Kapitel XV

Ein Strom von kostümierten Menschen füllte die Manege nach und nach. Ein Gewusel aus Westen in den typischen Zirkusfarben gold und jadegrün. Dazwischen die kirschroten Lippen der Bauchtänzer und die flammend-orangen Capes der Feuerschlucker. Eine schnelle Bewegung über mir fing meine Aufmerksamkeit. Trix schwang wie ein Blitz am Trapez mit je einem weiteren Akrobaten zu ihren Flanken.

Ich stand am Rand der Manege und suchte zwischen Pailletten und Kopftüchern nach dem zernarbten Kopf. Wo warst du, Kennox? Ein Pfiff ließ mich zusammenschrecken.

„Alle auf ihre Plätze und aufwärmen. Die Generalprobe beginnt in fünf Minuten!", rief der Boss. Die schillernden Menschenmassen stoben auseinander und er wiederholte das Gesagte in Gebärdensprache. Für Unwissende sah es aus, als wollte er erfolglos ein Mosquito verscheuchen. Das hatte mir Trix einst zu gewispert an einem Lagerfeuerabend. Ich lächelte reumütig. Diese Abende lagen gefühlte Jahrzehnte zurück.

„Die Ansage galt auch für dich, Soren", sagte der Boss.

Ich lief rot an und drängelte mich durchs Glitzergemenge. Meine Füße führten mich zur Leiter des Hochseils, aber kamen dort nicht an, denn ein Ruck zog mich vorher aus dem Hauptzelt. Ich stürzte Backstage auf die Knie.

„Wir müssen reden", brummte die vertraute Stimme Kennox'. Mein Körper reagierte schneller als mein Kopf.

Er rang nach Luft. Mein Ellbogen klemmte um seinen Hals. Es drückte ihm den Atemweg ab, denn – ich hielt ihn im Würgegriff.

Ich hielt ihn im Würgegriff!

Ich hielt ihn im Würgegriff?

Mein Griff löste sich. Bestürzung ersetzte schlagartig meine Wut. Seit wann wusste ich, wie sowas geht?

Kennox hustete und rang nach Atem. „Können wir einmal reden, ohne dass du mir an die Kehle willst?"

„Erst wenn du aufhörst, dieses dreckige Spiel zu spielen."

„Ich habe das Gefühl, du nimmst etwas ganz falsch war." Er mimte seine Verwunderung so überzeugend, dass ich ihm geglaubt hätte, wüsste ich es nicht besser. „Wer ist E.F?"

Ich schritt mit erhobenen Fäusten auf ihn zu.

Kennox wich zurück. „Ef?"

Der Boss rief nach uns. Wir ignorierten es. Das Verlangen schwoll an, ihm weh zu tun. Mein Faustschlag segelte ins Leere.

Kennox stand plötzlich eine Armlänge weiter rechts von mir. „Ich kämpfe nicht mehr", zischte er, „Selbst, wenn meine Kollegen ihren Verstand verlieren."

Mein Herz explodierte beinahe. Er war der Verrückte, nicht ich! „Warum tust du mir das alles an? Warum diese Qual?"

„Ist das nicht offensichtlich?"

„Nein!" Ich überging auch den zweiten Ruf vom Boss.

„Ich wollte mir meinen Job sichern."

„Was?"

Kennox Stirnnarbe zuckte genervt hoch von meiner Fragerei. „Ich brauche den Gehalt, nichts Persönliches. Falls dein kleines Albino-Hirn es nicht mitbekommen hat, der Boss beginnt Artisten zu entlassen, seit wir zu viele auf dem Hochseil sind."

Ein hysterisches Lachen stieg in meiner Kehle auf. „So viel Aufwand dafür?" Der nächste Schlag traf erneut ins Nichts. Kennox windete sich schlimmer als eine glitschige Klapperschlange.

„Eigentlich war es nicht viel Aufwand. Ich musste nur eine Nacht vorher Schmalz stibitzen", sagte er.

„Schmalz?"

„Mit was sonst hätte ich dich zum Fall bringen sollen?"

Ich blinzelte perplex. „Wovon redest du überhaupt?"

„Na die Seil-Manipulation. Hast lange gebraucht, um zu merken, dass ich es eingefettet habe." Er grinste selbstgefällig. „Soren, der der nie fällt, stürzt kläglich vom Hochseil. Zum Totlachen."

Ich lachte kein bisschen. „Und der Kristall?"

„Welcher Kristall?" Die Verwirrung auf seinem Gesicht war zu rein, als dass er es schauspielerte. Mein Mund klappte auf, aber kein Ton kam raus. Mir war, als breche meine Welt zusammen und ich stürzte im freien Fall geradewegs auf den niederschmetternden Boden der Realität.

„Du bist seltsam, Soren", sagte Kennox kopfschüttelnd.

„Das ist ein großes Missverständnis!"

„Das Gefühl habe ich seit Längerem."

„Mit ‚Ich weiß, was du heute Morgen getan hast' haben wir Unterschiedliches gemeint. Ich dachte du hättest..." Hättest mir das Kristallauge ins Bett geschmuggelt, um mich von meiner Zirkuspflichten abzulenken? Um mir das Leben zu erschweren aus Boshaftigkeit? Das war irre. Mein letzter Hinweis zum Kristallauge ging in Rauch auf und riss meine Wut mit sich. Ich fühlte mich leer.

„Ich hätte was?", wiederholte Kennox.

„Du hast... du hast gesagt ‚Dein Edelstein fühlt sich mehr zu dir hingezogen denn je'. Was ist damit?"

„Ich meinte Annabelle. Ihr Minenkinder nennt eure Gefährten Edelsteine und solchen Kitsch, oder?"

„Das ist ein Vorurteil." Meine Stimme kratzte ab. Ich schlurfte benommen an ihm vorbei. Wie konnte ich mich so geirrt haben?

„Hey! Du schuldest mir eine Erklärung, Mondgesicht."

Mit hochrotem Kopf platze der Boss Backstage rein. „Soren und Kennox! Wenn ihr nicht sofort kommt, entlasse ich euch auf der Stelle!"

Außer Atem drängelte Annabelle sich vorbei. „Schon gut, Paps. Sie haben etwas für mich erledigt."

Er stockte. „Ach, ist das so?"

Kennox und ich nickten gleichzeitig wie einstudiert und er kramte lässig etwas aus seiner Tasche, dass er Annabelle reichte. „Hier ist es." Seine Ohrenspitzen glühten rot und verrieten die Lüge. Aber der Direktor hatte nur Augen für seine brave, liebe Tochter. Belle setzte ein Lächeln auf und nahm es dankend an, ohne hinzugucken. Ihr Blick bohrte sich in meinem Kopf. Was zur Hölle ist passiert, schien sie zu sagen.

Ich vergewisserte mich, dass Kennox weiter zum Boss und Belle guckte, dann formten meine Hände kraftlose Bewegungen. Wie das Tanzen zu einem imaginären, langsamen Song bildeten meine Hände die Worte in Gebärdensprache: „Er - ist – es - nicht."

Belle setzte zum Reden an, hielt sich zurück im letzten Moment und ein Quietschen entschlüpfte ihr. Sie änderte es ab zu einem Husten. „Habe mich verschluckt", erklärte sie und klimperte mit den Wimpern. Es hätte mich nicht gewundert, wenn ein Heiligenschein über ihrem Kopf aufgeflimmert hätte.

Der Boss klatschte in die Hände. „Wenn das geklärt wäre, gehen alle auf ihre Plätze. Soren, bleib in deinen Klamotten. Fürs Umziehen haben wir keine Zeit mehr."

Belles Miene war ein einziges Fragezeichen. Später signalisierte ich ihr mit einer flüchtigen Handgeste.

Meine Lippen öffnete und schlossen, gaben Worte von sich. Meine Füße setzen einen vor den anderen, gingen zur Leiter. Meine Hände umfassten die Sprossen, zogen mein Gewicht hinterher. Mein Kopf war davon weit, weit entfernt. Die Befehle drangen zu mir vor wie durch Watte. Ich dachte über Belle nach, über Kennox. Wenn er mir nie etwas Böses wollte, außer die Sabotage am Seil, konnte er nicht das Zelt durchsucht haben, mich einliefern lassen oder die anderen Gräueltaten. Ich war genauso dumm wie am Morgen des Kristallauges.

Eine Hand schubste mich aufs Seil. Ich führte meine Choreografie aus, bevor der Boss die Anweisungen rief. Oder hörte ich sie nur verspätet? Mein Körper gehorchte mir und führte das Stück auf, dass er hunderte Male schon getan hatte. Denn es musste funktionieren, wenn mein Leben auch funktionieren sollte.

Ich fühlte mich wie diese aufziehbaren Spielzeugvogel mit dem Drehschlüssen im Rücken. Man zog ihn einmal kräftig auf und dann trällerte es ein Lied und hüpfte auf den Drahtfüßen umher. Man zog es wieder auf und er wiederholte alles exakt, solange bis die Maschine rostete und der Vogel mehr krächzte als sang. Ich ahmte zwar die geforderten Schritte nach, aber jeder Sprung, jede Verbeugung und jedes Grinsen verlief stockend und kantig wie der rostige Vogel. Ich hatte jede Eleganz verloren, aber noch reichte mein Krächzten als Gesang aus.

„Das geht auch besser, Weißhaut." Kennox riss mich zurück und schob sich, mit der Balancierstange in einer Hand, vor mir aufs Seil. Es wackelte. Ich mochte zu glaubten, es zittere wegen seiner amateurhaften Ausführung der Choreografie. Jedoch im Gegensatz zu mir strahle er Leben aus mit einem Glanz in den Augen, der schrie: ich bin gerne hier. Oder jedenfalls war es das, was wir dem Publikum verkaufen wollten. Jeder grinste, wenn der Betrag stimmte.

Ich hockte mich an die Plattform an den Enden des Hochseils und schaute aufs Geschehen unter mir herab. Mein sandsteinbraunes Hemd ging unter zwischen den kostümierten Akrobaten, die wie Schmuckstücke glänzten. Zum ersten Mal fühlte sich der Zirkus nicht mehr wie mein Zuhause an. Ich hätte genauso gut im Quarantänezimmer schmoren können mit meiner Fensternachbarin. So viel Chaos um nichts. Kein Problem gelöst, höchstens mehr erschaffen. E.F. suchte nach dem Kristallauge und nach mir. Ich genoss die Aussicht der Manege und stellte fest, dass meine Situation aussichtlos war.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top