Kapitel 1 • Emilia •

Und wieder eine Nacht, in der ich schweißgebadet aus meinem persönlichen Alptraum erwache. Sorgsam wandern meine Augen durch den Raum, auf der Suche nach der kleinsten Veränderung, die darauf schließen könnte, dass er mich gefunden hat. Doch das fahle Licht, welches durch den Fensterklappladen dringt, ist nur bedingt nützlich. Ruhig verweilen meine Augen auf einem einfach gehaltenen Kreuz, welches an der Kopfseite meines Bettes an der Wand hängt, ehe ich im Zimmer meine Runde drehe.

Seit fast fünf Jahren nenne ich diesen Ort mein Zuhause. Wenn ich bloß die Wahl gehabt hätte, aber die hatte ich nun mal nicht.

Ich habe das Gefühl, vor mich hin zu vegetieren, wünschte, mein Leben wäre anders verlaufen. Ich wünschte, ich hätte einen Weg aus der Abwärtsspirale gefunden und ich wünschte, ich könnte vieles ungeschehen machen.

Immer mehr Licht dringt durch die kleinen Löcher des in die Jahre gekommene Holz und wenn man die Lichtstrahlen genau beobachten würde, würde man die feinen Staubkörnchen sehen, die ich durch mein hin und her laufen aufgewirbelt habe.
Gezielt laufe ich zum Fenster, um der noch kühlen Sommerbrise Einlass zu gewähren.

Ob ich mich jemals an dieses eintönige Leben gewöhnen werde?
Ich weiß es nicht.

Die Wegrichtung führt mich zu meinem kleinen Waschtisch, er reicht für meine morgendliche Katzenwäsche.
Die ersten kühlen Wasserspritzer benetzen mein Gesicht, jedoch wird Weiteres durch ein Klopfen unterbrochen.
„Du bist spät dran, cara mia", dringt es durch die Tür.

„Buon giorno anche a te", rufe ich etwas lauter, da es auf den Fluren schon etwas umtriebiger zugeht.

„Nur der frühe Vogel fängt den Wurm, also lass uns nicht länger warten als nötig." Ich kann mir gut vorstellen, wie sie vor der Tür steht. Eine Hand gehoben und eine mahnende Geste ausführend.

„Ich werde es rechtzeitig zum Gebet schaffen", beruhige ich sie, während ich das Handtuch über meine Schulter werfe.

„Vi raccomando", hallt es kurz nach. Sobald Suora Lucia sich von meiner Tür entfernt hat, beginne ich mein Gesicht ausgiebig zu waschen. Indessen die Zahnbürste durch meinen Mund wirbelt, stoppt mein Blick auf meinem Habit.
Sorgfältig trockne ich mich ab und beginne mich für den Tag zu richten. Das Ordenskleid habe ich schnell angelegt und das Zingulum binde ich mittlerweile mit wenigen gekonnten Handgriffen.
Wenn ich meinen weißen Schleier aufgesetzt und dieses Zimmer verlassen habe, beginnt mein Alltag.

Es war meine Entscheidung, den Pfad des Noviziats zu bestreiten, um meine Sicherheit weiterhin zu gewährleisten, dennoch kann ich mich immer noch nicht damit abfinden.

„Auf ein Neues", sage ich mir in Gedanken. Zügig begebe ich mich in Richtung Kapelle, in der wir den Tag mit einem Gebet eröffnen.

„Gutes Mädchen", flüstert Suora Lucia. Ihre warmen Augen mustern mich einen Moment, bevor sie mich Platz nehmen lässt.

„Mein Kind, du solltest dir langsam Gedanken über dein Gelübde machen, das kanonische Jahr beginnt bald." Die Erinnerung daran raubt mir kurzzeitig den Atem, denn ich habe es bis zum jetzigen Zeitpunkt erfolgreich verdrängen können.

„Oder hast du es dir anders überlegt?", fährt Suora Lucia fort.

„Nein, Suora. Ich dachte nur, ich hätte mehr Zeit", gestehe ich ihr schweren Herzens.

Suora Giovanna tadelt uns mit einem Blick, ehe sie zum morgendlichen Gebet einstimmt.

Halbherzig nehme ich daran teil und verbringe die Zeit lieber damit, an das bevorstehende Frühstück zu denken.

.......

Den ersten Teil meines durchstrukturierten Tages habe ich erfolgreich hinter mich gebracht. Unauffällig hefte ich mich an die Schwestern, die sich bereits zum Speisesaal begeben. Eine große Auswahl an selbstangebautem Obst und Gemüse, liegt schön drapiert auf olivhölzernen gefertigten Etageren aus.
Ebenso verschiedene Käse und Wurstsorten liegen schön hergerichtet für den Verzehr bereit.
Die Vielfalt an Brot und anderen Lebensmitteln lassen keine Wünsche offen.

Eins muss man über dieses Kloster sagen: „Egal wie keusch hier alle leben, gehört Völlerei zu einer der sieben Todsünden."

Mit einem leichten Schmunzeln fülle ich meinen Teller und begebe mich an einen der Tische, direkt am Fenster. Suora Lucia gesellt sich ebenfalls mit einem gut gefüllten Teller zu mir.
Sie ist nicht nur meine einzige Bezugsperson, sondern hat sich auch den Titel einer Freundin alle Ehren gemacht.

„Cara, deine Alpträume scheinen dich immer noch zu plagen." Besorgnis liegt in ihrer Stimme.

„Es ist besser geworden, immerhin müsst ihr mich nicht mehr wecken, während ich im Schlaf schreie", dabei versuche ich ein kleines Lächeln zu entbehren.

„Ich mache mir Sorgen um dich. Ein freier Geist ist wichtig, um sich den Aufgaben Gottes widmen zu können", legt sie mir nahe.

„Ich gebe mein Bestes", lüge ich ihr entgegen, denn wenn ich ehrlich bin, habe ich es noch nicht einmal versucht.

Allein die Arbeit, die ich im Alten- und Pflegeheim verrichte, liegt mir am Herzen. Es ist das Einzige, was mir das Gefühl gibt, nicht nutzlos zu sein und es ist die ausnahmslose Möglichkeit, um Buße zu tun.

„Es gibt da noch etwas, was Du wissen solltest", sagt sie zögernd.
Ein dicker Knoten bildet sich in meiner Magengegend, der sich bei jedem weiteren Atemzug zuschnürt.

„Der Fall wurde neu aufgerollt", seufzt sie schließlich. Wir hatten die Nachrichten zwar verfolgt, aber das es wirklich dazu kommen soll, wurde von den Medien nicht Publik gemacht.

„Wann?", platzt es aus mir heraus.

„Die Anhörungen laufen bereits." Ihre Körpersprache spricht Bände und ich bin mir absolut sicher, was sie mir damit sagen möchte.

„Die Aussagen und die Beweise waren stichfest!", erkläre ich ihr, als hätte sie die Gewalt darüber.

„Die Äbtissin wurde bereits darüber informiert", sagt Suora Lucia und wirft mir damit einen weiteren kleinen Brocken zu.

„Muss ich erneut in den Zeugenstand?", frage ich weiter.

„Ich denke, das solltest du am besten persönlich mit ihr besprechen."

Wenn er mich wieder in die Finger bekommt, wird er dort weitermachen, wo er aufgehört hat.
Die Angst kriecht durch mein Mark und bahnt sich einen Weg in jede Faser meines Körpers. Auf meinen Händen bildet sich kalter Schweiß und innerhalb weniger Sekunden bin ich so blass geworden, dass ich problemlos Schneewittchen Konkurrenz machen könnte.

„Emilia, es tut mir so leid!" Schützend legt sie ihre Hände über die meinen. Ich weiß, dass sie mich in ihr Herz geschlossen hat und dass ihr Bedauern aufrichtig ist.
Nichtsdestotrotz wird sie mir nicht helfen können, wenn er sich erst einmal wieder in Freiheit befindet. Meine große Liebe, die sich zu meinem Peiniger und meinem persönlichen Alptraum entwickelt hat.

„Wir sollten lieber essen, bevor wir aufbrechen", unterbreche ich die Unterhaltung.
Es fällt mir schwer, weiter darüber nachzudenken, wir sollten lieber zur Tagesordnung übergehen.

Nachdem wir schweigend gegessen haben, machen wir uns auf zum Alten- und Pflegeheim, welches an unser Kloster grenzt.
Wer meint, dass wir den ganzen Tag mit beten und singen beschäftigt sind, liegt vollkommen falsch.
Wir gehen tatsächlich auch anderen Arbeiten nach.
Während die Ökonomin sich um alle hauswirtschaftlichen Belange kümmert, darunter die Finanzen und die Küche mit eingeschlossen. Widmen sich andere der Landwirtschaft, sind als Organistin tätig oder verrichten unterschiedliche Handarbeiten wie zum Beispiel die Instandhaltung und Restaurationsarbeiten im Kloster.
Und wieder andere sind in der Seelsorge tätig oder unterrichten in verschiedenen Bildungswerken.
Ich habe meinen Platz bei den Alten und Gebrechlichen gefunden. Ich begleite sie im Alltag und versuche, ihren Lebensabend noch so würdevoll wie möglich zu gestalten.

Kaum haben wir den Flur des Altenheims betreten, kommt Signora Fossi auf mich zu. Ihr Leiden ist bereits fortgeschritten und es ist ihrem Geist immer seltener möglich, in der Realität zu verweilen.

„Laura?", fragt Signora Fossi vorsichtig.
Ihre Augen sind voller Hoffnung. Ihre Tochter Laura hat sie vor zwei Jahren hier abgeliefert und ist seitdem nie wieder aufgetaucht.

„Angela." Lächele ich. Fürsorglich nehme ich ihre Hand und rede beruhigend auf sie ein: „Angela, ich bin es Emilia. Ich habe gute Neuigkeiten. Laura wird sie bald nach Hause holen."
Die zweite Lüge, die ich heute aussprechen musste. Ich weiß, es scheint nicht sehr christlich, aber es ist die einzige Möglichkeit, Signora Fossi zu beruhigen.

„Wenn sie möchten, würde ich sie gerne in den Garten begleiten. Ein kleiner Spaziergang, bevor die heiße Mittagssonne es unmöglich macht", ermutige ich sie weiter.

„Spazieren?", flüstert sie, als wäre ein Spaziergang etwas ganz Außergewöhnliches.

„Ja, ich würde gerne einen Spaziergang mit ihnen machen. Ist das okay für sie?", frage ich sie herzlich.

„Laura kommt?", stammelt sie aufgeregt

„Ja, Angela." Ich hake mich bei ihr ein, um ihr den nötigen Halt zu geben, ehe wir durch die Terrassentür nach draußen ins Grüne treten.

Die Sonne hat allmählich an Kraft gewonnen. Langsam führe ich sie den Pfad entlang, der von den großen Pistazienbäumen ausreichend Schatten gespendet bekommt.

Das Klima in Sizilien ist im Sommer eher trocken und die Temperaturen, die sich im Hochsommer entwickeln können, haben hier zu unzähligen Waldbränden geführt.
Dagegen ist es in Neapel weitaus angenehmer. Wie es bei einer Küstenstadt üblich ist, weht dort die ein oder andere kühle Brise, die von den Wellen ans Ufer befördert wird.

„Angela, schauen sie, der Baum trägt dieses Jahr sehr viele Pistazien", deutete ich in den Baum rechts von uns.

„Sagra del Pistacchio", erinnert sie sich. Fettnäpfchen Nummer eins, es erinnert sie an zu Hause. Ist eher eine Feststellung als eine Frage.

„Bronte", erinnert sie sich weiter.

„Kommen Sie, Angela, lassen Sie uns zurückgehen. Das Mittagessen wird bald serviert." Tätschle ich ihren Arm.
Wie kann man seine eigene Mutter auf der anderen Seite Siziliens aussetzen und sie dann einfach vergessen? Reicht es, sie in guten Händen zu wissen, um damit abzuschließen und sich noch nicht mal mehr zu erkundigen?

„Angela, Schwester Anna wird sie zum Essen begleiten. Ich sehe später wieder nach ihnen", informiere ich sie, bevor ich in die Pause gehe.

„Ciao, Emilia", antwortet sie leicht durcheinander. Die kurze Sorgenfalte auf ihrer Stirn hat sie schnell durch ein Lächeln ersetzt und lässt sich ohne Probleme von Schwester Anna zum Essen begleiten.

„Emilia, möchtest du dich dem Neuzugang vorstellen?", ertönt es plötzlich. Es ist Suora Lucia.

„Ich bin sofort da, ich muss nur ..." Ich versuche mit der Stellung meiner Beine und dem Hin und Her wippen zu zeigen, dass ich ganz schnell zu einem bestimmten Ort verschwinden muss.

„Sbrigati", tadelt sie mich.

Nachdem ich das stille Örtchen besucht habe, sehe ich zu, dass ich schnellstmöglich das Zimmer erreiche, in dem der neue Senior oder die Seniorin eingezogen ist.

„Aaa, da ist sie, Novizin Emilia", stellt mich Lucia vor.

„Salve", grüßt die Dame mich.

„Benvenuta Signora?", stocke ich in der Willkommenheißung.

„Caruso, aber bitte nenn mich Rosa", sagt die zierliche Frau, die noch nicht allzu alt ist. Sie wirkt nicht kränklich oder senil, was einen Aufenthalt hier rechtfertigen würde.
Ich weiß nicht, was mir mehr Gänsehaut über die Haut treibt. Ist es der Name, den ich vor fast fünf Jahren ablegte oder ist es die dunkle Präsenz, die von Sekunde zu Sekunde größer wird und mich zu verschlingen vermag?

„Mauro, das sind Suora Lucia und Novizin Emilia", deutet sie ihm mit ihren Händen. Wahrscheinlich mit der Aufforderung, sich bei uns vorzustellen.
Ein kurzes Schnauben seinerseits, lässt mich wie vermutet verstehen, dass auch er zu der Sorte Mensch gehört, der sich selbst am nächsten ist.

„Mamma", beginnt er zu maulen.

„Ti ho cresciuto così?", erwidert sie in einem maßregelnden Ton.

„Es ist schon okay", gebe ich klein bei, obwohl ich innerlich koche. Und dann? Ich weiß nicht, wie schnell sich der Höllenschlund vor mir öffnet, aber so schnell kann ich meine Worte nicht mehr zurückhalten.

„Es ist nicht unüblich, dass die Mutter, die einem das Leben schenkte, im Alter zum Ballast wird und hier einfach abgeschoben wird. Ich sehe, sie sind schwer beschäftigt, also nur zu, gehen sie schon.
Ihre Mutter ist hier in guten Händen!", feuere ich im ungefiltert und voller Unverständnis entgegen. Seine Augen funkeln mich an und irgendetwas in mir schreit mir gerade entgegen, dass das alles andere als eine gute Idee war, ihm meine Meinung vor den Latz zu knallen.

„Novizin", der Klang seiner Stimme holt mich wie ein Blitz, der sein Ziel nicht verfehlt hat. Doch ich weigere mich, ihm die Genugtuung zu geben und hebe mein Kinn provokant an.

„Ja, Novizin", zische ich ihm entgegen und lasse im Gedanken mein Mikrofon fallen.

„Emilia, wir sollten gehen." Beschwichtigend tritt Suora Lucia einen Schritt nach vorne, um mich wortlos nach draußen zu führen, doch als wir uns an ihm vorbeidrängen, ergreift er mein Handgelenk und mustert mich süffisant.

„Welch eine Verschwendung!", spottet er mir mit triefender Arroganz entgegen.
Kurz danach gibt er meine Hand frei und verschwindet im Zimmer seiner Mutter. Suora Lucia ist schockiert über die Vorkommnisse, die sich eben ereigneten und zieht mich schnellstmöglich aus dem Schlamassel, dem ich gerade dabei war, eine neue Bedeutung zu geben.

„Du weißt, dass sich das nicht schickt. Vor allem nicht als Novizin", beanstandet sie eine Spur zu barsch. Reumütig antworte ich ihr: „Es wird nie wieder vorkommen."

„Du wirst Dich morgen bei ihm vor seiner Abreise entschuldigen", mahnt sie weiter.

„Aber ...", ich habe etwas einzuwenden, aber ich muss mir eingestehen, dass ich keine Chance habe.

„Du willst doch Äbtissin Teresa keinen Grund geben, um das Profess unnötig hinauszuzögern?", sagt sie und macht mich mit sofortiger Wirkung mundtot.

„Ich werde mich morgen entschuldigen, aber jetzt muss ich zu meinem Schützling Signora Fossi. Ich habe versprochen, ihr auch am Nachmittag Gesellschaft zu leisten", brumme ich. Wieder hat sie es geschafft, mich auf die richtige Bahn zu lenken.

„Dann, mein Kind, lass dich nicht aufhalten."

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