Kapitel XX

Fackeln bildeten den Weg zum Zirkuszelt, gleichend einem Pfad aus Sternen. Ich kauerte unter Belles alter Pelzdecke und beobachte, wie in der Ferne die Kamelkutschen sich durch den Sand schlängelten. Ich schnaubte verächtlich. „Kutschen? Ernsthaft? Den Weg hätten sie auch zu Fuß gehen können."

„Sie sind eben reich", sagte Annabelle. Träumerisch schaute sie den Karossen nach, neben den ihr eigener Wagen wie ein Haufen Bretter auf Rädern wirkte. Um die Fenster rum wehten Vorhänge, die bis zum Boden reichten und beim Näherkommen erkannte ich, dass kopfgroße Schlösser das Innere beschützten. Völlig übertrieben. In der Finsternis verwischten die Details, aber ich wettete, die Kutschen waren über und über mit Mustern verziert.

„Beeindruckend oder?", sagte Annabelle.

„Das ist verschwenderischer Protz" Mir wurde übel vom Überfluss, also kehrte ich zum Zelt zurück und kauerte mich in eine geschützte Ecke. Die schlaflosen Nächte rächten sich und ich dösten ein.

Annabelles Stimme weckte mich. „Die Plätze sind voll belegt! Es ist kaum zu glauben", quietschte sie und ihre Augen leuchteten. „Soren, gleich geht es los."

Ich rappelte mich auf, gähnte und stellte fest, dass sich der Backstage-Bereich gefüllt hatte mit schillernden Artisten. Der Boss huschte raus und winkte uns hinterher. Am Ende der Schlange stolperte ich hinterher. Leute kreischten aufgeregt und klatschen wild in die Hände. Im flackenden Schein der Feuerschalen tanzte das Bild der tosenden Menge. Ich saugte die ausgelassene Stimmung in mich auf und lächelte. Belle zwinkerte mir vom Rande zu, wo sie neben ihrem Vater stand. Ein goldenes Kleid schmiegte sich um ihre Kurven und betonte die Locken im selben Farbton. Ein wortwörtliches Goldmädchen.

„Willkommen im Zirkus Ferne Welten!", rief der Boss. Während das Publikum wild klatschte, befahl er uns mithilfe einer geschmeidigen Handbewegung auf unsere Positionen zu gehen. Beflügelt von der energievollen Stimmung flitzte ich die Leiter rauf. Der Auftritt war ein würdiger Abschluss für dieses Kapitel meines Lebens. Tat ich meine Aufgabe gut, bekam ich Geld. Hatte ich das Geld, konnte ich fliehen. War ich geflohen, war ich sicher.

Unter mir stellten sich die Bauchtänzer in eine kreisförmige Formation auf und Annabelle stolzierte in die Mitte. Inmitten der grünen Kleider, verziert mir Sprenkeln von Gold, wirkte sie wie die Königin der Tänzer. Hinter den Vorhängen versteckt drangen die ersten Akkorde, begleitet von Harfengeklimpern und einem fröhlichen Flötenspiel. Sobald der erste Takt erklang, tanzten sie zum Rhythmus der Musik mit bemerkenswerter Synchronität. Besonders Belle schwang ihren Körper so gelenkig, als hätte sie keine Knochen und Muskeln, die ihre Bewegungen einschränkten. Ich beneidete das Publikum aus der ersten Reihe, die ihr Lächeln vom Nahem sehen durften.

„Wenn du sie weiter so angaffst, fallen dir die Augen aus dem Kopf."

Ich musst mich nicht umdrehen, um zu wissen, von wem der geschmacklose Kommentar stammte.

„Spar dir deine Puste für den Auftritt, Kennox."

„Wieso, Verrückter? Drehst du sonst durch wie beim Schneider?"

Ich schwieg. Sollte er mich doch für irre halten. Hauptsache Belle wusste, dass ich es nicht war.

Er betrachtete mich von der Seite. „Du siehst nervös aus."

„Kannst du nicht Trix nerven?" Ich verdrehte die Augen.

„Die ist auf der anderen Plattform."

„Gute Ausrede."

„Nicht meine Schuld. Das hat der Boss so eingeteilt."

Der Geizkragen spielte nicht fair. Dass ich ausgerechnet heute mit Kennox auf der Plattform hockte, war kein Zufall. Ich beäugte den Boss aus zusammengekniffenen Augen. Er stand am Rande und strahlte die fröhlich-lockere Atmosphäre auf, nach dem das Publikum lechzte. Egal welche Tricks er auf Lager hatte, dieses Mal würde ich nicht fallen. Es wird mehr brauchen als ein nerviges Narbengesicht, um mir meine Freiheit streitig zu machen.

Die Tänzer zogen in einer goldenen Schlange ab und Beja stolzierte rein. Die Tücher am Körper wehten ihr beim Gehen hinterher und Glitzer zog sich wie kleine Sonnen durch ihr ergrautes Haar. Ihr Auftreten erinnerte mich an eine funkelnde, weise Fee. Es ließ mir die Nackenhärchen aufstellen.

„Dunkle Schatten verschmelzen mit der noch dunkleren Nacht zu einer schwarzen Masse. Ein Schemen, der alles in seinen kalten, verhüllenden Griff packt. Die Stadt liegt unter dem Bann der Nacht, trägt nun ein samtes Dunkelgrau als umschließendes Kleid", säuselte Beja in einem rhythmischen Sing-Sang. die Gänsehaut breitete sich auf meinen ganzen Körper aus. Ich kannte die Sagen der Nachtgeister auswendig, dennoch lauschte ich gerne und selbst Kennox hielt seine vorlaute Klappe.

„Einige hassen es, nichts zu sehen. Einige lieben es, nicht gesehen zu werden. Ihre Schritte streichen wie eine Feder über den Boden. Im Schutz der Schwärze ist die Gestalt nicht mehr als ein Hauch, ein flüchtiger Luftzug, atmet tief die Stille des Hauses ein. Leere Gänge, voll von Schweigen. Der Brustkorb hebt und senkt sich gleichmäßig. Die Lider verschlossen, verstecken sich unter dicken Lagen Stoff. Die Nacht kriecht in jeden freien Schlitz, bis sie den Raum im Ganzen ausfüllt. Aus der Dunkelheit bilden sich weißglimmende wache Augen, gelöst von dem rauchigen Schwaden aus schwachem Atem. Nachtgeister. Der Umhang der Dunkelheit ist weitläufig und eben. Es trägt die Lichtblitze von Lampen und Kerzenschein stolz als Sterne im Gewand. Zwischen Weiß und Schwarz huschen körperlose Wesen, entbunden von jeder körperlichen Hülle. Kein Sonnenlicht, um ihre majestätische Gestalt zu erleuchten. Kein Lichtschein, um die hungrigen Augen strahlen zu lassen. Die Wesen aus Rauch und Luft schleichen vorbei. Wenn die Welt hinter einer schwarzen Wand verschwindet, fließen bunte Farben in das Schauspiel aus Stille, zeichnen in scharfen Strichen Bilder, schillernd und surreal wie ein Traum, dessen Grenze ebenso mit der Dunkelheit verflossen ist zu einer Einheit."

Schweigende Sekunden verstrichen, bevor ein Chor aus Applaus im Publikum lautwurde. Nachdem Beja weitere Sagen vorgetragen hatte, schwebte sie am Ende wie der Nachtgeist ihrer Geschichten aus der Manege. Die Tücher glitten wie Rauchschwaden durch die Luft.

Eine Vorführung noch und dann kam unser Auftritt. Es klapperte, Akrobaten reichten nach ihren Stangen. Ich blieb sitzen und ließ die Choreografie vor meinem inneren Auge ablaufen. Schwach ahmte ich die Verbeugung nach und setzte zu einem nicht ausgeführten Sprung an. Am meisten fürchtete ich den Salto. Wenn das Seil schwankte, könnte mein Fuß vorbeigleiten. Normalerweise kein Problem, doch dieser Auftritt war nicht normal. Ich blitzte böse zu Kennox, der sich neben einem schlaksigen Braunschopf bereit machte. Die Stangen waren mehr als doppelt so lang wie die Größe der Jungen jeweils. Hervorragend, um jemanden aus Versehen vom Podest zu stoßen, schoss es mir durch den Kopf. Ich festigte meinen Griff um den Plattenrand.

Die letzte Flamme verpuffte in einer Rauchwolke. Unter einem lauten Jubeln verbeugten die Feuerschlucker sich und marschierten einer nach den anderen aus der Manege.

„Alle Augen auf unsere Sterne am Zirkuszelt!" Der Boss machte eine ausladende Handbewegung zu uns hoch. „Junge Talente aus aller Welt tanzen in den schwindelerregenden Höhen auf hauchdünnen Seilen. Genießen sie einen magischen Auftritt, der einem vergessen lässt, dass Schwerkraft existiert." Es versetzte mir einen Stich ins Akrobatenherz, dass der Boss die Phrasen über mich ausgelassen hatte. Ich reichte nicht mehr aus für eine besondere Erwähnung.

Das Herz klopfte mir bis zum Hals. Wir zwängten uns zu siebt nebeneinander auf das Seil. Tief einatmen, dann ging es los. Wie die Tänzer am Boden führten wir unsere Bewegung in den Lüften mit magischer Synchronität aus. Das Showgrinsen war mir auf die Lippen gedruckt. Eine Verbeugung, ein Sprung und in die Brücke über zum Handstand. Meine Muskeln boten dem zitternden Seil Konkurrenz. Sie bibberten wie Espenlaub, während ich angestrengt straff in den Stand zurückkehrte. Ich durfte mir keinen Fehler erlauben.

Zu meiner Rechten und Linken wichen die glitzernden Anzüge zurück, bis ich übrigblieb. Der schwarze Fleck mit dem weißen Gesicht wie der Mond bei Mitternacht.

„Meine Damen und Herren, Behalten sie ihre Hände zum Klatschen bereit für unseren einzigartigen Soren." Die Worte vom Boss, zusammen mit dem Applaus, schallten gedämpft zu mir rüber. Alles wurde übertönt von meinem rasenden Herzschlag. Jetzt das Solo. Im Augenwinkel sah ich Kennox seltsam nah am Seilende sitzend.

Eine harsche Handbewegung vom Boss signalisierte mir meinen Start. Ich riss die Arme in die Lüfte und vollführte meinen Tanz auf dem Seil. Meine Beine spreizten sich und der Spagat floss über zu einem weniger eleganten Aufsprung. Der Spielzeugvogel schwebte mir vor Augen, jedes Mal, wenn ich in die Menge sah. Das Publikum trug harte Mienen zur Schau mit Augen, die mich genaustens ins Visier nahmen. Als wartete sie nur darauf, dass ich einen Fehler beging. Mein Fuß stampfte ruckartig auf und brachte das Seil zum Beben. Ich wedelte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten. Ein Zischen ging durch die Menge. Von mitleidig zu erbost ließ sich alles auf den Gesichtern ablesen.

Ich fing mich und starrte runter. Meine Muskeln verweigerte ihre Bewegung wie eingerostet. Alle gelernten Schritte waren vergessen wie ausradiert. Ich fühlte mich krank. Krank vor Lampenfieber.

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