Kapitel XIX
Ich bremste, stürzte und sackte am Boden zusammen. Die Soldaten von Argon – sie waren da! Es hätte die Männer kaum vier Schritte gekostete, um mich festzunehmen. Nur vier Schritte. Das war so absurd, dass mir das Lachen den Atemweg zuschnürte. Der Soldat hätte seine Hand bloß ausstrecken müssen, um meinen Arm zu packen und mir den Speer durch die Brust zu jagen. Ein Schauder durchrüttelte mich.
Ein Entschluss reifte jäh heran: Ich konnte unmöglich bleiben. Nicht mit dem Feind im Nacken. Ich schlich zum Zelt zurück mit dem Bruchteil meiner alten Eleganz. Drinnen hatte sich nichts geändert. Immer noch dasselbe Chaos. Ich befüllte einen Sack mit meiner zerrupften Decke, die Reste vom Fladenbrot und einer halbvollen Feldflasche. Meine Finger angelten nach den Goldtalern, aber erwischten den Runenstein Fehu. Beides packte ich zu meinen anderen wenigen Habseligkeiten. Das musste für die Reise reichen. Es war alles, was ich besaß.
Die Angst schaute mir beim Packen über die Schulter wie ein vertrauter Begleiter. Ich stopfte ein Kissen neben zerknautschtes Brot und fürchtete im nächsten Atemzug, eine Speerspitze aus meiner Brust ragen zu sehen. Nichts passierte. Natürlich nicht.
Nach langem Überlegen holte ich die halbvolle Feldflasche wieder hervor und schnürte den Sack mit einem fransigen Band zu. Annabelle würde es nicht bemerken, wenn ich ihr Wasserfass anzapfte. Außerdem bot sich die Gelegenheit, ihr Vorort einen Abschiedsbrief zu hinterlegen. Aber schnell. Ich hielt mich schon viel zu lange hier auf.
Annabelles Wagen lag in einem gespenstischen Schweigen da, getaucht in die Düsternis, wenn der Abend den Nachmittag ablöste. Ich hob den Kaktus mit der Blüte hoch. Kein Schlüssel. Von drinnen drang weder Licht noch Geräusche, also konnte Annabelle sich nicht im Wagen befinden. Um diese Zeit zu schlafen, sah ihr ebenfalls nicht ähnlich. Wenn weder ich noch Belle im Wagen waren, wer hatte dann den Schlüssel? Ich wich einen Schritt zurück, noch einen. Die Stille bereitete mir mehr Angst, als Lärm es gekonnt hätte. Der Anzug schluckte jeden Ton meiner Bewegung, was mein Herz schneller hämmern ließ. Ihr Anzug war wie meiner, wenn nicht besser. Bewegte ich mich lautlos, taten sie es längst auch.
Etwas klimperte. Ich fuhr zusammen. Es war das Geräusch von Metallplättchen, die aufeinanderschlugen. Gekleidet im Goldgewand der Bauchtänzer, klapperten sie an Armen und Füßen mit jedem Schritt von Annabelle. Sie schlenderte auf den Wagen zu geradewegs in die Gefahr. Ich stürzte hervor und presste ihr die Hand auf dem Mund. „Psst, nicht Schreien."
Belle quietsche auf und wehrte sich. Unsere Blicke trafen und die Gegenwehr erstarb. Ich nahm die Hand runter.
„Was soll das?", schrie sie.
„Leise, leise. Jemand hat den Schlüssel geklaut. Es ist nicht sicher-"
Annabelle drückte mich beiseite und stampfte auf den Wagen zu.
„Du kannst da nicht rein!"
Belle hielt einen Schlüssel hoch. Den Schlüssel, der unterm Kaktus sein sollte.
„Oh."
„Niemand hat irgendwas geklaut. Ich bin der Besitzer des Wagens und nehme meine Schlüssel manchmal mit – was ist daran ungewöhnlich?" Sie schloss auf und signalisierte mir mit einer Handgeste mitzukommen. Die Worte hatten gesessen wie ein Schlag. Ich trat ein, legte die Feldflasche ab und schaute überall hin, nur nicht zu Belle. Die Bücher lagen wieder ordentlich in ihren Reihen. Auch das Bett war gemacht und die Erde der Pflanzen sah nass aus, bereits gegossen. Sie musste aufgeräumt haben.
Annabelle räusperte sich. „Hast du irgendwas zu eben zu sagen?"
Ich schüttelte mit dem Kopf und sah sie immer noch nicht an.
"Das artet bereits in paranoiden Neigungen aus. Und nicht zum ersten Mal."
Ich spürte ihren Blick im Nacken und machte mich immer kleiner. „Verstehe doch, sie sind hinter mir her."
„Hinter dem Stein her. Nicht dir. Versuche, wenigstens für die Premiere Ruhe zu bewahren, wenn ich schon deine dumme Diamantring-Lüge unterstütze."
Ein trauriges Lächeln zog über meine Lippen. „Ich befürchte, ich werde nicht so lange bleiben."
„Was soll das implizieren?"
„Die Lage hat sich zugespitzt. Es ist zu riskant, um nur eine Sekunde länger zu bleiben." Ich kniff die Augen zusammen und zählte die Sekunden. Eins, zwei, drei... kein Protest? Ein Schluchzen stach mir ins Ohr. Ich riss die Augen auf. Belles Unterlippe zitterte ebenso wie ihre Stimme, als sie sprach. „Du meinst es also ernst?"
„Was Ernst?"
„Die Flucht."
„Ja."
Zwei, drei Tränen strömten ihr über das Gesicht und ich bereute, davon erzählt zu haben. „Es ist kein Abschied für immer", sagte ich und nahm ihre Hände in meine.
Belle schniefte. Vier, fünf Tränen. „Warum fühlt es sich dann anders an?"
Ich öffnete den Mund, aber fand keine Antwort. Es zerquetschte mir das Herz, sie so traurig zu sehen.
„Bitte bleib", flüsterte sie und krallte ihre Nägel in meine Hand. „Wenigstens diese Nacht und diesen Tag noch."
Ich lächelte gequält. „Macht das einen Unterschied?"
„Für mich ja."
„Na gut, dann diesen Tag und diese Nacht noch." Mein Herz wurde leichter, als ich ein schmales Lächeln auf ihrem Gesicht aufflackern sah.
„Danke."
Das musste ich überstehen, aber dann könnte Annabelle so viele Tränen vergießen, wie sie wollte, ich würde nicht länger bleiben.
Belle griff etwas vom Abstelltisch und schob mir ein Kästchen zu, ungefähr so groß wie ihre Handfläche und gefertigt aus glattem Palmenholz.
„Was ist das?", fragte ich.
„Ich wollte es dir schon lange geben, aber es kam immer etwas dazwischen. Es ist dein Jahrestag-Geschenk."
„Kommt mir länger vor als erst ein Jahr." Ich fuhr mit den Fingern die abgeschliffenen Ecken des Kästchens nach. „Ich habe leider nichts für dich. Mein Geld ist-"
„Ich weiß. Öffne es." Annabelle bemühte sich einer heiteren Miene, aber die rotgeränderten Augen verrieten sie.
Der Deckel ließ sich aufschrauben und drinnen thronte ein kupferfarbenes Viereck. Wie Wurzeln erstreckten sich vergoldete Verzierungen von den Rändern bis zur Mitte, wo sie einen rosafarbenen Kristall umschlossen.
„Du hast mal erzählt, dass du den Rosenquarz deiner Heimat am liebsten mochtest, gleich nach den Rubinen. Rubine fand ich keine, aber dafür dieses Schmuckstück", sagte Belle.
Ich hob es am Lederband hoch und setzte das Amulett auf meiner Handfläche ab. Der viereckige Quarz wies einen perfekten Achtkantschliff auf. Solche feine Arbeit hatte ich zuletzt zu Hause gesehen und das eingeritzte Tallaj auf der Rückseite bestätigte diese Vermutung. Meine Mundwinkel glitten hoch. „Danke Belle. Das ist ein wundervolles Geschenk."
„Ich habe es etwas modifiziert, seit ich mir nicht sicher war, ob du wirklich gehen willst." Sie klappte das Amulett auf und eine Zeichnung fiel raus. In verschiedenfarbiger Tinte hatte jemand zwei Personen auf den Zettel gepinselt. Mit viel Fantasie erkannte ich den Jungen, weiß wie ein Geist, neben einem Mädchen mit langen Goldlocken.
„Wusstest du, dass Trix außer Runen auch Personen zeichnen kann?", sagte Annabelle, „Sie übt noch, aber ich dachte, es ist besser als nichts-"
„Es ist großartig!", fiel ich ihr ins Wort. Überwältigt von meiner Rührung umarmte ich sie stürmisch, wobei wir aufs Bett kippten. „Und du bist auch großartig. Ein wirklich extraordinäres Mädchen", fügte ich leiser hinzu, was ihr ein Lächeln aufs Gesicht zauberte.
„Und du mein extraordinärer Junge", wisperte Belle und küsste mich. Nach einem Moment der Überraschung ließ ich mich auf den Kuss ein. Meine Hand wanderte ihre Locken entlang bis über den Rücken.
„Ich würde im Moment nichts lieber tun als hierzubleiben", raunte ich in einer Atempause. Ein Aber hing in der Luft, das niemand von uns beiden aussprach. Annabelle lächelte bittersüß. „Mir geht es nicht anders."
Eine Weile lagen wir stillschweigend nebeneinander da, tauschten Küsse aus, bis Annabelle sich erhob. „Die Premiere", sagte sie auf meinen fragenden Blick hin und half mir hoch.
„Oh, richtig. Die Premiere." Ich spürte das Blut in meine Wangen schießen. Das hätte ich fast vergessen. „Kannst du mir bei etwas helfen?"
„Schon wieder?"
„Das wird das letzte Mal sein. Die Sache ist die, ich habe nur diesen Anzug zum Auftritt."
Annabelle schaute an mir runter bis zu den Knien, dann hoch und unsere Blicke begegneten. Sie schien weniger beunruhigt als erwartet. „Und? Das ist ein guter Ersatz."
„Es ist schwarz."
„Du hast die Solo-Rolle. Es wird nach Absicht aussehen, dass du raus stichst. Ich rede mit Paps, dass er es nicht so genau nehmen soll. Apropos Helfen, was hat es eigentlich mit diesem Familienerbstück, von dem ich wissen sollte auf sich?"
Meine Wangen wurden noch heißer. „Mir fiel in dem Moment nichts Besseres ein ... Bist du sauer?"
„Nicht mehr. „Sie hielt mir die Hand hin. „Bereit für den Auftritt deines Lebens?"
Ich hing mir das Amulett um und nahm Belles Hand. „Bereit."
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