Kapitel XXI

„Mach weiter!", sagte Trix.

Kennox schnaubte. „Natürlich muss er uns alles ruinieren."

Ich wollte mich bewegen, aber mein Geist verwehrte die kleinste Zuckung. Es ging nicht! Die Augen im Publikum verengten sich in Missbilligung. Dann wechselte es zu Verwunderung. Im Augenwinkel erkannte ich den Grund in Form eins goldenen Glitzerns. Belle kletterte auf die Plattform. „Danke für ihre Geduld. Die Show geht gleich weiter", rief sie dem Publikum lächelnd zu und setzte einen Fuß aufs Seil. Ihr Knöchel bebte ungelenk. Annabelle konnte nicht seiltanzen! Meine Starre löste sich. In einem Satz stand ich an ihrer Seite. „Geh zurück! Du wirst stürzen."

„Dann halte mich gefälligst gut fest", sagte Belle. „Ich rette dir gerade deinen Hintern, du extraordinärer Idiot."

„Aber-"

„Tu es. Sie warten."

„Ich habe Angst."

„Das haben wir alle." Belle setzte einen zweiten Fuß aufs schwankende Seil. Ich schlang meinen Arm um ihre Hüfte, bevor sie fiel.

„Ich wusste, du würdest das tun." Annabelle grinste. „Jetzt bieten wir ihnen eine Show." Annabelle streckte die Arme in tänzerischer Anmut aus, was die Menge mit lautem Jubel belohnte. Ihr Lächeln strahlte mit dem Kleid um die Wette und allein ihre wankenden Füße verrieten die wahre Unsicherheit. Es würde mich ein Haufen Bücher und Kakteen kosten, das wieder gut zu machen.

Ich führte uns in die Mitte, während sie die Fassade aufrechterhielt, genaustens zu wissen, was vor sich ging. Wir schwebten über das Hochseil - Annabelle wortwörtlich mit meiner Hilfe. „Hebefigur" formten meine Lippe. Nach dem kaum merklichen Nicken ihrerseits, packte ich Annabelle an der Taille und hielt sie empor. Belle streckte die Arme aus elegant wie ein Schwan und unter uns wurde ein Nach-Luftschnappe laut. Selbst die Wüste war kurz still, um sie zu bewundern.

Der Applaus beendete den Moment. Mein Arm rutschte hoch zu ihrem Oberkörper und die andere Hand packte Belles Beine. In einem glatten Schwung hob ich sie vor meiner Brust hoch. Sie keuchte überrascht und änderte es in ein helles Lachen ab, das das Publikum endgültig hinriss. Ich schwebte übers Seil, hob ein Bein an, wechselte zum anderen und ging das geplant Programm durch, dass mir wieder kristallklar vor Augen stand. Und das alles mit Belle vor mir, wobei ihr langes Kleid wie goldene Schwingen um ihre Beine flogen. Meine Arme protestierten, aber die Reichen Nevel' liebten unsere Vorführung mehr, als ich es alleine je geschafft hatte. Jede Sekunde der Vorführung wurde von leuchtenden Gesichtern begleitetet.

Das Ende des Auftritts näherte sich. Endlich. Ich setzte Annabelle so sanft ab, als wären ihre Füße aus Glas. Sie lächelte mir aufmunternd zu. „Gleich ist es vorbei."

Ein Schweigen in der Luft. Aber keine peinliche Stille, sondern eine prickelnde, die vor Spannung strotzte. Ich sah es in den funkelnden Blicken unter mir. Ein Seitenblick verriet mir, dass Kennox hinter Belle stand, was ihn hoffentlich von Dummheiten abhielt.

Ich rannte aufs Seil, sank in die Knie. Kaum stoppte das Schwanken, schoss ich hoch zum Salto. Meine Welt drehte sich in einem konturlosen Farbbrei. Rot – Gold – Weiß.

Unter tosendem Beifall landete ich und schwang in eine ausladende Verbeugung. Das Blut rauschte mir in den Ohren, lauter als der Applaus. Leichtfüßig tänzelte ich an die Plattform und fiel in Annabelles Arme. „Ich hab's geschafft." Mir rollte eine Freudenträne über die Backe.

Der Applaus ebbte nicht ab und es kam immer besser. „Wir vermögen, den Star vom Nahmen zu sehen", schrie ein Mann aus dem Publikum und zustimmendes Gemurmel folgte. Ich hob den Kopf und blickte pochenden Herzes herab. Mit Genugtuung stellte ich fest, dass dem Boss das Abweichen vom Plan missfiel. Aber was die Reichen wollten, das bekamen sie auch. Wer konnte man den Leuten, die Taschen voller Gold trugen, einen Wunsch ausschlagen?

Ich kletterte mit Belle die Leiter herab. Wir stellten uns an den Rand in den Lichtschein der Feuerschalen und neben ihrem Kleid wirkte mein schlichter schwarzer Stoff wie Lumpen.

Ein glupschäugiger Mann betastete meinen Armen mit seinen wulstigen Händen und zupfte am Anzug. „Was für ein hochwertiges Material", schwärmte er.

Ich zuckte zusammen und unterstand dem Drang, meine Hand zurückzuziehen. „Ähm... Ja, nicht wahr?" Sollte ich die Zuschauer in nur einem Wort beschreiben, wäre es bunt. Sie waren in alle Farben des Regenbogens gekleidet. Keine Flickenteppiche mit verblassten Tönen und beschmutzen Ränder, wie ich sie aus den verarmten Dörfern kannte, sondern satte Farben, die wie Edelsteine leuchten.

„Junger Mann, das war eine atemberaubende Show. Wie war gleich ihr Name?", wollte ein anderer Herr mit kastenförmigem Gesicht wissen.

„Soren. Und meine bezaubernde Begleitung heißt Annabelle."

Sie lächelte lieblich und machte einen Knicks.

Ich ließ mir die Bewunderung auf der Zunge zergehen und kostete die Komplimente aus. Die Fragen beantwortete ich bereitwillig.

„Woher kommen sie denn?"

„Tallaj, die Schluchtenstadt."

„Ach, heilige Seher. Das ist ein ordentliches Stück entfernt. So weit weg von der Heimat als Kind, schlimm, schlimm. Wie alt bist du gleich?"

„Achtzehn, werte Dame."

Annabelle verpasste mir einen Stoß in die Seite. Beinahe hätte ich aufgejault, aber wollte mir die Blamage nicht geben. „Was sollte das?"

„Schau, die Gäste gehen. Dabei haben wir noch nicht Mal die Hälfte des Programms erreicht." Belle nickte zu den hinteren Reihen. Bunte Massen drängelten sich zum Ausgang. Einige hatten die Augen weit aufgerissen und andere kniffen sie zusammen. Mir fehlten die Worte. Hatten sie nicht unseren Auftritt geliebt? Warum sahen sie dann so unglücklich aus?

„Die kommen bestimmt gleich wieder", wisperte ich Annabelle zurück.

Der Mann vor mir löcherte mich weiter mit Fragen, als hätte er keine besseren Beschäftigungen. Der Großteil der Menschen verließ nach und nach und ich stand kurz davor, selber nach dem Grund nachzusehen, als mich eine Frage des netten Herrn stutzig machte: „Entschuldigen sie mich, aber ich bin ein vergesslicher Mann. Soren Stein war ihr Name, nicht wahr?"

Mir gefror das Grinsen im Gesicht. Soren Stein war der falsche Name, dem ich den Heiler genannt habe. Ich brachte nicht mehr hervor als ein Nicken.

„Fabelhaft", gurrte der Reiche und erhob sich. Die Wärme in seiner Miene erlosch. Der Blick, mit dem er mich bedachte, der in mir alle Alarmglocken schrillen ließ. Der Mann räusperte sich und zog etwas Glitzerndes hervor. „Im Namen vom gesamten Königreich Argon nehme ich hiermit sie, Soren Stein, und alle Mitbeteiligten fest."

Für eine Sekunde gefror die Zeit. Dann rannte ich los. Ich kam keinen Schritt weit, bevor mich die Männer zu Boden pressten. Ich hörte Schreie. Belle schrie. Trix auch. Ab da vermischte sich alles in einem Konzert aus Protest und Rufe.

„Lasst sie in Ruhe!", wollte ich sagen. Raus kam nur ein schmerzerfülltes Brüllen, als sie meine Hände gewaltsam auf den Rücken quetschten. Ich glaubte, in Ohnmacht zu fallen, doch die plötzliche Dunkelheit kam nur vom Umhang der Wache. „Ich bin... bin unschuldig." Was hatte ich getan, um das zu verdienen? Mein schweres Schnaufen wirbelte den Sand auf, der nadelspitz in meine Wangen stach. Ich sah nichts, aber hörte umso besser. Annabelles Stimme war verzerrt schrill, bis sie abrupt abbrach. „Finger weg von ich!", hätte ich gebrüllt, wenn ich die Puste dazu hätte. Alles in mir drang nach Flucht, nach Kampf. Aber die Last auf mir erlaubte kaum zu atmen, geschweige denn nur einen Zeh zu beugen.

„Lasst mein Fennek in Ruhe!", kreischte Kennox, „Sonst werde ich-" Ein Schmettern riss seinen Satz ab. Metall klirrte auf Metall. Holz brach.

Mein Körper fühlte sich an, wie in Eisen eingegossen. So schrecklich unbeweglich. So schrecklich hilflos. Eine massige Gestalt stürzte neben mich. Meine Zähne schnappten ins Fleisch. Zur selben Zeit, wo ich den kupfernen Geschmack schmeckte, zwang mich ein engerschließender Griff um den Hals loszulassen. Ich spukte Blut aus, rang nach Atem. Statt Luft füllte Rauch meine Lungen.

Der Soldat brüllte mir etwas ans Ohr. Stränge schnitten sich tiefer in meine Haut, als sie mich hochhoben wie ein gut verschnürter Koffer. Der Anzugstoff flatterte beiseite. Meine Welt stand wortwörtlich auf dem Kopf. Flammen leckten verkehrtherum am verdrehten Zirkuszelt und davor marschierten oben am Boden Schatten vorbei. Ich rief und strampelte. Nichts wirkte.

So durfte es nicht enden.

So konnte es nicht enden!

Meine Sicht verschwamm. Schwarzen, rote Flecken. Dazwischen graue, rote Blitze. Sie schmissen mich in den dunklen Schemen, den ich als Kutschen identifizierte. Ich blinzelte, bis sich mein Blick für ein paar Sekunden klärte. Schwarzer Qualm machte den Tag zur Nacht und inmitten der Dunkelheit brannte das Zirkuszelt lichterloh. Das Feuer verzerrte begierig die äußeren Planen, während dunkle Silhouetten die letzten zappelnden Akrobaten in die Kutschen verfrachteten. Es hätte die Fesseln nicht gebraucht. Ich konnte mich eh nicht bewegen. Der Soldat in weinroter Kutte verriegelte meine Tür und es wurde dunkel.

Mehrmaliges Poltern.

Ein Ächzen vom Schloss.

Dann Stille.

Und alles, was mir durch den Kopf schwirrte, war ein banaler, dummer Gedanke:

Die Schneiderin hatte recht behalten. Das Weinrot betonte seinen Silberspeer gut.

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