Kapitel XXIX

Die Gerte donnerte auf ihre Rücken nieder. Wutentbrannt schmiss Kungar das Gerät beiseite und griff zu einem Beil. „Tu Bess nichts und ich verschone die beiden."

Ich antworte mit einem finsteren Blick und drückte die Klinge fester an die warme, pochende Haut – hoffentlich nicht zu fest.

„Lass mich los", quietsche Miriam und dann folgte ein seltsames Argument von ihr. „Schau, deine Mädchen sind schon tot. Die Peitsche gab den ausgehungerten Körpern den Rest."

Erst jetzt fiel mir auf, dass Annabelle nicht mal gezuckt hatte nach dem Gertenhieb.

Kungar hob den Kopf des Löwenmädchens an, behindert durch seine schweren Handschuhe. Mit der Anspannung eines nassen Reissacks lag sie auf der Pritsche.

„Die sind nur bewusstlos", sagte er.

Miriam schrie auf einmal, ohne dass ich etwas getan hatte. Kungar riss beschwichtigend die Hände in die Höhe. „Bloß eine Ohnmacht! Bei den Heiligen, du kämest hier mit dem Wachen am Ausgang nie lebend raus, selbst nicht mithilfe des Befehls eines Generals. Soren, werde vernünftig und lege den Dolch ab."

Ich schrieb in den Schmutz der Haut P-U-L-S und führte Miriam zwischen die Mädchen. Sie verstand. Ihre Finger glitten unter den Seilen durch, erst bei Annabelle, dann dem Löwenmädchen.

„Kein Puls", sagte sie.

Für einen schrecklichen Moment ergriff mich die Panik, ehe ihr Zwinkern es davon spülte.

„Nein!" Kungar fiel auf die Knie, als sich ihm die Bedeutung ihrer Worte erschloss. „Ich habe schon ein Kind verloren."

Wie auf ein stummes Signal riss Miriam die Augen auf und spuckte ein Gemisch aus Blut und Speichel aus – hatte ich übertrieben?

„Bitte", keuchte sie, aber schaute nicht mich an, sondern Kungar.

„Was willst du, Kristalldieb?" Er verzog das Gesicht in Qualen.

Ich zeigte auf die regungslosen Mädchen.

„Die Leichen?" Kungar säbelte die Fesseln durch. Eine geladene Stille hing in der Luft, jeglich unterbrochen vom Zischen der reißenden Seile. Er lud Belle auf die eine Schulter, das Löwenmädchen auf die andere.

Dann deutete ich auf die Tür und wartete, während er aufschloss. Wir folgten dem Gang und Zweifel drängten sich mir auf. Kungar machte keinen Finger krumm, solange Miriam in Gefahr schwebte, doch warum half sie mir? Schon im Zirkus war sie mit ihrer lauten und komischen Persönlichkeit aufgefallen. Aber komisch im Sinne von lustig - nicht vergleichbar mit dieser Situation. Extraordinär, hörte ich Belle in meinen Gedanken sagen. Sehr extraordinär. Dabei sollte Miriam nicht mal hier sein, und erst recht nicht sich als jemandes Tochter auszugeben.

Der Zurückweg war merkwürdig leer, einzig erfüllt von unserem Schnaufen und der kriechenden Kälte. Bei dem Kerker-Raum legte Kungar die Mädchen ab und zündete eine Fackel. Auf meine Handbewegung hin, machte er sich an der Knotenvorrichtung zu schaffen und ein Käfig ratter herab, ausgerechnet der von Killith.

„Ich habe den Käfigschlüssel verloren", sagte Kungar, der zu besorgt zum Lügen schien.

Ich hielt inne, zog meinen eigenen hervor und schmiss ihm den vor die Füße.

Er hob es auf. „Hätte wissen sollen, dass du ihn hast."

Miriam zuckte kaum merklich zusammen. Eine interessante Wendung. Der Schlüssel gehörte nicht nur zu irgendwem, sondern ihrem sogenannten Vater. Sobald wir frei waren, schuldete sie mir eine gewaltige Erklärung.

Killith stieg aus ihrem Käfig und ich bereute es, sie befreit zu haben, denn sogleich folgten ihre Befehle. Wegrennen jetzt.

Nein. Für einen schrecklich langen Augenblick befürchtete ich, sie würde erneut schreien. Doch stattdessen schenkte sie mir bloß ein schmales Lächeln und richtete ihr Haar. Das war ihr erster Gedanke in Freiheit?

Kungar stockte, aber ein gequälter Laut von Miriam, lenkte seine Aufmerksamkeit zurück zu der Aufgabe und Käfig für Käfig sank nieder, wurde aufgeschlossen. Darunter Zirkusmitglieder und Fremde, doch einige bewegten sich auch nach mehrmaligem Anstupsen und Rütteln nicht. Noch ein Toter, dachte ich, als der nächste dürre Schatten runter ratterte. Aber kaum steckte der Schlüssel im Schloss, fuhr der Schemen hoch wie vom Blitz erfasst. Er sprang raus und schaute gehetzt um sich herum, gleichend einem Tier in der Falle. Rote Linien verunstalteten sein Gesicht und da erkannte ich Kennox wieder.

Killith warf ihm eine Gebärde zu. Beruhigen. Still. Und ihr Lieblingswort: Warten.

Sein Blick ging durch ihr durch.

Außer Kungar waren wir keiner weiteren Wache begegnet und das flaue Gefühl verstärkte sich. Wo waren die anderen hin? Die Vernunft in mir schrie, zu fliehen, aber das noch größere Schuldgefühl ließ es verstummen. Meine Freunde und Kollegen hingen in diesen Käfigen, in die sie ohne mich nie gelangt wären.

Nach einem bewegungslosen Körper, der zwar murrte, aber nicht die Augen aufschlug, schwand mein Mut. Abgesehen von Kennox und Killith schien keiner genügend Kraft zu haben, um allein aufzustehen. Hatten sie nicht alle die Feigenration bekommen? Die, die nicht mehr reagierte beschränkten sich auf großteils Fremde und von den Zirkuskollegen schien wenigstens ein Puls vorhanden.

Im selben Moment bewies Kennox, dass er noch zum Gehen fähig war, und taumelte los. „Weg hier, weg hier", zischte er panisch, was ich bloß durchs Vogelecho verstand.

Killith packte ihm am Arm. Vorsicht! Sie fangen dich.

Er blinzelte perplex und versuchte, sich loszureißen. Kennox hätte nur einen gezielten Schlag gebraucht, aber er tat es nicht, blieb zähneknirschend stehen und atmete scharf ein.

Mit einem Klonk kam der nächste Käfig auf. Ehe ich mich vorbeugen konnte, schepperte der Marsch von Wachen aus dem zweiten Ausgang der Kerker – das Vogelecho musste sie alarmiert haben.

„Nimm je eins der Mädchen und lass sie frei", rief Killith mir zu.

Ich befolgte ihre Anweisungen, ohne selbst zu wissen warum, ließ die Waffe fallen und hob Annabelle auf. Miriam nahm das Löwenmädchen, dann rannten wir.

Befehle wurden gebellt, Schritte schneller. Die Echovögel kreischten so viel auf einmal, dass keiner eine Silbe verstand.

Folgt mir! Killith stürmte los, wir hinterher. Nur Kennox bog in einen anderen Gang ein.

„Komm zurück! Du rennst ihnen in die Arme!"

Er wurde nicht langsamer – im Gegenteil.

Killith wechselte abrupt die Richtung und verfolgte ihn, während hinter uns das Gestampfe und Keuchen der Wachen lauter wurden, besser geübt im Kampf als dem Sprinten.

Was passiert hier, lief es mir auf Dauerschleife durch den Kopf, als ich unter Miriams Leitung durch dämmrige Gänge stürmte. Die Angst ließ neue Kräfte in mir auflodern und selbst Annabelles Gewicht vergaß ich im Rausch der Furcht. Tunnel rechts, dann links, wieder Mitte. Rechts, links, rechts. So oft kreuz und quer, bis das Gerenne hinter uns leiser wurde, schließlich verklang. Die Rüstungen waren schützend im Kampf, doch im Rennen eine Barriere.

Ich verlor die Orientierung. Überall gleichaussehende Sandsteinwände, erhellt von fast ausgebrannten Fackeln. Annabelles Knie drückten mir in den Rücken und von Miriam sah ich kaum den roten Haarschopf des Löwenmädchens, die sie trug. Wohin rannten wir? Warum folgte ich ihr? Miriam ließ sich zu mir zurückfallen, griff nach meinem Handgelenk und zog uns tiefer in ein Labyrinth aus Tunnel.

Ich riss mich los. Auf wessen Seite stehst du?

Auf deiner. Wir sind ein Team.

Ein Team?

Ja! Beeile dich. Ungeduldig zog sie mich hinter sich her.

Wohin bringst du uns?

Einem sicheren Ort

Was soll das heißen?

Fragen später.

Miriam zog mich weiter. Sie gab zwar vage Antworten, aber hatte mir bei der Folter geholfen und schlimmer als im Käfig konnte es nicht enden. Sie wusste etwas. Und egal, was es war, ihr Ziel schien meinem ähnlich: Freiheit.

Schwer atmend kamen wir eine Ewigkeit später zum Stehen. Der Gestank von Verbranntem prickelte mir im Rachen. Miriam nahm eine Fackel von der Wand. Vor uns im Lichtkegel klaffte ein Loch auf Kniehöhe.

Sie kletterte rein und zog das Löwenmädchen hinterher.

Ich schob Belle vor meine Brust und kroch rücklings in die Dunkelheit. Beim Einatmen stach mir Rauch in die Lunge und ich hustete röchelnd.

„Hier rüber, Soren", flüsterte sie. Zwei Hände packten mit an und zusammen schafften wir Annabelle rein. Asche klebte an meinen schweißnassen Handflächen und das unangenehme Stechen im Hals wurde immer aufdringlicher. Miriam schien nicht mal aus der Puste, als täte sie den ganzen Tag nichts anderes als auszubrechen und sich in verqualmte Löcher zu verstecken.

Warum? Was? Wie? Ich formte alle Gebärden auf einmal. Zu viele Fragen sausten mir durch den Kopf, auf die ich keine Antworten fand.

Sie hielt mir die Hände zu, was nach einer süßen Geste aussah, aber in Gebärdensprache war es, als hätte Miriam mir den Mund zugehalten. Ganz ruhig, Schätzchen. Sonst versteht dich keiner.

Warum lügt Kungar und sagt, du bist seine Tochter?

Das ist bloß eine halbe Lüge. Er hat sich wie ein Vater um mich gekümmert, bevor sich unsere Wege im Krieg trennten - für die Tarnung reichte es.

Tarnung? Weiß er von deiner Doppel-Loyalität, fragte ich.

Nein, aber er schuldet mir einen großen Gefallen, habe ihm einst das Leben gerettet, dafür verschaffte Kungar mir diese Stelle vor ein paar Wochen. Sein Vertrauen so auszunutzen müssen, tut mir immer noch leid.

Dann verstehe ich erst recht nicht, wieso du das alles tust. Und warum hätte er dich nicht Miriam nennen können anstatt Bess?

Bess heißt die eigentliche Tochter, die aus dem Norden anreisen sollte. Und ich weiß, das alles mag verwirrend sein, aber wir wollen alle dasselbe, und zwar hier raus.

Auch Killith?

Besonders sie.

Ich hakte weiter nach. Aber sie hat mich vergiftet! Und wieso brauchst du eine Tarnung? Nichts davon ergibt Sinn.

Miriam legte mir eine Hand auf die Schulter. Entschuldigung. Das darf ich nicht sagen und das waren schon mehr Antworten, als man mir erlaubt. Du könntest reden, wenn sie uns schnappen.

Du vertraust mir nicht?

Nein, ich kenne bloß die Methoden von Argon zu gut.

Tu mir das nicht an. Ich will nicht mehr warten! Meine Faust bebte.

Du musst.

Du möchtest freikommen, oder?

Natürlich. Sie grinste, als hätte ich einen Scherz gemacht. Was denn sonst?

Was tun wir dann hier? Warum nicht zum Ausgang rennen?

So neugierig ... Das gehört zum Plan. Sei unbesorgt, hier sind wir vorerst sicher.

Annabelles Rücken sah aus wie frischer Hack, ich saß in einem aschigen Loch fest und keiner gab hilfreiche Antworten. Zorn wallte in mir auf. Steckten wir nicht in dieser verzwickten Lage, hätte ich vor Verzweiflung geschrien – ich verdiente es nicht, länger im Dunkeln zu stehen. Es hat mit dem Kristallauge zu tun, oder? Ihr wisst, wer es mir ins Zelt gelegt hat.

Sie lächelte bedauernd, beinahe amüsiert. Du weißt weniger über dich, als du glaubst. Miriam rollte das Löwenmädchen auf die Seite und inspizierte ihre Wunden. Sie stöhnte leise, also nicht tot. Ich tat dasselbe mit Belle, spürte ihren bebenden Brustkorb, fühlte die Wölbung der Blutkruste und Tropfen fielen auf den blutverschmierten Rücken. Mir war nicht aufgefallen, dass ich begonnen hatte zu weinen.

Miriam stupste mich an, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Killith behandelt sie. Keine Sorge.

Im Gegenteil, meine Sorge wuchs. Was ist mit ihr? Ich setzte für den Namen, den ich der Rothaarigen gegeben hatte, die Gebärden für Löwe und Mädchen zusammen.

Miriam runzelte mit der Stirn. Wer?

Ich zeigte auf das Löwenmädchen.

Sie gehört auch zu uns, eine erfahrene kleine Kämpferin. Das Totstellen war vermutlich ihre Idee.

„Redet laut über mich", flüsterte sie. „Ich sehe doch, wie ihr zu mir schaut und mit den Händen wedelt." Wider ihres raubtierhaften Aussehens klang die Stimme des Löwenmädchens sanft wie eine frische Brise bei der heißesten Stunde der Wüste.

Du bist nicht ohnmächtig?

„Er hat sich gewundert, dass du bei Bewusstsein bist", übersetzte Miriam.

Ihre Mundwinkel verzogen sich in Belustigung. „Sind bloß Kratzer." Sie ließ den Kopf sinken und döste weiter.

Kratzer? Was waren ihrer Definition nach dann richtige Wunden? Ich schob Annabelles schlaffen Kopf auf meinen Schoß und kämmte ihr die verdreckten Locken hinters Ohr. Aus ihrem Kleid hatten sich Pailletten gelöst und die freien Stellen wirken nackt wie ein zerrupfter Vogel. Meine arme, arme Belle.

„Zoren."

Ich rieb mir schnell die Tränen aus den Augen. Killith, wo kommst du plötzlich her?

Habe mich um den Ausreißer gekümmert.

Sie setzte die Fackel ab und Kennox purzelte ins Loch.

„Kameldung." Er wankte schwerfällig ins Dunkle. „Nimm deine ekeligen Finger von mir, du Schmalauge mit Sprachstörung!"

Leise", mahnte Killith. Bevor ich protestieren konnte, zerrte sie Annabelles geschundenen Rücken zu sich und tastete ihn ab. Kein Bruch. Dann fasste sie sich in den Mund, das merkwürdig vertraute Geräusch von geknackten Nüssen ertönte und sie zog eine bronzefarbene Perle hervor.

Ich verzog das Gesicht. Widerlich. Wo kam das her?

Aus meinem Zahn, ein zuverlässiges Versteck. Die Flamme warf lange Schatten unter ihre Augen und in den Mundraum, die es nicht nur unmöglich machten, etwas zu erkennen, sondern ihr auch einen gruseligen Eindruck verliehen.

Killith gab Miriam die merkwürdige Kugel. Sie nickte wissend und ließ es auf die blutigen Stellen fallen. Die Schale der Perle platze auf und ergoss sich blubbernd über die Wunden wie eine Kuchenglasur. Miriam verschmierte die Flüssigkeit und Annabelle japste nach Luft.

Du tust ihr weh.

Sie sah meine Gebärde nicht, vertieft ins Verstreichen von Killiths Perle.

Ich versuchte zu reden, stöhnte unverständlich, doch es erreichte ihre Aufmerksamkeit.

„Dafür tut es später weniger weh", antwortete sie. „Das wird wie neu aussehen, vertrau mir." Ich hatte Miriams heillosen Optimismus vergessen. Dieses strahlende Lächeln, das sie auch aufsetzte, wenn niemand hinsah.

Wo sind wir eigentlich, fragte ich, um mich von dem Leid abzulenken.

Killith antwortete. Ofen.

Ofen? Was backten die Bewohner von Argon, dass sie so viel Platz brauchten, dass sich drei Männer bequem in die Mitte hätte legen können.

Ein besonderer Ofen.

Ich setzte mich auf, stieß auf etwas Hartes und fand einen bleichen Gegenstand, der einem Rippenknochen ähnelte. Vielleicht war es besser, vorerst bei besonderem Ofen zu bleiben. Mehr Grausamkeit vertrug ich heute nicht.

Miriam schob Annabelle zu mir rüber und wiederholte die Behandlung bei dem Löwenmädchen. Killith ließ ihre Zähne knacken und fischte eine weitere Perle hervor. Plötzlich wusste ich wieder, woran mich das Geräusch erinnerte! Selbes hatte ich gehört, bevor sie mir die vergiftete Feige angeboten hatte.

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