Kapitel XL
„Alles in Ordnung?" Alexej kniete sich auf den Boden und hielt mir die Hand hin.
„Nie besser", log ich, überging die offene Hand und kam alleine auf die Füße.
„Tut mir leid, das musste getan werden. Jeder in diesem Raum hätte den Respekt vor mir verloren, wenn ich sowas durchgehen lasse." Zerknirscht fasste er sich an die kurzgeschorene Schläfe.
Ich schnaubte. Zugegeben, der Schlag kribbelte bloß, aber vielleicht fürchtete er, den einzigen Jungen zu verletzen, der ihm zu seinem geliebten Juwel führen konnte.
„Komm mit, drinnen ist es wärmer."
Ich brauchte eine Sekunde, um zu realisieren, dass er auf mein Zittern anspielte. Eine Weitere, um zu merken, wo wir waren. Das Dach des Hauses war bis auf Aschepfützen runtergebrannt, doch die Steinwände hatten den Flammen erfolgreich getrotzt. Ans Erdgeschoss eckte eine Feuerstelle mit Amboss an. Die Geräte des Schmiedes lagen verstreut herum, als hätte jemand vor kurzem noch damit gearbeitet. Waffen, wenn ich die rußschwarzen Schneiden richtig deutete. Ein Zuhause für einen Arbeiter, keinen König.
„Mir ist nicht kalt", sagte ich.
„Mir aber." Alexej schloss die Tür auf. Nach einem kurzen Zögern ging ich hinterher und folgte ihm in ein Wohnzimmer. Die Karte der Wüste spannte sich über die rechte Wand, wofür man das Sofa, Schreibtisch und die anderen Möbel auf die gegenüber liegender Seite stellen musste. Alexej nahm Platz und wies auf den Sessel neben ihm.
„Nein danke, ich will lieber stehen." Ich beäugte ihn prüfend. „Beantwortest du jetzt meine Fragen oder hast du mich nur hergebracht, um mich in Ruhe zu verprügeln?"
Er stieß einen langgezogenen Seufzer aus. „Nimm den Schlag nicht zu persönlich. Es ging um meine Reputation bei der Garde. Das habe ich dir schon gesagt."
Ich hätte etwas Schnippisches erwidert, wenn ich wüsste, was Reputation hieß. „Extraordinär", murmelte ich. Sein Mundwinkel zuckte so kurz hoch, dass ich es als Streich meiner Augen abtat.
„Wir brauchen ihre Loyalität, wenn wir beide unsere Wünsche erfüllt bekommen wollen."
„Würden die Leute sich dich nicht lieber in Gladdier wünschen?"
„Sicher."
„Wieso bist du dann nicht dort?"
Das Licht der sterbenden Sonne zeichnete seine harten Wangenknochen golden wie eine mürrische Statue. „Die Wahrheit ist, von König blieb nur der Titel übrig. Ich habe mir Feinde gemacht, die mich töten würden, sobald ich über die Schwelle Gladdier' trete."
„Argon?"
„Wer sonst könnte mir ebenbürtig sein."
„Was wollen sie von dir?"
Er pauste. „Das wertvollste Gut der Wüste. Die Oasen. Wie Tiere stürzen sich die Leute aufs Wasser, wenn es knapp wird."
„Wertvollste Gut? Nun, im Moment ist auch ein gewisser Kristall sehr beliebt", sagte ich trocken.
„Und deswegen brauche ich ihn."
Ich schüttelte ungläubig mit dem Kopf. Nach all den Geheimnissen und Netzen aus Lügen rückte er mit der Wahrheit raus. Nur war es nicht die Wahrheit, nicht die Ganze. Ich hatte genug Lügner in letzter Zeit getroffen, ich witterte, dass er mir etwas verschwieg. Schon wieder. „Du hast zu viel Eveil fou getrunken, wenn du glaubst, sie werden ihr Wasser für einen Stein aufgeben."
„Es ist kein gewöhnlicher Stein."
„Lass dir das sagen, von einem Jungen, der sein halbes Leben in den Minen gearbeitet hat. Für den materiellen Wert bekommst du nicht Mal genug Wasser, um eine Großfamilie für eine Woche satt zu kriegen."
Er stand auf. „Lass dir das sagen, von einem Mann, der sein Leben der Politik geopfert hat. Würde Argon so einen Aufwand betreiben, wenn ihnen am Kristallauge nichts liegt? Würden sie ihre eigenen Gesetze brechen und in der gesamten Wüste nach einem Kristall fanden?"
„Was soll diesen Kristall so besonders machen?" Noch bevor er antwortete, wusste ich am leidvollen, genervten Ausdruck in seinen Augen, dass er es mir nicht verraten würde. Ich winkte ab und ließ mich mit einem Stöhnen in den Sessel fallen. Als würde man eine Steinwand befragen.
„Du willst dir gewiss noch etwas anderes ansehen." Er holte einen Ordner vom Schreibtisch, blätterte drin rum und nickte zufrieden, als er das richtige Dokument fand. Alexej reichte mir das vergilbte Blatt falsch herum.
Ich drehte es und dieses Mal hatte ich mir sein Lächeln nicht eingebildet. Ich überflog den Text. Gespickt mit lauter komplizierten Wörtern, aber nach ein wenig Raten, kam ich zum Schluss, dass es ein Vertrag war. Irgendwas über Loyalität zur Garde und eine Reihe strikter Regeln wie das absolute Schweigen über alle Vorkommnisse dort. Die Unterschrift am Blattende war die einer Hand, die noch nie einen Stift gehalten hatte. S-O-R-E-N. Mir sank die Wärme aus dem Gesicht und ein vertrautes Kribbeln kroch mir den Nacken rauf. Ich hatte diesen Vertrag schon mal gesehen. Ein Mann mit angeborener Eleganz und schwarzen Handschuhen hatte ihn mir im Traum gereicht, das Gesicht verschwommen, doch... „Du hast mir das damals in Tallaj gegeben, oder?"
„Ja, woher weißt du das?"
„Zuhause habe ich genauso geschrieben wie hier", sagte ich schnell.
Alexej entspannte sich wieder.
„Warum hast du eben gelächelt?"
„Du wirst es nicht mehr wissen, aber als ich dir damals den Vertrag falschherum gegeben habe, hast du so getan, als könnest du lesen. Hattest befürchtet, ich würde dich ansonsten nicht einstellen. Ich musste dir sogar deinen Namen in den Sand zeichnen."
Äußerlich schmunzelte ich, doch innen blieb mein Herz für einen Atemzug stehen. Genauso wie im Traum. „Aber du hast mich dennoch genommen?"
„Ja, das hatte zwei Gründe. Eigentlich war ich nur in Tallaj, um einen Informanten zu treffen, doch gelang kaum durch die Menschentraube auf dem Markplatz. Alle sahen sie rauf zum Jungen, der an den Wänden krabbelte, um ein törichtes Händlerbalg zu retten. Mut und ein Talent, wie eine Spinne zu klettern. Sowas schätzt man bei der Mitternachtsgarde. Außerdem bezahlen wir besser als in nutzlosen Teddys."
Da hatte ich die Bestätigung! Mein Herzschlag übertönte jeden klaren Gedanken. Genauso wie im Traum, es sei denn... es war gar keiner. Ich räusperte mich. „Und ... und der zweite Grund?"
Schmunzelnd sah Alexej mich an. Unter diesem klaren kalten Blick der grauen Augen fiel es mir schwer, nicht wegzugucken. „Die Illusion. Das Spiel der Masken ist eines der wichtigsten in der Politik. So viele Meinungen und allen musst du das Gefühl geben, gehört zu werden. Und du hast auch eine, sogar angeboren. Wer würde einem abgemagerten kleinen Jungen zutrauen, Spion zu spielen für einen König? Die Leute würden lachend den Kopf schütteln, wenn du es ihnen erzählst. Unterschätzt zu werden, ist Gold wert. Und womöglich bin ich auf meine eigene Illusion reingefallen." Den letzten Satz flüsterte er nur und seine Augen verschmälerten sich.
Er spielte auf meinen angeblichen Verrat an. „Trägst du gerade eine Maske?", fragte ich, unbeirrt von der versteckten Unterstellung.
„Soren, jeder Mensch tut es zu jeder Zeit. Es ist unausweichlich." Er erhob sich und schritt zum Fenster, zog den seidig goldenen Vorhang beiseite. Die Bernsteinhöhle wirkte wie ein kleiner orangener Fleck in der Schwärze. Er ließ sein Anblick über die dunklen Schemen der Ruinen wandern, ehe er sagte: „Hast du dich je gefragt, warum ich aus gerechnet diesen Ort als Rückzug ausgesucht habe?"
„Weil es nichts Besseres gab?" Miriams Worte flogen mir durch den Kopf: Kein anderer will die tote Stadt haben. Keiner, außer Alexej.
„Du bist klüger als das. Denke nach."
Ich zuckte mit den Schultern. „Eine weitere Maske?"
Er nickte. „Die Menschen haben diese Gegend schon vergessen, für sterbend erklärt. Niemand erwartet, dass in der toten Stadt noch ein Herz schlägt."
Hatte ich nicht dasselbe gedacht, bei meinem ersten Aufenthalt? Die Ruinen sahen kaum bewohnbar aus, aber doch war es nur ein Trick fürs faule Auge gewesen, überstürzt ein Urteil zu richten. Er schien so stolz auf seine geniale Idee, doch hatte ich auch ein neues Ass im Ärmel, oder eher im Kopf. Die Traum-Erinnerungen. Wenn mein Verdacht stimmte, könnte ich bald die Wahrheit selber zusammensetzen, ganz unabhängig von Alexej und seinen Lügengeschichten.
„Du bist so schweigsam", sagte er. „Habe ich dich sprachlos gemacht?"
„Ein wenig. Ich habe es wohl nie in diesem Licht gesehen. Die Stadt scheint sicherer, als sie aussieht."
„Gewöhne dich nicht dran. In zwei Tagen brechen wir auf. Bis dahin wirst du mit Miriam die Grundlagen wiederholen, um nicht wehrlos da zu stehen."
„In so kurzer Zeit?"
„Die Amnesie hat dein Gedächtnis leergefegt auf oberflächlichem Niveau, aber du kannst deine Muskeln nicht vergessen lassen, wie man ein Messer führt. Das liegt tiefer verwurzelt."
Es kostete mich Mühe, das Grinsen zu unterdrücken. Er irrte sich, nicht nur meine Muskeln begannen sich zu erinnern.
Auch ich, ich erinnerte mich.
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