wendet sie sich wieder ihren Söhnen zu.
„Die Schnapsdrossel da hinten, sollte nicht trinken, wenn er es nicht verträgt", beginnt Enea. Den Impuls, auch ihm die Nase zu brechen, verdränge ich direkt wieder. Die Augen meiner Mutter versprühen pures Gift und ich bin der Letzte, der Mamma völlig eskalieren sehen will.
„Dann Mauro, ich höre", hakt sie weiter, als wäre sie unser verdammter Mediator.
„Sie sollte das Zimmer nicht verlassen." Das ist das Einzige, was ich zwischen meinen zusammengepressten Lippen herausdrücke.
„Und? Ich habe sie rausgelassen!", verkündet meine Mutter ohne Umschweife.
„Sie ist nicht deine verdammte Gefangene!", fährt sie wütend fort.
„Sie gehört mir!" Und ehe ich diese Wörter herunterschlucken kann, schreie ich sie á la Alphatier, meiner Mutter entgegen. Ich muss auch nicht lange auf das Echo warten, bis mich der Hammer der Besinnung mit voller Wucht trifft.
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