Kapitel XVI

Ich fiel kraftlos auf Annabelles Bett. „Er war es nicht."

„Was soll Er war es nicht heißen?" Belle wand sich vom Schreibtisch ab, an dem sie eben noch eifrig geschrieben hatte. „Ich dachte, du bist dir sicher mit ihm."

„War ich. Kennox schauspielert entweder wie ein Gott oder ist unschuldig."

„Der Kerl lügt so gut, wie er nett sein kann." Belle presste mit mehr Kraft als nötig die Tintenfeder aufs Pergament.

„Also stehe ich wieder am Anfang." Mein Gesicht verzog sich.

„Es sei denn, wir berichten Argon endlich von deinem Fund. Schau, der Herrscher sieht ehrlich aus. Er wird uns zuhören." Belle schob mir eine Schwarz-Weiß Zeichnung unter die Nase. Es zeigte einen Mann in seinen Dreißigern. Das Haar kräuselte sich bis zu seinen Schultern und lose Strähnen standen in alle Richtungen ab, als wäre er in letzter Sekunde einem Sandsturm entkommen. Ein Lächeln entblößte eine Reihe sternweißer Zähne, dessen Farbton seinen ebenso bleichen Augen Konkurrenz machte.

„Er erinnert mich an einen Löwen, der seine Zähne fletscht. Nein danke." Ich starrte weiter durch den Lichtspalt der zugeklappten Fensterläden. Von mageren Jongleuren bis zu breitschultrigen Gewichthebern war jeder vertreten im Tumult draußen. Alles bekannte Gesichter. Nichts Verdächtiges.

„Überlege es dir gut. Wir diskutieren nicht um irgendwas. Was ist eigentlich mit der Abschottung? Muss das sein? Ich würde gerne sehen, was ich lese."

Als würde ich es zum Spaß tun. „Kein Problem. Die Feuerschlucker haben für die liebe Direktortochter immer eine Fackel übrig."

„Sehr empathisch." Belle stieß einen Laut aus, der zwischen Seufzen und Schnauben lag. „Du musst mit dieser Paranoia endlich aufhören! Ich verstehe, dass du den Höheren nicht traust, aber am Ende werden sie dich eh finden. Argon besitzt die Kapazität von mehr Soldaten als Nevel Einwohner hat und eine Armee, die schon zwei Kriege gewann. Das lässt einen antizipieren, dass Leute dieses Machtbesitzes auch einen Zirkusakrobaten finden. Ein trivialer Fakt.", sagte Annabelle und ich zuckte bei den Fremdwörtern zusammen. Sie war sauer.

„Beruhige dich. Ich habe bereits einen Plan."

„Ach ja? Wenn ich das richtig verstehe, ist dein sogenannter Plan, dich in meinem Wagen zu verstecken und aus dem Fenster zu glotzen, bis die Lösung magisch vor deinen Augen auftaucht? Grandiose Idee."

„Nein." Meine Stimme klang leer wie ein längst erloschenes Feuer. „Ich werde fliehen, zurück in die Heimat. Mir bleibt keine Wahl. Hier hat man mich zu oft gesehen und wenn jemand die Verbindung zum Zirkus herstellt, sind wir alle geliefert. In den Schächten Zuhause ist jeder ein grauer Schatten. Da kann ich untertauchen, bis Gras über die Sache gewachsen ist und ich zurückkann." Das war unwahrscheinlich, aber ich wollte nicht ihre Hoffnung ersticken, die so zerbrechlich in Belles Augen flackerte wie das Federkiel, das sie erdrückte. Ein Tintenrinnsal floss wie blaues Blut übers Pergament. „Das geht nicht! Du hast... du hast nicht Mal das Geld für diese Reise."

„Noch nicht. Aber wenn ich deinen Kalender richtig deute, der übrigens gerade in Tinte ertrinkt, ist nach der Premiere Zahltag." Vorausgesetzt E.F. und seine Leute fanden mich nicht vorher.

„Oh Nein! Du wirst nicht gehen", sagte Belle in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Sie tupfte das Blatt mit einem Lappen ab, welches sich sekundenschnell vollsaugte und ihre Fingerkuppen verfärbte.

„Erschwere mir den Abschied nicht", seufzte ich, „Die Entscheidung ist gefallen. Du kannst mich nicht aufhalten."

„Kann ich sehr wohl. Du schuldest mir einen Beutel Münzen und bist verpflichtet diese am Zahltag zurückzuzahlen."

Der Schlafmangel rächte sich. Meine Ohren gaukelten mir vor, Sachen zu hören, die Annabelle nie sagen würde. „Was?"

„Hast schon richtig gehört. Ich will den Geldbeutel zurück."

„Das meinst du unmöglich ernst."

Belle schmiss sich zu mir auf ihr Bett, wobei der Bücherturm erneut zitterte. „Soren", begann sie und nahm mich bei der Hand. „Du wirst dein Leben nicht wegen einem Kristall wegschmeißen. Sieh dich um. Du hast ein Leben, Geld, Freunde und die Hauptrolle in unserem wichtigsten Stunt. Du bist eine kleine Berühmtheit in Zirkuskreisen. Das willst du alles wegwerfen?"

„Nicht wollen. Ich muss."

„Du musst nichts. Es gäbe eine Lösung, wenn du nicht so stur wärst." Sie rollte mit den Augen. „Sag mir wenigstens, wo du das Kristallauge-"

„Nicht so laut!"

„Wo du den Stein versteckt hältst."

Ich schaute vom Fenster auf und lächelte wehmütig. Annabelle würde mir fehlen. „Ich liebe deinen Sturkopf, aber manchmal wünschte ich, du wärst weniger beharrlich. Wenn ich dir sage, wo der Stein steckt, schickst du ihn persönlich nach Argon."

Annabelle antwortete nicht.

„Ich werde dir immer Briefe schicken, versprochen."

„Das ist wirklich impertinent. Ich frage mich, ob wirklich ich der Sturkopf sein soll. Das Kristallauge-"

„Belle!"

„Der Stein hat dich zu einem irrationalen Feigling gemacht, der voller Überzeugung gegen die Wand läuft. Trag die Konsequenzen, auch wenn du nicht fakultativ reingeraten bist."

Annabelle klang wie eine keifende Oma, die von ihrem Balkon den Leuten auf der Straße ihren Rat hinterherrief. Aber im Kern musste eine Wahrheit stecken, wenn sie es geschafft hatte, so alt zu werden.

„Wer hätte nicht Angst, wenn ein dummer Klunker dein Leben zerstören könnte?"

„Du verstehst es einfach nicht!" Mit einem Schnauben stapfte sie raus. Ich sah durch den Lichtspalt, wie sie ging und ihre Locken im Takt mit den harten Schritten wippten. Seit dem Kristallauge streiten wir so viel wie für gewöhnlich in einem ganzen Jahr. Ich beugte mich gerne Belles Entscheidungen, denn sie war die Klügere von uns Beiden, aber dieses Problem war eine Ausnahme.

Ich nahm mir vor, ihr von den restlichen Münzen eine neue Kaktee für ihre Sammlung zu kaufen als Besänftigung. Vielleicht eine mit den abendhimmelrosa Blüten, die sie so sehr liebte. Briefpapier und Tauben könnte ich mir Zuhause von meinen Brüdern und Schwestern leihen. Joanna hatte damals einen Taubenstall aufmachen wollen, bevor ich das Angebot vom Zirkus bekam. Sie würde mir sicher eine leihen. Ich wusste nicht, was mehr schmerzte. Die Gedanken an Zuhause oder den, Belle verlassen zu müssen. Definitiv Belle. Ans Heimweh hatte ich mich seit Langem gewöhnt. An das Andere nicht.

Annabelle kam wenig später zurück.

„Du hast es dir anders überlegt", freute ich mich und stand auf.

„Falsch. Mein Privatlehrer kommt gleich und ich kann mich nicht konzentrieren, wenn du umherschleichst, als würde dich jede Sekunde jemand erschießen."

Mein Lächeln blätterte ab. „Weil es so ist! Bitte lass mich bleiben. Ich werde ruhig sein und dich nicht stören."

„Das geht nicht. Soren, ich hänge im Thema hinterher, weil ich es in letzter Zeit so oft ausfallen lasse wegen dir. Außerdem muss die Aufführung neu geplant werden. Uns fehlen die Schlangenbeschwörerin und ein Bauchtänzer, dafür haben wir zu viele Artisten auf dem Hochseil. Ich habe vielleicht kein Kristall- Stein gefunden, aber habe auch meine Probleme."

Ihre Worte trafen mich wie eine schallende Ohrfeige. Ich trottete hängenden Schulterns aus dem Wohnwagen. Mir war, als würde selbst die Sonne es auf mich abgesehen haben, wie sie meine Augen blendete, damit ich den Feind nicht sehen konnte. Ich verstand nicht, dass Annabelle mich in solchen Zeiten rausschmiss.

„Kann ich helfen?", piepste eine Stimme neben mir.

Ich sprang einen Schritt zurück. „Trix, schleiche dich nicht so an!"

„Habe ich nicht. Du bist zu mir gegangen, nicht andersrum", maulte sie.

Tatsächlich stand ich vor ihrem Zelt, das sich auszeichnete durch die bemalten blutroten Runen, die Glück und Erfolg versprechen sollten - Unsinn. Anderseits, das Glück schaute in letzter Zeit nur selten bei mir vorbei.

„Hast du eigentlich noch einer dieser Erfolg-Gedöns-Steine?"

„Immer", sagte Trix ein wenig bedröppelt, „Aber die heißen nicht Erfolg-Gedöns-Steine, sondern Runensteine."

„Tut mir leid. Die meinte ich. Darf ich einen?"

Trix nickte eifrig und kroch in ihr Zelt. „Seit wann glaubst du an sowas? Zu Beja hast du es noch als Stamm-Unsinn beschrieben." Sie kam mir einem Beutel raus, der bei jedem Schritt schepperte.

Ich kratzte mich verlegen am Kopf. „Für die Premiere kann ich jede Hilfe gebrauchen."

„Wohl war. Der Boss hat schon etlichen gedroht, sie zu entlassen, wenn sie den Auftritt in Nevel verpatzen." Trix zog eine violette Murmel hervor. Kratzer teilten die die Oberfläche und es erinnerte mich an ein F. „Das ist Fehu, Rune des Erfolgs. Ein wahrer Klassiker", schwärmte sie, „Dem Quarz, aus dem es besteht, sagt man nach, er hätte eine entgiftende Wirkung. Ihn nennt man..."

„...Amethyst", beendete ich ihren Satz, worauf Trix die Augen weit aufriss.

„Woher weißt du das?"

Ich schnitt eine Grimasse und stecke den Runenstein ein. „Minenkind eben. Vielen Dank für den Glücksbringer." Ich spürte die Anspannung für einen Wimpernschlag abfallen. Nicht wegen der Rune oder ihren Kräften, sondern weil es mir das Gefühl gab, ein Stück Heimat mitzutragen. Amethyst hatten wir oft aus den Minen geborgen. Mein Hochmut wurden mit der nächsten Böe weggetragen. Ich stand alleine in der Zeltstadt – ideal, um überfallen zu werden, entführt oder Schlimmeres. Ich wirbelte herum. „Trix, warte!"

„Was ist los?" Sie hob den Kopf.

„Ähm... Kannst du mir nicht noch die anderen Runen zeigen wie Fähni?"

„Fehu", korrigierte Trix mich, „Wenn du drauf bestehst, gerne." Sie war zu höflich zum Fragen, doch ich las ihrer Miene ab, dass sie mein plötzliches Interesse überraschte. Was hätte ich auch sagen sollen? Etwa: „Ein Königreich sucht wahrscheinlich nach mir und mein eigenes Zelt ist deswegen zu unsicher, falls man mir dort auflauert. Belle warf mich raus, also brauche ich einen neuen Unterschlupft – wie dein Zelt."?

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